|
|
Spartakist Nummer 177 |
Mai 2009 |
|
|
China
Charta 08: Programm für „demokratische“ Konterrevolution
Verteidigt den bürokratisch deformierten Arbeiterstaat China! Für proletarisch-politische Revolution!
Der nachfolgend abgedruckte Artikel ist übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 933, 27. März, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/US.
Im Dezember erschien in China ein Dokument mit dem Titel Charta 08 im Internet. Es war unterzeichnet von etwa 300 Einzelpersonen, vor allem Intellektuellen und Akademikern, und hat seither weitere 8000 Unterschriften bekommen. Eine englische Übersetzung wurde rasch im Ausland in Umlauf gebracht und dann in der New York Review of Books (15. Januar) veröffentlicht. [Die deutschen Zitate sind aus der Übersetzung des Ostasieninstituts, Fachhochschule Ludwigshafen, entnommen.] Die kapitalistischen Medien in den USA und anderswo haben die Charta 08 mit Lobpreisungen überhäuft. Ein Leitartikel in der Londoner Financial Times (7. Januar) begrüßte sie als eine eindrucksvoll geschriebene Erklärung allgemeiner Menschenrechte. Ein Leitartikel der Washington Post (30. Januar) nannte sie Chinas neue Demokratiebewegung.
Die Charta 08 ist ein explizites Programm für kapitalistische Konterrevolution im deformierten Arbeiterstaat China, gehüllt in das Mäntelchen von Demokratie. Ihre Initiatoren versuchen die vom Imperialismus unterstützten Menschenrechts-Dissidenten in Osteuropa nachzuahmen, die 1989-92 die Konterrevolutionen im ehemaligen Sowjetblock anführten. Die Charta fordert freie Wahlen als politischen Mechanismus, mit dem kapitalistisch-restaurationistische Parteien an die Regierungsmacht gelangen können. Sie fordert die Privatisierung des kollektivierten Kerns der chinesischen Wirtschaft der staatseigenen Unternehmen wie auch des Grund und Bodens. Kurz gesagt ist dies ein Programm, um die sozialen Errungenschaften der Revolution von 1949 rückgängig zu machen. Sollte es durchgesetzt werden, würde es China wieder in imperialistische Unterjochung und Ausbeutung zurückstoßen.
Was den Bürgerkrieg der späten 1940er-Jahre angeht, so schlägt sich die Charta 08 im Nachhinein auf die Seite der von den Imperialisten unterstützten Guomindang (Nationalpartei) Chiang Kai-sheks gegen die Kommunistische Partei Chinas (KPCh): Nach der japanischen Kapitulation [1945] erfolgte zwar ein weiterer Anlauf zu einer verfassten Regierung, doch der Bürgerkrieg zwischen Kuomintang und KP stürzte China am Ende in den Abgrund des modernen Totalitarismus.
Die Chinesische Revolution von 1949 war eine fortschrittliche soziale Revolution von weltgeschichtlicher Bedeutung. Hunderte Millionen von Bauern erhoben sich und besetzten das Land, auf dem ihre Ahnen seit grauer Vorzeit ausgebeutet worden waren. Die Errichtung einer zentral geplanten, kollektivierten Wirtschaft schuf die Grundlage für enormen sozialen Fortschritt. Die Revolution ermöglichte es den Frauen, sich weit über ihre frühere erbärmliche Stellung zu erheben, die mit solchen Praktiken wie Zwangsehe und Konkubinat in der alten konfuzianischen Ordnung wurzelte. Eine von ausländischen Mächten ausgeplünderte und aufgeteilte Nation wurde geeint und von imperialistischer Unterjochung befreit.
