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Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 26

Frühjahr 2008

Der Kommunismus und die Frauen des Ostens

Aus den Archiven des Marxismus

(Frauen und Revolution Seiten )

Im Folgenden drucken wir eine Rede Leo Trotzkis — gemeinsam mit W.I. Lenin Führer der bolschewistischen Revolution von 1917 —, die er im April 1924 zur Feier des dritten Jahrestags der Gründung der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens in Moskau hielt. Die Massen Asiens sahen in der ersten proletarischen Revolution der Welt ein Leuchtfeuer für ihre eigenen Kämpfe gegen imperialistische Unterjochung und allseitige Unterdrückung. Die Ausweitung der bolschewistischen Macht nach Zentralasien — das zuvor unter der Herrschaft des Zarenreichs und örtlicher islamischer Despoten gestanden hatte — verhieß dieser rückständigen Region eine gewaltige gesellschaftliche Umwälzung, nicht zuletzt die Befreiung der unter dem Schleier gehaltenen und wie Sklaven in die Ehe verkauften Frauen aus einem Leben äußerster Erniedrigung.

Selbst in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, in denen Frauen ein gewisses Maß an formaler Gleichheit erreicht haben, kann die Frauenunterdrückung nicht per Gesetz abgeschafft werden. Die Frauenunterdrückung liegt in der Klassengesellschaft als solcher begründet und kann erst durch die Vernichtung des Privateigentums an den Produktionsmitteln von Grund auf beseitigt werden. Die Familie, Hauptquelle der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft, kann nicht abgeschafft werden; sie muss durch Vergesellschaftung der Kinderbetreuung und der Hausarbeit ersetzt werden. Der materielle Überfluss, der notwendig ist, um die Klassengesellschaft von Grund auf zu beseitigen und die Frauen und Jugendlichen aus den lähmenden Beschränkungen der Institution Familie zu befreien, kann nur vom höchsten technologischen und wissenschaftlichen Niveau auf Grundlage einer international geplanten sozialistischen Wirtschaft ausgehen. Um das revolutionäre Potenzial des Kampfes für die Emanzipation der Frauen zu entfesseln, bedarf es der Führung einer proletarischen Avantgardepartei, bewaffnet mit einer umfassenden neuen Vision einer von Gleichheit und Freiheit geprägten Gesellschaftsordnung.

In Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung ist dieser Kampf eine besonders machtvolle Antriebskraft für die soziale Revolution. In solchen Gesellschaften ist die starke Unterdrückung der Frauen tief in vorkapitalistischer „Tradition“ und religiösem Obskurantismus verwurzelt, einer Situation, die durch imperialistische Unterjochung weiter verschärft wird. In Gebieten wie Zentralasien, wo es kein nennenswertes Proletariat gab, gingen die Bolschewiki davon aus, dass Frauen eine unterstützende Rolle als „Ersatzproletariat“ spielen konnten im Kampf des Arbeiterstaates, die feudalen Ketten zu zerbrechen und die Umformung der primitiven Gesellschaftsordnung anzupacken, deren Realisierung aber erst durch eine groß angelegte Industrialisierung erreicht werden konnte. Die Bolschewiki kämpften für die internationale Ausweitung der proletarischen Revolution, besonders auf die wirtschaftlich fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Europas.

Zwar konnten die Bolschewiki repressive muslimische Institutionen nicht mit einem Schlag abschaffen, sie nahmen jedoch eine systematische Arbeit unter muslimischen Frauen in Angriff. Entschlossene und mutige Mitglieder des Schenotdel (Abteilung für Arbeit unter Arbeiterinnen und Bäuerinnen) zogen den Schleier über, um muslimische Frauen treffen zu können und ihnen die Gesetze und Ziele der neuen Sowjetrepublik zu erklären. Diese Arbeit erwuchs aus der Politik, besondere Parteiabteilungen für die Arbeit unter Frauen zu bilden in der Hoffnung, sie zur Sache des Sozialismus zu gewinnen.

Zur Zeit von Trotzkis Rede hatte eine konservative Bürokratenkaste unter Führung Stalins bereits damit begonnen, ihre Kontrolle über die bolschewistische Partei und die Kommunistische Internationale (KI) zu festigen. Ende 1924 nahm dies dann programmatische Form an, als die stalinistische Bürokratie das antimarxistische Dogma vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ verkündete. Durch ihr fruchtloses Streben nach einer Verständigung mit dem Imperialismus und ihre Gegnerschaft zur internationalen Revolution untergrub die Bürokratie die Errungenschaften der Revolution und öffnete schließlich der kapitalistischen Konterrevolution die Tore. Die endgültige Zerstörung der Oktoberrevolution 1991/92 löste in der gesamten ehemaligen Sowjetunion ungeheuerliche Armut und Verzweiflung aus. Die zentralasiatischen Republiken wurden in ihre frühere erbärmliche Vergangenheit zurückgezerrt, dort und in anderen vorwiegend muslimischen Gesellschaften wurde der islamische Fundamentalismus wieder angefacht und in den imperialistischen Ländern die politische und religiöse Reaktion.

