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Spartakist Nummer 202

März 2014

Frauen und Revolution

Ägypten: Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Teil III: Der Aufstieg der religiösen Reaktion

Folgender letzter Teil der Artikelserie erschien in Workers Vanguard Nr. 1029 (6. September 2013), Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S. Die Übersetzungen von Teil eins und zwei wurden in Spartakist Nr. 200, Oktober 2013, und Nr. 201, Januar 2014, veröffentlicht.

Seit das ägyptische Militär am 3. Juli 2013 Präsident Mohammed Mursi durch einen Putsch absetzte, hat es Anhänger von Mursis Muslimbruderschaft massakriert – drastischstes Beispiel ist die Räumung zweier Protestcamps Mitte August – und einen Großteil ihrer Führung inhaftiert. Das brutale Durchgreifen im Namen des Kampfs gegen die Islamisten wurde auf streikende Arbeiter, Journalisten und liberale Aktivisten ausgeweitet. Der Kampf zwischen dem Militär und der Muslimbruderschaft – beides reaktionäre Kräfte – hat eine neue Welle der Gewalt gegen die unterdrückte Minderheit der koptischen Christen ausgelöst. Ägyptens vom Militär unterstützte Machthaber haben seit jeher die Muslimbruderschaft abwechselnd unterdrückt und dann wieder gegen Linke und Arbeiterkämpfe gehetzt.

Der Aufstieg des politischen Islam als Massenbewegung des religiösen Fundamentalismus, die sich auf die unteren Mittelklassen und die Armen stützt, war eine reaktionäre Antwort darauf, dass es zur offenkundigen Sackgasse des bürgerlichen Nationalismus in den halbkolonialen Ländern der muslimischen Welt keine kommunistische Alternative gab. Obgleich der politische Islam seine Inspiration aus dem 7. Jahrhundert zieht, entstand er aus den bedrückenden Lebensbedingungen des 20. Jahrhunderts.

Die besitzlosen Massen – verzweifelt, zerlumpt, des Lesens und Schreibens nicht mächtig, arbeitslos oder gezwungen, für einen Hungerlohn zu arbeiten –, deren durch den Kampf für nationale Befreiung geweckte Erwartungen sich zerschlagen haben, finden Trost in der Religion und der falschen Hoffnung auf Glück im Jenseits. Karl Marx bemerkte: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Weiter schrieb er:

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ („Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 1843/44)

Aber nicht nur den Trost des Aberglaubens bieten die Islamisten den Geknechteten an, sondern auch ganz materielle soziale Dienstleistungen. Finanziert von Saudi-Arabien und anderen ölreichen Scheichtümern bauten die ägyptischen Fundamentalisten rund um die mehr als 170 000 Moscheen des Landes umfangreiche Netzwerke zur Bereitstellung von Diensten auf, die der Staat nicht erbringt. Die Journalistin Mary Anne Weaver beschrieb in ihrem 1999 erschienenen Buch A Portrait of Egypt: A Journey Through the World of Militant Islam [Ein Porträt Ägyptens: Eine Reise durch die Welt des militanten Islam], wie die Muslimbruderschaft und andere Islamisten im Kairoer Armenviertel Imbaba ihr eigenes Wohlfahrtssystem aufgebaut hatten. Zum Beispiel boten Moscheen unter der Kontrolle von Dschamaa Islamija, der islamischen Hardlinergruppe, Fleisch zu Großhandelspreisen an und richteten preiswerte Kliniken, Schulen und Kinderbetreuungszentren ein sowie Möbelfabriken, wo Arbeitslose Beschäftigung fanden. Weaver bemerkte:

„Trotz eines aggressiven Ende 1994 von der Regierung aufgelegten Zehn-Millionen-Dollar-Sozialprogramms blieben die Einrichtungen der Islamisten im Allgemeinen weit effizienter und den heruntergekommenen Regierungseinrichtungen weit überlegen. Neben dem Zusammenbruch jeglicher säkularen Ideologie, die ägyptische Politiker und Intellektuelle im Laufe dieses Jahrhunderts vertraten, schürten Repression und Unfähigkeit der Regierung die Flamme des Islam weit mehr als die Gewehre und Bomben der Militanten.“

Muslimbruderschaft: Feind von Arbeitern und Frauen

Ägyptens 1928 gegründete Gesellschaft der Muslimbrüder war der Prototyp aller nachfolgenden islamischen Bewegungen in anderen Ländern. Die Schriften ihrer frühen Führer Hassan al-Banna und Sayyid Qutb wurden in alle Sprachen der muslimischen Welt übersetzt und sind noch immer die Hauptquellen für jene, die die „gottlose“ Gesellschaft stürzen und auf ihren Ruinen einen islamischen Staat errichten wollen.