Die Revolution war jedoch unter der Herrschaft von Mao Zedongs KPCh-Regime, einer über dem Arbeiterstaat thronenden nationalistischen Bürokratenkaste, von Anfang an deformiert. Anders als die russische Oktoberrevolution von 1917, die von einem klassenbewussten Proletariat unter der Anleitung von Lenins und Trotzkis bolschewistischem Internationalismus geführt worden war, resultierte die Chinesische Revolution aus dem bäuerlichen Guerillakrieg, den Maos stalinistisch-nationalistische Truppen führten. Nach dem Vorbild der stalinistischen Bürokratie, die in der UdSSR die Macht an sich gerissen hatte, predigten Mao und seine Nachfolger, einschließlich des derzeitigen Regimes unter Hu Jintao, die zutiefst antimarxistische Vorstellung, dass der Sozialismus eine klassenlose, egalitäre Gesellschaft auf der Grundlage materiellen Überflusses in einem einzelnen Land aufgebaut werden könne. In der Praxis bedeutet Sozialismus in einem Land Anpassung an den Weltimperialismus und Ablehnung der Perspektive einer internationalen Arbeiterrevolution, die für das Fortschreiten zum Sozialismus unabdingbar ist.
Als Trotzkisten treten wir für die bedingungslose militärische Verteidigung Chinas gegen Imperialismus und Konterrevolution ein. Als Antwort auf das Verlangen der chinesischen Arbeiter und ländlichen Werktätigen nach demokratischen Rechten und einer Regierung, die ihre Bedürfnisse und Interessen vertritt, treten wir für eine proletarisch-politische Revolution zum Sturz der nationalistischen stalinistischen Bürokratie und zur Errichtung einer Regierung gewählter Arbeiter- und Bauernräte ein, die dem revolutionären proletarischen Internationalismus verpflichtet ist. Diese Perspektive, die die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution voraussetzt, ist den konterrevolutionären Machenschaften von Gruppen wie Charta 08 völlig entgegengesetzt.
Menschenrechte und Demokratie im Dienste der Konterrevolution
Die Charta 08 hat ihren Namen von der Charta 77, einem Dokument, das 1977 von Dissidenten in der Tschechoslowakei herausgegeben wurde. Diese und ähnliche Gruppen wurden von der Menschenrechts-Kampagne ermuntert und gefördert, die der damalige demokratische US-Präsident Jimmy Carter zur politischen Unterwanderung der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Blockpartner in Gang gesetzt hatte. Es ist, wie man so schön sagt, kein Zufall, dass Vaclav Havel, eine führende Persönlichkeit der Charta 77, später in der vom Imperialismus unterstützten Konterrevolution in der Tschechoslowakei 1989/90 eine zentrale Rolle spielte.
Viel offener als Havel & Co. 1977 führt die Gruppe um Charta 08 die Schlagworte Menschenrechte und Demokratie im Mund, um gegen den revolutionären Sturz kapitalistischer Herrschaft Front zu machen. In der Charta wird erklärt: Wohin wird China im 21. Jahrhundert gehen? Wird es weiter die ,Modernisierung unter autoritärer Herrschaft verfolgen? Oder wird es sich mit den universellen Werten identifizieren, mit dem mainstream verschmelzen und ein demokratisches Regierungssystem aufbauen? Konkret wird gefordert: Aufhebung des Parteienverbots, Verfassung und Gesetze normieren das Handeln politischer Parteien, Abschaffung der Sonderrechte, die einer einzigen Partei das politische Monopol gewähren, Schaffung freier Betätigung politischer Parteien und fairen [Parteien-]Wettbewerbs, Verrechtlichung und Normalisierung der Parteienpolitik.
So etwas wie eine klassenlose Demokratie gibt es nicht. Die parlamentarische Regierung westlicher Art, die durch allgemeines Stimmrecht gewählt wird, ist eine verhüllte politische Form der Diktatur der Kapitalistenklasse. In einem solchen System ist die Arbeiterklasse politisch auf vereinzelte Individuen reduziert. Durch ihre Kontrolle über die Medien, das Erziehungssystem und andere Einrichtungen der öffentlichen Meinungsbildung kann die Bourgeoisie das Wahlvolk wirksam manipulieren. In allen kapitalistischen Demokratien werden die Regierungsvertreter von den Banken und großen Unternehmen gekauft und bezahlt. Lenin erklärte in seiner Streitschrift Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky von 1918: Auf Schritt und Tritt stoßen die geknechteten Massen auch im demokratischsten bürgerlichen Staat auf den schreienden Widerspruch zwischen der von der ,Demokratie der Kapitalisten verkündeten formalen Gleichheit und den Tausenden tatsächlicher Begrenzungen und Manipulationen, durch die die Proletarier zu Lohnsklaven gemacht werden.