Die Oktoberrevolution bestätigte Trotzkis Theorie der permanenten Revolution für Russland: Erst die auf die Bauernmassen gestützte Diktatur des Proletariats, das gleichzeitig um die Ausweitung der proletarischen Herrschaft auf die imperialistischen Zentren kämpft, war dazu fähig, die historischen Aufgaben der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts — z. B. Agrarrevolution, politische Demokratie — zu verwirklichen. Im Jahre 1924 hatte Trotzki dieses Konzept noch nicht über das Zarenreich — eine wirtschaftlich rückständige imperialistische Macht — hinaus auf wirtschaftlich noch rückständigere koloniale und halbkoloniale Länder verallgemeinert, wo sich erst während und nach dem Ersten Weltkrieg ein Proletariat herauszubilden begann. So warnte er in seiner Rede die gerade entstehenden Kommunistischen Parteien des Ostens davor, Transmissionsriemen für den bürgerlichen Nationalismus zu werden; gleichzeitig sprach er aber auch von einer fortschrittlichen Rolle einiger bürgerlich-nationalistischer Parteien wie der chinesischen Guomindang (Kuomintang).

Aber Trotzki war gegen den Eintritt der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) in die Guomindang, also dagegen, das revolutionäre Proletariat einer bürgerlichen Formation unterzuordnen, als 1923 die Frage im Politbüro der russischen Kommunistischen Partei behandelt wurde. Als die KI unter der Führung Stalins und Sinowjews später die KPCh anwies, sich völlig in die Guomindang zu liquidieren, kämpfte Trotzki auch dagegen. Die Liquidierung der KPCh bahnte der verheerenden Niederlage der Chinesischen Revolution von 1925–27 den Weg (siehe: „Die Ursprünge des chinesischen Trotzkismus“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 19, Winter 1997/98). Trotzki zog die Lehren aus dieser Niederlage, indem er seine Theorie der permanenten Revolution auf andere rückständige Länder ausweitete; diese Position war dem menschewistischen/stalinistischen Konzept einer „Revolution in zwei Etappen“, welches das Proletariat in der „demokratischen Etappe“ der Bourgeoisie unterordnete, direkt entgegengesetzt. Und er erklärte kategorisch, dass Kommunistische Parteien niemals in bürgerliche oder kleinbürgerliche Parteien eintreten dürfen. Trotzkis eigenes Überdenken dieser Frage unterstreicht die Notwendigkeit, die Geschichte der marxistischen Bewegung kritisch zu untersuchen.

Folgende deutsche Übersetzung erschien zuerst unter dem Titel „Revolutionäre Bewegung im Osten — Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten“ in Internationale Pressekorrespondenz Nr. 59, 27. Mai 1924. Eine leicht redigierte modernere Fassung erschien 1981 (Leo Trotzki, Denkzettel — Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Suhrkamp Verlag). Wir verwenden hauptsächlich diese Version wegen ihrer besseren Lesbarkeit. Wir haben sie sowohl mit der Übersetzung von 1924 als auch mit der im englischen Spartacist veröffentlichten Übersetzung aus dem russischen Original verglichen. Diese Einleitung ist übersetzt aus Spartacist, englische Ausgabe Nr. 60, Herbst 2007.

* * *

Vom Büro eurer Zelle, Genossen, habe ich Materialien erhalten, die die Arbeit eurer Universität im Verlauf der ersten drei Jahre kennzeichnen, wobei auf meine Bitte hin die Genossen mit Rotstift alles Wesentliche unterstrichen und mir dadurch das Bekanntwerden mit den Materialien beträchtlich erleichtert haben; denn — ich weiß nicht, soll ich sagen zu meiner Schande oder zu meinem Schmerz — ich hatte nicht die Möglichkeit, aufmerksam Tag für Tag, Monat für Monat, die Arbeit eurer Universität zu verfolgen, die eine außerordentliche und, was ich durchaus nicht mit der bei Jubiläen üblichen Übertreibung sage, weltgeschichtliche Bedeutung hat.

Genossen, obgleich es vielleicht bei Jubiläumsversammlungen nicht vorgesehen ist, sich der Theorie hinzugeben, gestattet mir doch, einige Betrachtungen allgemeiner Natur vorzubringen, die meine Erklärung rechtfertigen sollen, dass eure Universität nicht irgendeine gewöhnliche Lehranstalt ist, wenn auch eine revolutionäre, sondern ein Hebel von weltgeschichtlicher Bedeutung...

Die ganze gegenwärtige politische und kulturelle Bewegung stützt sich auf den Kapitalismus, wächst aus ihm hervor, ist aus ihm erwachsen und über ihn hinausgewachsen. Aber der Kapitalismus hat, schematisch gesehen, zwei verschiedene Gesichter, den Kapitalismus der Mutterländer und den Kapitalismus der Kolonien. Das klassische Beispiel eines Mutterlandes ist England. Gegenwärtig ist es mit der sogenannten „Arbeiter“-Regierung MacDonald beglückt. Bei den Kolonien macht es mir Mühe, zu sagen, welche von ihnen als Kolonie die typischste ist: soll das Indien sein, das es auch im formalen Sinne ist, oder China, das den Schein der Selbstständigkeit wahrt, aber nach seiner Weltstellung und dem Gang seiner Entwicklung dem kolonialen Typus angehört? Der klassische Kapitalismus ist der englische. Marx schrieb sein „Kapital“ in England, indem er unmittelbar die Entwicklung des am weitesten entwickelten Landes beobachtete, dies wisst ihr — ich kann mich nicht erinnern, in welchem Kurs ihr das durchnehmt... In den Kolonien entwickelt sich der Kapitalismus nicht aus sich selbst heraus, sondern durch das Eindringen ausländischen Kapitals. Dies ist es, was zwei verschiedene Typen schafft. Warum ist MacDonald, wenn er in nicht sehr wissenschaftlichen, aber doch völlig deutlichen Ausdrücken spricht, so konservativ, so beschränkt, so stumpf? Weil England das klassische Land des Kapitalismus ist, weil sich dort der Kapitalismus organisch vom Handwerk durch die Manufaktur zur modernen Industrie entwickelt hat, Schritt für Schritt, auf „evolutionärem“ Wege; die Vorurteile von gestern und vorgestern und die Vorurteile des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts könnt ihr unter dem Schädel MacDonalds entdecken. (Beifall.)

Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein geschichtlicher Widerspruch: Warum ist Marx im zurückgebliebenen Deutschland aufgetaucht, im zurückgebliebensten der großen Länder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — natürlich abgesehen von Russland —, warum ist Marx in Deutschland, und warum ist Lenin an der Grenze des 19. und 20. Jahrhunderts in Russland aufgetaucht? Ein offensichtlicher Widerspruch! Aber was für einer? Einer, der durch die sogenannte Dialektik der geschichtlichen Entwicklung erklärt wird. In Gestalt der englischen Maschinen, in Gestalt des englischen Baumwollgewebes hat die Geschichte den revolutionärsten Faktor der Entwicklung geschaffen. Aber diese Maschinen und dieses Baumwollgewebe in England wurden auf dem Wege eines langandauernden und langsamen Überganges von Stufe zu Stufe geschaffen, und das menschliche Bewusstsein ist im Allgemeinen schrecklich konservativ. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung langsam und planmäßig vor sich geht, so ist es ihr schwer, die menschlichen Schädel zu durchdringen. Die Subjektivisten und überhaupt die Idealisten sagen, dass das menschliche Bewusstsein, das kritische Denken usw. usw. die Geschichte vorwärtsziehen, wie ein Schlepper eine Barke hinter sich herzieht. Das ist falsch. Wir alle sind Marxisten und wissen, dass der treibende Faktor in der Geschichte die Produktivkräfte sind, die bisher hinter dem Rücken der Menschen Gestalt angenommen haben und denen es sehr schwer ist, in den konservativen Schädel des Menschen einzudringen, um dort den Funken neuer politischer Gedanken hervorzurufen, besonders wenn die Entwicklung langsam, organisch, unmerklich vor sich geht.

Aber wenn die Produktivkräfte des Mutterlandes, des klassischen Landes des Kapitalismus, etwa Englands, in rückständigere Länder eindringen, wie dies in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fall war, bei uns an der Grenze des 19. und 20. Jahrhunderts und gegenwärtig in Asien, wenn die wirtschaftlichen Faktoren revolutionär, die alte Ordnung zerbrechend, eindringen, wenn die Entwicklung nicht allmählich, nicht „organisch“, sondern mittels schrecklicher Erschütterungen, jäher Verschiebungen der gesellschaftlichen Strukturen vor sich geht, dann findet das kritische Denken unvergleichlich leichter und schneller seinen revolutionären Ausdruck, selbstverständlich nur, wenn sich im Lande die dafür notwendigen theoretischen Voraussetzungen finden. Darum ist Marx in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufgetreten, darum Lenin bei uns, darum beobachten wir auf den ersten Blick jene paradoxe Tatsache: dass wir im Lande des höchstentwickelten, ältesten und bewährtesten europäischen Kapitalismus, in England, die konservativste „Arbeiter“-Partei haben. Und auf der anderen Seite haben in unserer Sowjetunion, in einem wirtschaftlich und kulturell äußerst rückständigen Lande — sagen wir dies ohne Scheu, denn es ist eine Tatsache —: die beste Kommunistische Partei der Welt. (Beifall.)

Man muss sagen, dass Russland gemäß seiner wirtschaftlichen Entwicklung in der Mitte steht zwischen dem klassischen Mutterland, wie es England ist, und Kolonialländern wie Indien oder China. Und das, was unsere Sowjetunion von England in Bezug auf die Wege und Formen der Entwicklung unterscheidet, zeigt sich noch krasser bei der Entwicklung der Länder des Ostens. Dort dringt der Kapitalismus in Gestalt des ausländischen Finanzkapitals ein. Er wirft dorthin fertige Maschinen, erschüttert und untergräbt die alte wirtschaftliche Grundlage und errichtet auf deren Trümmern die babylonischen Türme der kapitalistischen Wirtschaft. Die Tätigkeit des Kapitalismus in den Ländern des Ostens ist nicht eine allmähliche und langsame, nicht eine „evolutionäre“, sondern eine jähe, katastrophale, in vielen Fällen viel katastrophalere als bei uns, im früheren Zarenrussland.