Der indonesische Islamistenführer Amien Rais zollte der Muslimbruderschaft Anerkennung, indem er seine Doktorarbeit über die Bewegung schrieb. Ägyptische islamistische Lehrer, die von der algerischen Regierung in den 1970er-Jahren im Rahmen eines „Arabisierungs“programms ins Land geholt worden waren, waren maßgeblich am Aufbau einer Basis für die Islamische Heilsfront beteiligt, die dann in den 1990er-Jahren einen blutigen, aber erfolglosen Bürgerkrieg gegen das nationalistische Militärregime führen sollte. Führer der Muslimbruderschaft, die vor der Repression in Ägypten flohen, trugen zum Aufbau der fundamentalistischen Bewegung in Jordanien bei, und die palästinensische Hamas entstand als ein Ableger der Bruderschaft. Sudanesische und syrische Jugendliche, die in Ägypten studierten, machten mit der Bruderschaft Bekanntschaft und errichteten in den 1930er- und 1940er-Jahren in ihren Ländern regionale Ableger.

Die Muslimbruderschaft wurde in der Periode gegründet, nachdem die bürgerlich-nationalistische Wafd-Partei daran gescheitert war, im Aufstand von 1919 gegen die britische Herrschaft die Unabhängigkeit zu erlangen. Ihre Gründung war eine reaktionäre Antwort auf die 1923 durchgeführte Abschaffung des Kalifats, des 1300 Jahre alten Systems islamischer Herrschaft, durch Mustafa Kemal Atatürk, den nationalistischen Begründer der modernen Türkei. Ziel der Bruderschaft, ausgedrückt in ihrer Losung „der Koran ist unsere Verfassung“, war die Errichtung eines islamischen Staates nach dem Vorbild des Kalifats des 7. Jahrhunderts. Während der Weltwirtschatskrise der 1930er-Jahre, als die gebildeten Söhne des Kleinbürgertums nach ihrem Universitätsabschluss nicht mehr mit einer sicheren Regierungsanstellung rechnen konnten, begann die Organisation explosionsartig zu wachsen. Die ihrer Perspektive beraubten städtischen Jugendlichen wurden von radikalen Organisationen angezogen – viele von der Muslimbruderschaft auf der Rechten, andere von den sich gerade erst organisierenden Kommunisten. Bald schwoll die Bruderschaft zu einer Massenbewegung von Hunderttausenden an.

Während des Aufschwungs von Klassen- und sozialen Kämpfen 1945/46 benutzte die Monarchie die Muslimbruderschaft als Stoßtruppe gegen streikende Arbeiter, Kommunisten und die linksnationalistische Wafdistische Avantgarde. Die Bruderschaft schuf sich eine Unterstützerbasis unter Fabrikbesitzern, Vorarbeitern und rückständigen Arbeitern, lieferte Streikführer staatlicher Repression aus und versuchte kämpferische Gewerkschaften zu unterminieren oder zu zerstören. Der von Kommunisten geführte Kongress der Gewerkschaften des Privatsektors protestierte in einer Erklärung gegen die Bruderschaft wegen „faschistischer Methoden unter Einsatz ihrer Knüppel“ gegen linke Studenten und Arbeiter der kämpferischen Textilfabrik von Schubra al-Chaima und „wegen [religiösen] Sektierertums mit dem Ziel, die Reihen der Bevölkerung zum Nutzen des Imperialismus zu spalten“. Die Erklärung schloss mit einer eindringlichen Warnung an „Arbeitskollegen, sich keinem von den Muslimbrüdern gegründeten Komitee anzuschließen“ (zitiert in Joel Beinin und Zachary Lockman, Workers on the Nile: Nationalism, Communism, Islam and the Egyptian Working Class, 1882–1954 [Arbeiter am Nil: Nationalismus, Kommunismus, Islam und die ägyptische Arbeiterklasse, 1882–1954], 1987).

Doch bald alarmierte die zunehmende Stärke der Bruderschaft selbst die Monarchie. Nach einer Reihe von Attentaten auf Regierungsbeamte und anderen der Bruderschaft zugeschriebenen Gewalttaten wurde die Organisation 1948 verboten. Geheimdienstagenten ermordeten im Jahr darauf al-Banna.