Zwar mag die Forderung nach reiner Demokratie eine gewisse Rolle bei der Mobilisierung der Kräfte der Konterrevolution in China spielen, deren Sieg aber würde zu keinem stabilen bürgerlich-parlamentarischen Regime führen. Stattdessen würde China vom amerikanischen, westeuropäischen und japanischen Imperialismus als ein riesiger Ausbeutungsbetrieb geknechtet und vielleicht zerstückelt werden.
Die Volksrepublik China ist ein bürokratisch deformierter Ausdruck der Diktatur des Proletariats. Die Klassenherrschaft der Kapitalisten ist zerschlagen und die Wirtschaft kollektiviert worden, aber das Proletariat ist von der direkten politischen Macht ausgeschlossen. Notwendig ist ein Kampf für proletarische Demokratie. Die Arbeiter und ländlichen Werktätigen brauchen ihre eigenen klassenbezogenen Regierungsinstitutionen, die Sowjets (die russische Bezeichnung für Räte), die allen Parteien offen stehen, die den Arbeiterstaat verteidigen.
Charta 08 wirbt für Kapitalismus des freien Marktes
Der Aufruf der Charta 08 zu kapitalistischer Restauration ist unmissverständlich:
Etablierung des Rechts auf Privateigentum und Schutz dieses Rechts, Einrichtung eines Systems der freien und offenen Marktwirtschaft
Einrichtung eines der obersten Volksvertretung verantwortlichen Ausschusses für das Staatseigentum und die Staatsressourcen
rechtskonforme und geordnete Reform des Eigentumsrechts, Klärung der Eigentumsverhältnisse und -verantwortlichkeiten; Initiierung einer neuen Boden-Bewegung
Privatisierung des Grund und Bodens, Garantie von Boden-Eigentumsrechten der Bürger, insbesondere der Bauern.
Es liegt mehr als nur ein bisschen Ironie darin, dass diese Forderung nach Kapitalismus des freien Marktes gerade in dem Moment erhoben wird, wo die zerstörerische Irrationalität des kapitalistischen Systems die Anarchie des Marktes offensichtlicher ist als irgendwann in den letzten paar Jahrzehnten. Der Weltkapitalismus macht gerade eine sich immer mehr vertiefende Finanz- und Wirtschaftskrise durch, zentral in Nordamerika, Westeuropa und Japan. Verzweifelt in ihrem Bemühen, den Aderlass zu stoppen, verstaatlichen die Regierungen dieser Länder Banken, subventionieren Schlüsselindustrien und greifen anderweitig staatlich in die Wirtschaft ein. Gleichzeitig drängen insbesondere im Umfeld der Regierung des Demokraten Obama viele US-Politiker auf eine zunehmend protektionistische Haltung gegenüber China.
Man könnte denken, die Autoren der Charta 08 hätten ihr neoliberales Wirtschaftsprogramm für die Privatisierung von Industrie und Handel aus Leitartikeln des Wall Street Journal oder des Londoner Economist von vor zwei oder drei Jahren entnommen. Tatsächlich wurzeln ihre Ideen wohl nicht so weit entfernt von der Heimat. Trotz der Feindschaft von Charta 08 gegenüber dem KPCh-Regime haben sie in gewisser Hinsicht die Doktrin der KPCh-Führer vom Marktsozialismus zu ihrem logischen Ende geführt. Jahrzehntelang priesen die Beijinger Stalinisten Marktmechanismen und Konkurrenz als überlegen gegenüber zentraler Planung und Leitung. In dem Versuch, das Problem der stagnierenden Produktivität zu lösen, das der unter Mao vorherrschenden Kommandowirtschaft anhaftete, haben sie die Peitsche des Marktes geschwungen. Sie behaupteten, China könne zu einer Großmacht werden, indem es sich mittels ausländischer Investitionen und des Exports billiger Fertigprodukte in die USA und nach Westeuropa in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Doch nun ist diese Wirtschaftsstrategie auf spektakuläre Weise an der globalen kapitalistischen Wirtschaftskrise gescheitert.