Von diesem grundlegenden Gesichtspunkt aus, Genossen, muss das Geschick des Ostens in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verfolgt werden. Wenn ihr solche prosaischen Bücher nehmt wie die Rechenschaftsberichte der englischen und amerikanischen Banken für die Jahre 1921, 1922 und 1923, so werdet ihr in den Zahlen der Bankbilanzen von London und New York das morgige revolutionäre Schicksal des Ostens lesen. England tritt von Neuem in seiner Rolle als Wucherer der ganzen Welt auf. Die Vereinigten Staaten haben eine unglaubliche Menge Goldes angehäuft: In den Kellern der Zentralbank wird Gold im Wert von 3 Milliarden Dollars aufbewahrt, das sind 6 Milliarden Goldrubel. Darin ersäuft die Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Wenn ihr fragt: Wem geben England und die Vereinigten Staaten Anleihen?, so ist zu sagen: Uns, der Sowjetunion geben sie, wie ihr wahrscheinlich gehört habt, noch nichts, Deutschland geben sie nichts, Frankreich gaben sie kärgliche Brocken zur Rettung des Franc; wem also geben sie? Sie geben in der Hauptsache den Kolonialländern; sie finanzieren die industrielle Entwicklung Asiens, Südamerikas, Südafrikas. Ich werde euch nicht Zahlen anführen — ich habe sie bei mir, aber dies würde mein Referat zu sehr hinausziehen —; es genügt zu sagen, dass bis zum letzten imperialistischen Kriege die kolonialen und halbkolonialen Länder von den Vereinigten Staaten und England wahrscheinlich zweimal weniger Kredite als die Länder des entwickelten Kapitalismus erhielten; jetzt aber übersteigen die finanziellen Anlagen in den Kolonialländern schon sehr beträchtlich die Anlagen in den alten kapitalistischen Ländern.

Warum dies? Es gibt der Gründe viele, aber zwei Hauptgründe sind: Misstrauen zum alten Europa, das zerrissen und entkräftet ist, mit seinem rasenden französischen Militarismus in der Mitte, der mit immer neuen Erschütterungen droht. Andererseits benötigt man die Kolonialländer als Rohstofflieferanten und Verbraucher von Maschinen und Fabrikaten Englands und der Vereinigten Staaten. Wir haben während des Krieges beobachtet und beobachten auch jetzt eine rasend schnelle Industrialisierung der kolonialen, der halbkolonialen, überhaupt der spät entwickelten Länder: Japans, Indiens, Südamerikas, Südafrikas. Es besteht kein Zweifel daran, dass, wenn es der chinesischen Kuomintang-Partei gelingt, China unter einem national-demokratischen Regime zu vereinigen, dass dann die kapitalistische Entwicklung Chinas mit Siebenmeilenschritten vor sich gehen wird. Aber dies alles bereitet die Mobilisierung ungezählter proletarischer Massen vor, die sofort dem vorgeschichtlichen, halbbarbarischen Zustand entrissen und in das Getriebe der Fabrikindustrie geschleudert werden. Es wird daher keine Zeit für die Aufbewahrung und Anhäufung des Kehrichts der Jahrhunderte im Bewusstsein der Werktätigen bleiben; nein, in ihrem Bewusstsein wird gewissermaßen eine Guillotine wirken, die das Vergangene vom Künftigen abtrennen und sie zwingen wird, neue Gedanken, neue Formen, neue Wege des Lebens und des Kampfes zu suchen. Und hier müssen sie in einigen Ländern überhaupt zum ersten Male auf den Schauplatz treten, in anderen sich kühn entfalten: die marxistisch-leninistischen Parteien des Ostens, die japanischen Kommunisten, die chinesischen Kommunisten, die türkischen, indischen usw.

Genossen, Werktätige der Länder des Ostens! Im Jahre 1883 wurde in der Schweiz die russische Gruppe „Befreiung der Arbeit“ geschaffen. Ist das lange her? Von 1883 bis 1900 sind es 17 Jahre und von 1900 bis 1917 gleichfalls 17 Jahre, zusammen aber 34 Jahre, das Drittel eines Jahrhunderts, ein Lebensalter: von der Organisierung des ersten theoretisch-propagandistischen Zirkels für die Gedanken des Marxismus während der Herrschaft Alexander III. bis zur Eroberung Zarenrusslands durch das Proletariat ist alles in allem ein Drittel eines Jahrhunderts vergangen! Wer dies mit durchlebt hat, dem erscheint dies als eine große und schwere Periode. Aber unter dem Gesichtspunkt des Maßstabs der Geschichte ist dies ein noch nicht dagewesenes, rasendes, tolles Tempo. In den Ländern des Ostens aber wird das Tempo der Entwicklung nach allem, was vorliegt, ein noch schnelleres sein. Was ist denn eure kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens im Lichte der vorgezeichneten Perspektive, was ist sie? Sie ist die Pflanzstätte der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ für die Länder des Ostens. (Stürmischer Beifall.)

Es ist wahr — und man soll davor nicht die Augen verschließen —, dass die vor den jungen Marxisten des Ostens liegenden Gefahren groß sind. Wir wissen und ihr wisst, dass sich die bolschewistische Partei in schweren äußeren und inneren Kämpfen herausgebildet hat. Ihr wisst, dass der kastrierte und verfälschte Marxismus bei uns in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schule allgemeiner politischer Belehrung für die bürgerliche Intelligenz, der Anhänger von Peter Struve usw. gewesen ist, die dann politische Kommis der Bourgeoisie, Kadetten geworden sind und von denen viele nachher zu den Oktobristen und noch weiter nach rechts gegangen sind. Das wirtschaftlich rückständige Russland war auch im politischen Sinne ein nicht differenziertes, ein noch nicht herausgebildetes Land; der Marxismus sprach von der Notwendigkeit des Kapitalismus, und jene bürgerlich-fortschrittlichen Elemente, die den Kapitalismus nicht um des Sozialismus willen wollten, sondern um des Kapitalismus willen, nahmen den „Marxismus“ an, wobei sie ihm den revolutionären Stachel nahmen.