Oberst Nasser, der gleichermaßen von den Islamisten und den Stalinisten unterstützt wurde, ging ein pragmatisches Bündnis mit der Bruderschaft ein beim Versuch, ihre Massenbasis zu gewinnen und sie gegen die Stalinisten zu benutzen. Sechs Wochen nach dem Militärputsch von 1952, der seine Bewegung der Freien Offiziere an die Macht gebracht hatte, richtete das Nasser-Regime zwei Streikführer hin. Die Bruderschaft bejubelte die Tat und rief die Regierung auf, „diese Kommunisten … mit eiserner Hand in ihre Höhlen zurückzutreiben“ (zitiert in Workers on the Nile).

Die Flitterwochen endeten 1954, als ein Mitglied der Bruderschaft angeblich versuchte, Nasser zu töten. Zu jener Zeit hatten die Islamisten ihren Zweck zur Unterdrückung der Kommunisten erfüllt, und das Regime hatte sich eine breitere Unterstützerbasis geschaffen, auch durch begrenzte Landreformen. Sechs Mitglieder der Bruderschaft wurden hingerichtet und Tausende inhaftiert. Höhepunkt der harten Repression war die Hinrichtung von Sayyid Qutb 1966.

Sadat bewaffnet die Islamisten erneut

Nasser starb 1970, Nachfolger wurde sein Schützling, Vizepräsident Anwar al-Sadat, ein früherer Anhänger der Muslimbruderschaft. Sadat kündigte in der Folge den „Freundschafts“vertrag Ägyptens mit der Sowjetunion auf, ordnete den Abzug sowjetischer Militärberater an und ebnete so den Weg für engere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Er leitete seine Politik der Infitah [Öffnung] ein – wirtschaftliche Liberalisierung auf Grundlage offenen Zugangs für imperialistische Investitionen –, wobei Schlüsselindustrien privatisiert und Nassers Landreform zurückgedreht wurden. Sadats Politik traf zunehmend auf Widerstand seitens der Nasseristen wie auch der Kommunisten und anderer linker Elemente.

Um die wachsende Wut über die chronische Wirtschaftskrise des Landes abzulenken, förderte Sadat Mystizismus und Aberglauben. Er pilgerte mehrmals nach Mekka und nahm den Titel „frommer Präsident“ an. Er bekräftigte Nassers Erklärung, der Islam sei die Staatsreligion, und erklärte die Scharia zur Hauptquelle staatlicher Gesetzgebung. Tausende Moscheen wurden gebaut und Amtsgebäude mit Gebetsräumen ausgestattet. Tag und Nacht erläuterten Scheichs mit allen Insignien – Kaftan, Turban und Bart – im Fernsehen die Tugenden und die Moral der islamischen Gesellschaft. Passanten wurden mit Tonbandaufnahmen von Freitagspredigten traktiert, die von Zeitungsständen, Imbisswagen und aus vorbeifahrenden Taxis schallten. Die Militäroffensive von 1973, die Israel ein blaues Auge verpasste, wurde von Sadat im Monat Ramadan gestartet, unter dem Kodenamen „Badr“, benannt nach der ersten siegreichen Schlacht des Propheten im Jahre 624. Und der Schlachtruf lautete „Gott ist groß“.

Sadat rief 1971 die von ihm so genannte „Korrekturbewegung“ ins Leben, verhaftete Nassers wichtigste Vertraute und unterdrückte im Jahr darauf eine Studentenrevolte. Er ließ inhaftierte Islamisten frei und ermöglichte es ihnen, den ägyptischen Studentenverband unter ihre Kontrolle zu bringen, dessen Hauptzweck nach einem Präsidentenerlass von 1976 fortan „die Vertiefung der religiösen Werte unter den Studenten“ sein sollte (Gilles Kepel, Der Prophet und der Pharao, 1995). 1977 hatten die Islamisten landesweit die Studentenvereinigungen unter Kontrolle. Mit Hilfe der ihnen nun zur Verfügung stehenden beträchtlichen Finanzmittel und Einrichtungen organisierten sie unter der Schirmherrschaft des Rektors der staatlich finanzierten al-Azhar-Universität, des weltweit führenden Islaminstituts, und anderer Amtsträger des Regimes „islamische Sommerlager“, in denen Tausende Studenten religiöse und paramilitärische Ausbildung erhielten.

Die Fundamentalisten waren so mächtig, dass die Universitäten zur „Terra islamica“ wurden. Mit Eisenstangen griffen Schläger Paare und unverschleierte Frauen an. Sie verboten Filme, Konzerte und Abendveranstaltungen. Sie randalierten durch die Nachtlokale der Stadt, zertrümmerten Fensterscheiben und verprügelten Bauchtänzerinnen. Die Fundamentalisten subventionierten islamische Frauengewänder und boten gesonderte Busse für Schleierträgerinnen an. Ermutigt durch Sadats Inhaftierung religiöser Führer der koptischen Christen legten die Islamisten in Kairoer Kirchen Bomben. An religiösen Feiertagen veranstaltete Gebetsversammlungen zogen Hunderttausende an; in Kairo wurden die Kundgebungen auf dem Platz gegenüber dem Abdin-Palast, der Präsidentenresidenz, abgehalten. Vielleicht war es eine Geste der Dankbarkeit, als der islamistische ägyptische Präsident Mohammed Mursi im Oktober 2012 einen Kranz an Sadats Grab niederlegte, eine Ehre, die Sadat in den drei Jahrzehnten seit seinem Tod noch nie zuteil geworden war.