Die beherrschende Stellung der staatseigenen Unternehmen und Banken hat China davor bewahrt, in eine solch tiefe wirtschaftliche Krise hineingezogen zu werden, wie sie die meisten kapitalistischen Länder auf verheerende Weise heimsucht. Dennoch sind wichtige Bereiche seiner Wirtschaft schwer getroffen worden. In der Provinz Guangdong, dem Zentrum von Chinas Exportindustrie, ging in den ersten beiden Monaten dieses Jahres der Warenverkehr um mehr als 50 Prozent zurück. 20 Millionen Wanderarbeiter sind bereits entlassen worden, vor allem aus Fabriken im Besitz ausländischer und auslandschinesischer Kapitalisten, die Konsumgüter für den Export produzieren.
Dies hat zu einem beschleunigten Anstieg defensiver Arbeiterkämpfe geführt, bei denen es zu Scharmützeln zwischen der Polizei und wütenden Arbeitern gekommen ist, die ausstehenden Lohn oder Abfindungen einforderten. Das KPCh-Regime antwortete darauf mit einer Mischung aus Repression, Geldzuteilungen für einige der kürzlich Entlassenen und der Rücknahme einiger seiner Privatisierungsmaßnahmen. Das wars dann wohl mit Kapitalismus war die Schlagzeile eines Artikels im Economist (5. März) über Chinas jüngste wirtschaftliche Schritte, der wehmütig anmerkte, dass die Öffnung von Chinas Wirtschaft den Rückwärtsgang eingelegt zu haben scheint.
Antikommunistische Sozialdemokraten loben Charta 08
Es war zu erwarten, dass die führenden Organe der westlichen bürgerlichen Meinung die Charta 08 preisen würden. Aber auch eine Anzahl von Gruppen, die sich als Sozialisten, ja sogar Trotzkisten, ausgeben, spenden ihr Lob. In Wirklichkeit weisen diese Gruppen den Trotzkismus zugunsten eines Programms der demokratischen kapitalistischen Konterrevolution zurück.
Ein jüngst erschienener Artikel der October-Review-Gruppe aus Hongkong, die mit dem pseudotrotzkistischen Vereinigten Sekretariat (VS) verbunden ist, unterstützt die Charta 08 ohne die geringste Kritik (The State of Human Rights in China [Die Lage der Menschenrechte in China], 31. Dezember 2008). Der Artikel begrüßt die Bestrebungen des Volkes für Demokratie und Menschenrechte und erwähnt nicht ein einziges Mal Kapitalismus, Sozialismus oder die Arbeiterklasse!
Das in Britannien beheimatete Komitee für eine Arbeiterinternationale (KAI, in Deutschland die SAV) unter der Führung von Peter Taaffe wiederum schreibt:
Dieses Manifest, das nun mehr als 7000 Unterschriften bekommen hat, fordert ein Ende der Einparteienherrschaft und grundlegende Bürgerrechte Dinge, für die auch Sozialisten kämpfen (viele Unterzeichner der ,Charta 08 sind jedoch Liberale, die ein schnelleres Tempo der kapitalistischen ,Wirtschaftsreformen befürworten). (chinaworker.info, 16. Januar)
Während das KAI die Charta 08 für ihre wirtschaftlichen Vorschläge tadelt, bezieht es sich positiv auf deren Aufruf zu Demokratie. Dies ist nichts Neues bei den Taaffe-Leuten, die in den degenerierten/deformierten Arbeiterstaaten antikommunistische Kräfte aller Art unterstützten. In den turbulenten letzten Jahren der UdSSR unterstützten sie das kapitalistisch-restaurationistische demokratische Lager um Boris Jelzin. Im August 1991 inszenierte Jelzin mit der offenen Unterstützung des damaligen US-Präsidenten George Bush Sr. einen erfolgreichen Gegenputsch gegen die Überreste der sich auflösenden Kremloligarchie. Die Taaffe-Leute schlossen sich dem reaktionären Pack auf den Barrikaden in Moskau an. In scharfem Gegensatz dazu verteilten unsere Genossen in Moskau zehntausende Exemplare eines Flugblatts mit dem dringenden Aufruf: Sowjetische Arbeiter: Zerschlagt die Konterrevolution von Jelzin und Bush! Die kapitalistische Konterrevolution brachte den Völkern der ehemaligen UdSSR und Osteuropas Massenarbeitslosigkeit, sinkende Lebenserwartung und sozialen Abstieg und ermutigte die imperialistischen Ausbeuter bei ihren Angriffen auf Werktätige und Minderheiten.