Das Gleiche geschah auch in Rumänien. Die Mehrheit der heute regierenden Schergen Rumäniens ist seinerzeit durch die Schule des verfälschten Marxismus gegangen; der eine oder andere von ihnen hat sich in Frankreich dem Guesdismus angeschlossen. In Serbien hat eine ganze Reihe der jetzigen konservativen und reaktionären Politiker in ihrer Jugend die Schule des Marxismus oder des Bakunismus durchgemacht. In Bulgarien hat sich dies weniger bemerkbar gemacht. Aber im Allgemeinen kennzeichnet diese zeitweise Ausbeutung des Marxismus für Zwecke der bürgerlich-fortschrittlichen Politik die Länder des balkanischen Südostens wie auch unser eigenes Land.

Droht eine derartige Gefahr auch dem Marxismus des Ostens? Teilweise ja. Warum? Weil die nationale Bewegung im Osten ein fortschrittlicher Faktor der Geschichte ist. Der Kampf um die Unabhängigkeit Indiens ist eine grundlegend fortschrittliche Bewegung; aber wir alle wissen zugleich, dass dieser Kampf sich auf national-bürgerliche Aufgaben beschränkt. Der Kampf um die Befreiung Chinas, die Ideologie von Sun Yat-sen ist ein demokratischer Kampf, eine fortschrittliche, aber bürgerliche Ideologie. Wir treten dafür ein, dass die Kommunisten die Kuomintang in China unterstützen und sie vorwärtstreiben. Das ist notwendig, aber darin liegt auch die Gefahr einer national-demokratischen Entartung. Das Gleiche gilt auch in allen Ländern des Ostens, in denen der nationale Kampf um die Befreiung von Kolonialsklaverei stattfindet. Auf diese fortschrittliche Bewegung muss sich das junge Proletariat des Ostens stützen; es ist aber völlig klar, dass in der nächsten Periode für die jungen Marxisten des Ostens die Gefahr besteht, aus den „Gruppen zur Befreiung der Arbeit“ losgerissen zu werden und der nationalen Ideologie zu erliegen.

Worin jedoch besteht euer Vorzug? Gegenüber den alten Generationen der russischen, rumänischen und anderen Marxisten habt ihr aber den Vorteil, dass ihr nicht nur in der nachmarxschen, sondern auch in der nachleninschen Epoche lebt, leben und arbeiten werdet. Euer Vorteil besteht darin, dass ihr unmittelbar einer Periode entwachst, die in die Geschichte eingehen wird als die Epoche Lenins. Ich habe in eurer Zeitung, die mir das Büro eurer Zelle so liebenswürdig mit Anmerkungen geschickt hat, über Marx und Lenin gelesen. Ihr polemisiert untereinander sehr streng; dies sage ich euch übrigens nicht als Vorwurf. Dort wurde die Frage so gestellt, als ob, nach Meinung der einen, Marx bloß ein Theoretiker gewesen wäre; so stellte jedenfalls die Gegenseite diese Position dar — und antwortete: nein, Marx war revolutionärer Politiker wie Lenin, und bei Marx wie bei Lenin gingen Theorie und Praxis Hand in Hand.

In dieser allgemeinen abgeleiteten Formulierung ist das unbedingt wahr und unbestreitbar; aber es besteht doch ein Unterschied zwischen diesen beiden geschichtlichen Figuren, ein tief gehender Unterschied, der nicht nur aus der Verschiedenheit der Individualitäten, sondern aus der Verschiedenheit der Epochen hervorgeht. Der Marxismus ist selbstverständlich keine akademische Lehre, sondern ein Hebel revolutionärer Praxis. Marx hat doch nicht umsonst gesagt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ Gab es aber zu Lebzeiten von Marx, in der Epoche der I. Internationale, und nachher in der Zeit der II. Internationale die Möglichkeit, den Marxismus durch die Arbeiterbewegung gänzlich und bis zum Ende auszuwerten? Hat damals der Marxismus eine echte Verkörperung in der Aktion erfahren? Nein, er hat dies nicht erfahren. Hatte Marx die Möglichkeit und das Glück, seine revolutionäre Theorie in einer entscheidenden geschichtlichen Aktion, der Eroberung der Macht durch das Proletariat, zu erproben? Nein, er hatte dies nicht.

Seine Lehre hat Marx natürlich nicht rein akademisch geschaffen; sie ist ein Produkt der Revolution und der Einschätzung und Kritik des Zusammenbruchs der bürgerlichen Demokratie; er hat sein „Manifest“ im Jahre 1847 geschrieben, er hat auf dem linken Flügel der Demokratie die Revolution von 1848 mit durchgeführt, wobei er alle ihre Ereignisse „marxistisch“ einschätzte; er schrieb in London sein „Kapital“; er war gleichzeitig der Schöpfer der I. Internationale, der Anreger der Politik der vorgeschrittenen Gruppen der Arbeiterklasse aller Länder; aber er stand nicht an der Spitze einer Partei, die die Geschicke der Welt oder zumindest eines Landes entschieden hätte. Wenn wir kurz auf die Frage antworten wollen: Was ist Marx?, so sagen wir: „Marx ist der Autor des ,Kapital‘.“ Und wenn wir uns fragen, was ist Lenin, so werden wir sagen: „Lenin ist der Autor des Oktoberumsturzes“. (Beifall.)

Lenin hat mehr, als dies irgendein anderer tat, betont, dass er die Lehre von Marx nicht zu revidieren, umzuarbeiten, abzuändern gedenke; Lenin kam, um mit den alten Worten des Evangeliums zu sprechen, nicht, um Marx’ Gesetz zu ändern, sondern um es zu erfüllen. Er hat dies mehr betont als irgendein anderer, gleichzeitig aber hatte er Marx aus den Überkrustungen jener Generationen zu befreien, die zwischen Marx und Lenin standen; aus den Verkrustungen des Kautskyanismus, des MacDonaldismus, des Konservatismus der Arbeiteraristokratie, der reformistischen und nationalistischen Bürokratie, und das Rüstzeug des echten Marxismus, gereinigt von den Verkrustungen, Beimischungen und Fälschungen, in der größten geschichtlichen Aktion anzuwenden.

Und nun besteht euer, der jungen Generation, größter Vorteil darin, dass ihr an dieser Arbeit unmittelbar oder mittelbar teilgenommen habt, dass ihr sie beobachtet habt, dass ihr im politisch-theoretischen Milieu des Leninismus lebt, dass ihr diese mit der Praxis zusammenfallende Theorie in der Universität der Werktätigen des Ostens in euch aufnehmt. Dies ist euer ungeheurer und unschätzbarer Vorteil, und ihr müsst das verstehen. Konnte Marx selbst theoretisch den Entwicklungsgang von Jahrzehnten und Jahrhunderten überblicken, so hat sich seine Lehre nachher im Tageskampf in einzelne Elemente aufgelöst, die teilweise auch entstellt aufgenommen wurden. Lenin kam, setzte den Marxismus unter den neuen Verhältnissen wieder zusammen und demonstrierte diese Lehre in einer Aktion von riesengroßem geschichtlichen Maßstab. Ihr habt diese Aktion gesehen, ihr habt euch ihr angeschlossen, das verpflichtet, und auf dieser Verpflichtung bauen wir die Universität der Werktätigen des Ostens auf.

Darum, Genossen, glaube ich, dass die Gefahr einer national-demokratischen Entartung — die natürlich besteht und den einen oder anderen erfassen und entführen wird, anders kann es ja auch nicht sein —, dass diese Gefahr durch die Tatsache des Bestehens der Sowjetunion und der Dritten Internationale außerordentlich verringert wird. Es gibt Grund, zu hoffen, dass der Kern, der aus der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens hervorgehen wird, den ihm zukommenden Platz einnehmen wird als die treibende Kraft des Klassenbewusstseins, des Marxismus, des Leninismus in der Bewegung des Proletariats der Länder des Ostens. Die Nachfrage nach euch, Genossen, wird ungeheuer werden, sie wird, wie ich schon sagte, nicht allmählich, sondern auf einmal zutage treten, sozusagen „katastrophisch“.

Lest einen der letzten Artikel Lenins: „Lieber weniger, aber besser“. Er ist scheinbar einer besonderen Organisationsfrage gewidmet, erfasst aber zugleich die Aussichten der Entwicklung der Länder des Ostens im Zusammenhang mit der Entwicklung Europas. Was ist der Hauptgedanke des Artikels? Der Hauptgedanke ist der, dass die Entwicklung der Revolution im Westen aufgehalten werden kann. Wodurch kann sie aufgehalten werden? Durch die MacDonald-Gruppe, denn die konservativste Kraft in Europa ist die MacDonald-Gruppe. Wir sehen, wie die Türkei das Kalifat abschafft, MacDonald es aber wieder herstellt. Ist dies nicht etwa ein schlagendes Beispiel, das tatsächlich den konterrevolutionären Menschewismus des Westens dem fortschrittlichen national-bürgerlichen Demokratismus des Ostens schroff gegenüberstellt? In Afghanistan spielen sich jetzt wahrhaft dramatische Ereignisse ab: Das England MacDonalds bringt den linken national-bürgerlichen Flügel, der das unabhängige Afghanistan europäisch gestalten will, zum Sturz und bemüht sich, dort die dunkelsten und reaktionärsten Elemente wieder zur Macht zu bringen, die von den ärgsten Vorurteilen des Panislamismus, des Kalifats usw. durchdrungen sind, und dergleichen. Nehmt diese beiden Kräfte bei ihrem lebhaften Zusammenstoße, und es wird sofort klar, warum der Osten sich immer mehr zu uns, zur Sowjetunion und zur Dritten Internationale, hingezogen fühlen wird.

Wir sehen, wie Europa, das durch seine frühere Entwicklung den ungeheuerlichen Konservativismus der Oberschichten der Arbeiterklasse gesichert hat, immer mehr dem wirtschaftlichen Zerfall und der Zersetzung verfällt. Es hat keinen Ausweg mehr. Und dies kommt zum Teil darin zum Ausdruck, dass Amerika ihm keine Anleihe gewährt, da es mit Recht seiner wirtschaftlichen Lebensfähigkeit nicht traut. Andererseits sehen wir, wie dieses selbe Amerika, dieses selbe England genötigt sind, die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonialländer zu finanzieren, wobei sie sie in rasendem Tempo auf den Weg der Revolution treiben. Und wenn Europa in seinem jetzigen Verwesungszustande durch diesen stumpfsinnigen engstirnigen MacDonaldismus der aristokratischen, privilegierten Oberschicht der Arbeiterklasse festgehalten wird, so wird das Zentrum der revolutionären Bewegung völlig auf den Osten übergehen. Und dann wird sich erweisen, dass, wenn eine Reihe von Jahrzehnten für die kapitalistische Entwicklung Englands nötig war, um mit Hilfe dieses revolutionären Faktors unserem alten Russland und dem alten Osten auf die Beine zu helfen, es nachher der Revolution des Ostens zufallen wird, nach England zurückzukehren und einige Dickschädel zu zerschlagen, wenn dies nötig ist, und der Revolution des europäischen Proletariats einen Stoß vorwärts zu geben. (Beifall.) So sieht eine der geschichtlichen Möglichkeiten aus. Man muss sie vor seinem geistigen Auge haben.