Heute wirbt das KAI für die Arbeit des Hongkonger China Labour Bulletin (CLB). Das CLB gibt sich als eine Arbeiterorganisation aus, die für unabhängige Gewerkschaften eintritt, ist aber eine konterrevolutionäre Gruppe mit direkten Verbindungen zum US-Imperialismus. Ihr Führer Han Dongfang hat seit langem eine Sendung im Radio Free Asia der CIA und ist Vize-Vorsitzender des World Movement for Democracy [Weltbewegung für Demokratie], einer Organisation, die von der berüchtigten CIA-Tarnorganisation National Endowment for Democracy [Nationale Stiftung für Demokratie] (NED) gegründet wurde und geleitet wird. Han wurde nach dem Führer der polnischen Solidarność der chinesische Lech Walesa genannt. Solidarność, die einzige Gewerkschaft, die von Reagan, Thatcher und dem Vatikan unterstützt wurde, führte in den 1980er-Jahren den Feldzug an, um kapitalistische Ausbeutung in demokratischer Verkleidung im Sowjetblock wiedereinzuführen, und das mit voller Unterstützung der Taaffe-Leute und des VS.
Wie die Forderung der Charta 08 nach freien Wahlen, so sind auch Aufrufe für freie Gewerkschaften nach dem Vorbild von Solidarność eine reaktionäre Falle für die Arbeiterklasse. Der für Chinas bedrängte Arbeiterklasse besonders wichtige Kampf für Gewerkschaften, die nicht unter bürokratischer Kontrolle stehen, muss auf der Verteidigung des Arbeiterstaates beruhen, der aus der Revolution von 1949 hervorging. Dieser Kampf, wie auch der Kampf für Versammlungsrecht und Pressefreiheit, wird sich im Rahmen des Kampfes für Sowjetdemokratie entfalten des Kampfes für die Bildung von Arbeiterräten in Opposition zu den bürokratischen Parasiten und zur Unterdrückung konterrevolutionärer Elemente.
Willige Werkzeuge des US-Imperialismus
Die Führer von Charta 08 sind nicht naiv und unbefangen; viele von ihnen haben auch unverhohlene Beziehungen zum US-Imperialismus. Liu Xiaobo, einer der Hauptorganisatoren der Charta, ist Präsident des in den USA ansässigen Independent Chinese PEN Center [Unabhängiges chinesisches PEN-Zentrum], das von der NED regelmäßige finanzielle Unterstützung erhält. Zwei andere prominente Wortführer der Charta, Li Baiguang und Teng Biao, erhielten letztes Jahr in einer Zeremonie in Washington den Democracy Award [Demokratiepreis] der NED. Bis jetzt scheint das KPCh-Regime diese pro-imperialistischen Dissidenten mit ungewöhnlich milder Repression bedacht zu haben. Man unternahm Schritte, die Charta im Internet zu blockieren, verhaftete aber nur einen Charta-Wortführer, Liu Xiaobo, und hielt andere kurz fest oder stellte sie unter Aufsicht. Dies steht in Kontrast zu der ernsthaften Repression, die Führern von Arbeiterstreiks und anderen Protesten zuteil wird.
Während wir die Politik von Charta 08 aufs schärfste ablehnen, unterstützen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Repressalien gegen ihre Initiatoren und Unterzeichner. Diese rechtsgerichteten Ideologen führen ganz offensichtlich keine Bewegung an, die die Existenz des chinesischen Arbeiterstaates bedroht, wie die polnische Solidarność schließlich im Herbst 1981. Damals schrieben wir: Daher gibt es heute in Polen die Bedrohung durch einen konterrevolutionären Griff zur Macht. Diese Bedrohung muss um jeden Preis und mit allen notwendigen Mitteln zerschlagen werden (Stoppt die Konterrevolution der Solidarność!, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 10, Winter 1981/82). Als die Stalinisten im Dezember 1981 daran gingen, Solidarność zu unterdrücken, unterstützten wir dies. Gleichzeitig klagten wir die Bürokratie wegen ihres Nationalismus, ihrer Misswirtschaft und jahrzehntelanger Kapitulation vor der katholischen Kirche und anderen pro-kapitalistischen Kräften an, wodurch sie die Arbeiter des historisch sozialistisch gesinnten polnischen Proletariats in die Arme der Reaktion trieb.
Bei Chinas Werktätigen, für die die Magie des Marktes ungezügelte Ausbeutung und zunehmende Arbeitslosigkeit bedeutet, werden die rechtsgerichteten Intellektuellen der Charta 08 mit ihren Lobpreisungen auf die freien Märkte, die rund um die Welt verheerenden Schaden anrichten, sehr wahrscheinlich keinerlei Anklang finden. Vor drei Jahrzehnten rief die Charta 77 trotz ihres Werbens für bürgerliche Demokratie nicht zur Restauration einer kapitalistischen Wirtschaft auf, weil eine solche Forderung damals die meisten tschechoslowakischen Intellektuellen abgestoßen hätte, ganz zu schweigen von den Arbeitern.
Das Programm der demokratischen Konterrevolution, das von Charta 08 und ihresgleichen verfolgt wird, muss politisch bekämpft werden und dazu ist die nationalistische KPCh-Bürokratie offenkundig nicht in der Lage. Beim Austeilen von Repressalien unterscheiden die stalinistischen Herrscher nicht zwischen Konterrevolutionären und jenen, die sich der bürokratischen Herrschaft vom Standpunkt der historischen Interessen des Proletariats aus widersetzen. Nach der Zerschlagung der kapitalistischen Klassenherrschaft 1949 wurden Hunderte chinesischer Trotzkisten, die für die Verteidigung der Revolution kämpften, zusammengetrieben und ins Gefängnis geworfen oder erschossen. Im Gefolge der Arbeiter- und Studentenunruhen von 1989, in deren Mittelpunkt der Tiananmen-Platz stand, wurden Arbeiter vom Regime hingerichtet. Wir lehnen die Institution der Todesstrafe aus Prinzip ab, in China wo jährlich Tausende hingerichtet werden genauso wie in den kapitalistischen Ländern.
Eine US-Gruppe, die als Party of Socialism and Liberation [Partei des Sozialismus und der Befreiung] (PSL) bekannt ist, bringt in ihrem Interneteintrag vom 10. Januar, The Truth Behind Chinas Charta 08 Manifesto Liberal Language Cloaks Counterrevolutionary Aims [Die Wahrheit über Chinas Charta-08-Manifest Liberale Rhetorik verhüllt konterrevolutionäre Ziele] richtige Kritik an Charta 08 an. Doch die PSL betrachtet die stalinistische Bürokratie als die Hauptbarriere für eine Konterrevolution: Die KPCh-Regierung bleibt trotz all ihrer Widersprüche das wichtigste Hindernis für die Rückführung Chinas in seinen früheren Zustand halbkolonialer Sklaverei. Die PSL kritisiert zwar die Marktreformen der KPCh-Führer, hofft aber, dass Hu Jintao & Co. erleuchtet werden und auf den sozialistischen Weg zurückkehren:
Konfrontiert mit einer verschärften imperialistischen Offensive könnte die KPCh-Führung ihren Kurs ändern und sich an die Arbeiterklasse um Hilfe wenden und sozialistische Maßnahmen wiedereinführen.