Ich las in den mir zugeschickten Materialien darüber, welchen ungeheuren Eindruck eine Hörerin eurer Universität, eine Türkin, in Kasan hervorrief, wo sich um sie herum Frauen versammelten, darunter auch alte und des Lesens und Schreibens unkundige. Es ist eine kleine Episode, aber sie ist bezeichnend und hat doch eine tiefe geschichtliche Bedeutung. Der Sinn, die Stärke und das Wesen des Bolschewismus bestehen darin, dass er sich nicht an die Oberschichten der Arbeiterklasse wendet, sondern an ihre breitesten Massen, an die unteren Schichten, an die Millionen, an die Unterdrücktesten der Unterdrückten. Darum ist er nicht durch seinen theoretischen Gehalt, der noch lange nicht angeeignet und durchdacht ist, sondern schon durch seinen befreienden Windhauch zur bevorzugten Lehre der Länder des Ostens geworden. Wir lesen in eurer Zeitung immer neue Bestätigungen dessen, dass der Name Lenins bekannt ist nicht nur in den Schluchten des Kaukasus, sondern auch in den Tiefen Indiens. Wir wissen, dass in China Werktätige, die wahrscheinlich in ihrem Leben keinen einzigen Artikel Lenins gelesen haben, sich leidenschaftlich dem Bolschewismus anschließen, denn wie mächtig ist der Windhauch der Geschichte! Sie haben erfasst, dass dies die Lehre ist, die sich an die Parias, an die Unterdrückten, an die Unterjochten, an die Millionen, an die Hunderte von Millionen wendet, für die es keinen anderen Ausweg, für die es keine andere Rettung gibt.

Und wenn der Leninismus leidenschaftlichen Widerhall in den Herzen der werktätigen Frauen findet, so darum, weil es keine Gesellschaftsschicht auf der Welt gibt, die mehr unterdrückt ist als die werktätigen Frauen! Als ich las, wie die Hörerin eurer Universität in Kasan auftrat und wie sich um sie herum des Lesens und Schreibens unkundige Tatarenfrauen und -mädchen versammelten, erinnerte mich dies an meinen kürzlichen Aufenthalt in Baku, wo ich zum ersten Mal eine türkische Kommunistin sah und hörte, wo ich im Saale mehrere Dutzend, vielleicht hundert türkischer Kommunistinnen erblickte, ihre Begeisterung sah und hörte, diese Leidenschaft der versklavtesten aller Sklavinnen von gestern, die das neue Wort der Befreiung hörten und zu neuem Leben erwacht waren, und wo mir zum ersten Mal klar wurde und ich mir sagte, dass in der Bewegung der Völker des Ostens die Frau eine größere Rolle spielen wird als in Europa und bei uns. (Beifall.) Warum? Ja, eben deshalb, weil die Frau des Ostens noch unvergleichlich mehr als der Mann geknechtet, unterdrückt, von Vorurteilen geplagt ist und die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse und die neue geschichtliche Bewegung sie mit noch größerer Kraft, mit noch größerer Schroffheit aus den alten, bewegungslosen Verhältnissen herausreißen werden als den Mann.

Wir sehen auch jetzt noch im Osten die Herrschaft des Islam, der alten Vorurteile, Glaubenslehren, Gewohnheiten, aber dies alles verwandelt sich immer mehr in Schutt und Staub. Wie ein vermodertes Gewebe, aus der Entfernung gesehen, vollständig zu sein scheint, das ganze Muster zu sehen ist, die Struktur erhalten ist, aber eine Handbewegung, ein frischer Windhauch genügt, um das ganze Gewebe in Staub zerfallen zu lassen, so sind im Osten die alten Glaubenslehren, die so tief verwurzelt zu sein scheinen, nur noch ein Schatten der Vergangenheit; man hat in der Türkei das Kalifat abgeschafft, und kein einziges Haar ist denen gekrümmt worden, die den Anschlag auf das Kalifat verübt haben; dies bedeutet, dass die alten Glaubensformen des Ostens verfault sind und dass bei der nächsten geschichtlichen Bewegung der revolutionären werktätigen Massen die alten Glaubensformen kein ernstes Hindernis mehr darbieten werden. Das bedeutet aber zugleich, dass die in der Lebensführung, in den Sitten und Gebräuchen, in der Arbeit am meisten festgekettete orientalische Frau, die versklavteste der Sklavinnen, wenn sie — gemäß den Forderungen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse — den Schleier abgelegt haben wird, sich sofort einer gewissen geistigen Stütze beraubt fühlen wird, leidenschaftlichen Durst nach neuen Gedanken, nach einem neuen Bewusstsein haben wird, die es ihr erlauben, ihre neue Lage in der Gesellschaft geistig zu artikulieren. Und es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinen besseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedanken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau. (Beifall.)

Genossen, darum hat eure Universität weltgeschichtliche Bedeutung. Unter Ausnützung der ideologischen und politischen Erfahrung des Westens bereitet sie den größten revolutionären Sauerteig für den Osten vor. Eure Stunde wird bald schlagen. Das Finanzkapital Englands und Amerikas zerstört die wirtschaftlichen Grundlagen des Ostens, wirft Schicht um Schicht um, vernichtet das Alte und schafft das Bedürfnis nach Neuem. Ihr seid Sämänner mit dem Samen der Gedanken des Kommunismus, und die revolutionäre Produktivität eurer Arbeit wird unermesslich höher sein als die produktiven Arbeiten der alten marxistischen Generation Europas.

Aber, Genossen, ich möchte nicht, dass aus dem von mir Gesagten Schlüsse im Geist irgendeines östlichen Hochmuts gezogen werden. (Heiterkeit.) Ich sehe, dass mich niemand von euch so aufgefasst hat... Denn wenn irgend jemand von derartigem messianischen Hochmut und Verachtung des Westens erfüllt wäre, so wäre dies schon der kürzeste und schnellste Weg zum Aufgehen in der national-demokratischen Ideologie. Nein, die kommunistischen Revolutionäre des Ostens in eurer Universität müssen lernen, die Weltbewegung im Ganzen zu betrachten, indem sie die Kräfte des Ostens und des Westens unter dem Gesichtswinkel des einheitlichen großen Zieles vergleichen und verbinden. Man muss es verstehen, den Aufstand der indischen Bauern, den Streik der Lastträger in den Häfen Indiens, die politische Propaganda der bürgerlichen Demokraten der Kuomintang-Partei, den Kampf der Koreaner um Unabhängigkeit, die bürgerlich-demokratische Wiedergeburt der Türkei, die wirtschaftliche und kulturell-erzieherische Arbeit in den Sowjetrepubliken des Transkaukasus richtig einzuschätzen, man muss all dies ideologisch und praktisch mit der Arbeit und mit dem Kampf der Kommunistischen Internationale in Europa und im Besonderen in England zu verbinden wissen, wo langsam, langsamer als viele von uns es möchten, aber sicher der Maulwurf des britischen Kommunismus die konservativen Festungen MacDonalds unterminiert. (Beifall.)

Euer dreijähriges Jubiläum ist natürlich an und für sich ein sehr bescheidenes Jubiläum. Viele von euch befinden sich erst an der Schwelle des Marxismus. Aber euer Vorteil gegenüber der alten Generation, wiederhole ich, besteht darin, dass ihr das ABC des Marxismus nicht in vom Leben abgeschnittenen Emigrantenzirkeln, in den Ländern des herrschenden Kapitalismus erlernt, wie es uns bestimmt war, sondern auf einem Boden, der vom Leninismus erobert worden ist, auf einem Boden, der mit Leninismus durchtränkt ist, auf einem Boden, der von der ideologischen Atmosphäre des Leninismus umhüllt ist. Ihr erlernt den Marxismus nicht bloß aus Büchlein, sondern habt die Möglichkeit, ihn in der politischen Atmosphäre dieses Landes einzuatmen. Dies trifft nicht nur auf jene zu, die aus den zur Sowjetunion gehörenden östlichen Republiken hierher gereist sind, es trifft auch auf jene zu — und deren Bedeutung ist natürlich durchaus nicht geringer! —, die aus den unterdrückten Kolonialländern hierhergekommen sind.

Ob sich das letzte Kapitel des revolutionären Kampfes mit dem Imperialismus in einem Jahre, in zwei, drei oder fünf Jahren abspielt, wissen wir nicht; aber dafür wissen wir, dass jedes Jahr eine neue Anzahl von Absolventen der Kommunistischen Universität des Ostens bringen wird. Jedes Jahr wird eine neue Zelle von Kommunisten bringen, die das ABC des Leninismus kennen und die gesehen haben, wie dieses ABC bei der Arbeit angewendet wird. Wenn bis zu den entscheidenden Ereignissen ein Jahr vergehen wird, so werden wir einen Jahrgang haben; wenn zwei Jahre, so zwei Jahrgänge, wenn drei, so drei. Und im Augenblick der entscheidenden Ereignisse werden die Studenten der Kommunistischen Universität des Ostens sagen: „Hier sind wir. Wir haben etwas gelernt. Wir können nicht bloß die Gedanken des Leninismus in die Sprachen Chinas, Indiens, der Türkei, Koreas übersetzen; wir haben auch gelernt, die Leiden, Leidenschaften, Forderungen und Hoffnungen der werktätigen Massen des Ostens in die Sprache des Marxismus zu übersetzen.“ — „Wer hat euch dies gelehrt?“, wird man fragen. „Das hat uns die Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens gelehrt.“ Und dann wird man das sagen, was ich jetzt am Tage eures dreijährigen Jubiläums sage: „Ein dreifaches Hoch der Kommunistischen Universität des Ostens.“ (Stürmische Ovationen und Gesang der „Internationale“.)

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 25

DSp Nr. 26

Frühjahr 2008

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V. Internationale Konferenz der IKL

Die Aufrechterhaltung eines revolutionären Programms in der nachsowjetischen Periode

Auszüge aus dem Hauptdokument der V. IKL-Konferenz:

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Rezension einer Biografie von Bryan Palmer:

James P. Cannon
und die Ursprünge der revolutionären Linken in Amerika, 1890–1928

James P. Cannon in Moskau, 1922:

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Spartakist-Gruppe Polens wiedergegründet

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Diana Kartsen, 1948–2007

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Aus den Archiven des Marxismus: Rede von Leo Trotzki, 1924

Der Kommunismus und die Frauen des Ostens

(Frauen und Revolution)