Wie unwahrscheinlich auch immer, so ist der Weg zur Erneuerung und Stärkung sozialistischer Methoden solange möglich, wie die KPCh die Staatsmacht behauptet.
Die PSL stellt den Marktreformen der KPCh den von der Kommunistischen Partei während der Mao-Ära verfolgten Weg gegenüber. Maos nationale Selbstgenügsamkeit (wirtschaftliche Autarkie) und die marktorientierte Politik späterer KPCh-Führer waren jedoch beides Mittel für die chinesischen stalinistischen Bürokraten, um zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen internationalen Bedingungen mit dem Weltimperialismus friedlich zu koexistieren. Unter Mao äußerte sich dies in Chinas grotesker Allianz mit dem US-Imperialismus gegen die Sowjetunion.
In Wirklichkeit wird die Verteidigung der proletarischen Staatsmacht in China durch die fortgesetzte Herrschaft der KPCh untergraben. Dank der Politik des Regimes ist auf dem Festland eine beträchtliche Klasse kapitalistischer Unternehmer mit Verbindungen zur auslandschinesischen Bourgeoisie in Hongkong und Taiwan entstanden, wenngleich diese bis jetzt noch daran gehindert werden, sich politisch zu organisieren und um die Macht zu konkurrieren. Viele KPCh-Funktionäre haben finanzielle und familiäre Verbindungen zu solchen Unternehmern. Entgegen den Behauptungen der PSL bewahrt die Bürokratie das Staatseigentum nicht aus einer subjektiven Identifizierung mit dem Sozialismus heraus, sondern, wie Trotzki in Verratene Revolution (1936) schrieb, nur in dem Maße, in dem sie das Proletariat fürchtet d. h. um ihre privilegierte Position als parasitäre Kaste auf dem Rücken des Arbeiterstaates zu bewahren. Früher oder später, auf die eine oder die andere politische Art und Weise, wird das stalinistische Regime China an den Rand der kapitalistischen Konterrevolution bringen, was dann unmittelbar die Frage nach dem Schicksal des bevölkerungsreichsten Landes der Erde stellt.
Es ist aufschlussreich, sich die soziale und politische Dynamik der Konterrevolution im russischen Kernland der ehemaligen UdSSR noch einmal anzusehen. Diese wurde nicht von antikommunistischen Dissidenten aus der Intellektuellenschicht, vergleichbar mit den Vertretern von Chinas Charta 08, angeführt, sondern von bedeutenden Elementen der sich auflösenden Nomenklatur, der sowjetischen bürokratischen Elite. Ein paar Jahre bevor Boris Jelzin die Macht ergriff und die Auflösung der UdSSR verkündete, war er ein ranghoher Führer im Kreml gewesen. In den führenden Gremien der KPCh gibt es heute mehr als nur ein paar potenzielle Jelzins. Gleichzeitig haben die chinesischen Stalinisten aus der Konterrevolution in der Ex-UdSSR etwas gelernt. Um solchen Entwicklungen in China vorzubeugen, haben die KPCh-Führer Maßnahmen der Perestroika (marktorientierte Reformen) durchgeführt, jedoch ohne das geringste Fünkchen von Glasnost (politische Demokratisierung).
Für proletarisch-politische Revolution!
In Verratene Revolution, seiner klassischen Analyse der sowjetischen stalinistischen Bürokratie, betonte Trotzki: In einer nationalisierten Wirtschaft setzt Qualität Demokratie für Erzeuger und Verbraucher, Kritik- und Initiativfreiheit voraus, d. h. Bedingungen, die mit einem totalitären Regime von Angst, Lüge und Kriecherei unvereinbar sind. Politik und Praxis des KPCh-Regimes schaffen ein Klima, in dem Verfechter einer demokratischen Konterrevolution Gehör finden könnten, zumindest bei einer Schicht von Intellektuellen, bei Bauern und sogar einigen Arbeitern. Gleichzeitig wird durch den zunehmenden Gegensatz zwischen der Bürokratie und Chinas werktätigen Massen aber auch der Boden für eine proletarisch-politische Revolution zum Sturz der parasitären herrschenden Stalinisten bereitet.
Das Potenzial für eine pro-sozialistische Arbeitererhebung zeigte sich im Tiananmen-Aufstand von Mai/Juni 1989. In ihrem Artikel zur Charta 08 schließt sich die PSL der Interpretation dieser Ereignisse durch die chinesischen Stalinisten an und nennt sie ein konterrevolutionäres Unterfangen, das im Westen als ,Kampf für Demokratie dargestellt wird. In Wirklichkeit begann es mit Protesten von Studenten, die sich gegen Korruption wandten und politische Liberalisierung anstrebten, dann schlossen sich Massen chinesischer Arbeiter an, die durch ihre eigene Verbitterung über die Auswirkungen der Marktmaßnahmen des Regimes, insbesondere die hohe Inflation, zum Handeln getrieben wurden.
Arbeiterversammlungen und motorisierte mobile Einsatzkommandos wurden improvisiert, ein Hinweis auf das Potenzial für die Entstehung echter Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Der Eintritt der Arbeiterklasse in den Kampf versetzte die KPCh-Herrscher in Angst und Schrecken, so dass sie schließlich heftige Repression entfesselten. Doch die Bürokratie, einschließlich des Offizierskorps des Militärs, begann unter dem Einfluss der proletarischen Erhebung zu zersplittern. Angesichts überwältigender Unterstützung der Proteste durch Beijings Werktätige verweigerten die zuerst mobilgemachten Armeeeinheiten den Befehl. Andere, regimetreuere Armeeeinheiten mussten herbeigeholt werden, um das Massaker vom Juni 1989 durchzuführen, das sich überwiegend gegen die Arbeiter und weniger gegen die Studenten richtete. Tiananmen war eine beginnende proletarisch-politische Revolution, die von der stalinistischen Bürokratie im Blut ertränkt wurde (siehe China: Tiananmen 1989 und Arbeiterkämpfe heute, Spartakist Nr. 157, Winter 2004/2005 und Nr. 158, Frühjahr 2005).
Bei den Tiananmen-Ereignissen ebenso wie heute war das entscheidende fehlende Element eine authentische bolschewistische d. h. leninistisch-trotzkistische Partei, um die arbeitenden Massen um das Banner von Arbeiterdemokratie und kommunistischem Internationalismus zu scharen. Geschmiedet wird eine solche Partei im politischen Kampf nicht nur gegen Strömungen, die aus der zerfallenden stalinistischen Bürokratie hervorgehen, sondern auch gegen antikommunistische Verfechter westlicher Demokratie, darunter auch einige, die sich zweifellos weit linker geben werden als die Charta-08-Gruppe.
Das Überleben und das Fortschreiten von Chinas revolutionären Errungenschaften hängen von dem Kampf für sozialistische Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in Japan, Nordamerika und Westeuropa ab. Das ist der einzige Weg zur umfassenden Modernisierung Chinas im Rahmen einer international geplanten Wirtschaft. Eine proletarisch-politische Revolution, die ein China von Arbeiter- und Bauernräten hervorbringt, wäre ein Leuchtfeuer für die unterdrückten werktätigen Massen Asiens und der ganzen Welt. Das würde der bürgerlichen Propaganda vom Tod des Kommunismus den Todesstoß versetzen, die geknechteten Massen der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas aufrichten und die Arbeiter in den imperialistischen Kernländern beflügeln. Dies ist letztlich die einzige Perspektive zur Bezwingung der Sirenengesänge von Demokratie, die von Feinden der Errungenschaften der Chinesischen Revolution, imperialistisch unterstützten Gruppen ebenso wie Pseudosozialisten, verbreitet werden.
|
|
|
|
|