Die Agenda der Islamisten ging weit über die Rolle hinaus, die ihnen das Regime Sadats zugewiesen hatte. Kepel schrieb:

„… aber es ist dennoch offensichtlich, dass sie mit den von ihnen aufgebauten Infrastrukturen und ihren in den Sommerlagern und islamischen Studienwochen ausgebildeten Führungskräften darauf vorbereitet waren, eine ganz andere Aufgabe als diejenige zu übernehmen, die Macht der nasseristischen und kommunistischen Linken im Auftrag der herrschenden Gruppe zu brechen. Zwar betrachteten sie den Nasserismus als eine besonders abscheuliche Phase der Jahiliyya [Ignoranz], aber im Grunde erschien ihnen die Ära Sadats kaum besser. Doch die internen Widersprüche dieser Zeit ermöglichten es den [islamischen] Jama’at, im Schatten des Regimes zu gedeihen“ (Der Prophet und der Pharao).

Sadats Reise nach Israel 1977 markierte den Beginn des Bruchs mit den islamischen Fundamentalisten, seine Unterschrift unter das Abkommen von 1979 besiegelte ihn. Ägypten war damit der erste arabische Staat, der Israel anerkannte. Sadat machte viel Aufhebens von der Rückgabe des Sinai an Ägypten, doch dass er gegenüber dem „jüdischen Staat“ freundlich auftrat, war in den Augen der Islamisten das schlimmste Sakrileg. 1981 wurde Sadat von Armeeoffizieren und Soldaten der al-Dschihad ermordet, einer der Islamistengruppen, die dem von ihm selbst bereiteten fruchtbaren Boden entsprungen waren.

In den 1990er-Jahren führten die von Sadats Nachfolger Husni Mubarak unterdrückten islamischen Fundamentalisten eine Terrorkampagne durch, deren Opfer Touristen, Kopten und säkulare Intellektuelle waren. 1992 wurde Farag˘ Fanda ermordet, ein radikaler liberaler Intellektueller, der sein Leben lang gegen religiösen Fanatismus und Feinde der Aufklärung auf die Barrikaden ging. 1994 gab es einen Attentatsversuch auf den Nobelpreisträger Nagib Mahfuz, einen Romanschriftsteller, der mit viel Einfühlungsvermögen über Homosexuelle und Prostituierte und über das Leben von Frauen im Allgemeinen schrieb. Drei Jahre später wurden 58 Touristen in Luxor niedergemetzelt.

Iran 1979: Aufstieg der islamischen Reaktion

Sadat war nicht der einzige Führer im Nahen Osten, der die islamische Reaktion förderte. Anfang der 1980er-Jahre fachten die Militärherrscher der Türkei, die selbsternannten Wächter des Säkularismus, das Wachstum des islamischen Fundamentalismus an, um Linke und Gewerkschafter besser unterdrücken zu können. Religionsunterricht wurde in allen Schulen zur Pflicht, und religiöse Schulen für Imame wurden eingerichtet. Diese Schulen wurden zu Brutstätten islamischer Ideologie und versorgten die islamistische Bewegung mit Führern, darunter auch jene, die später die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des gegenwärtigen Premierministers Recep Tayyip Erdogan gründeten. Die zionistischen Herrscher Israels förderten bewusst das Wachstum von Hamas als Gegengewicht zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). General Yitzhak Segev, ehemaliger Militärgouverneur von Gaza, gab zu: „Wir unterstützen einige islamische Gruppen finanziell über die Moscheen und religiösen Schulen, um dabei zu helfen, eine Kraft zu schaffen, die sich den linken Kräften, die die PLO unterstützen, entgegenstellen kann“ (zitiert in Joel Beinin und Joe Stork, Hrsg., Political Islam, 1997).

„Bis zu einem gewissen Grad war der Fundamentalismus unsere eigene Schöpfung und wurde einst gefördert, um die Bedrohung durch den Kommunismus zu bekämpfen“, erläuterte 1994 der damalige bonapartistische Herrscher Tunesiens Zine el-Abidine Ben Ali der Londoner Financial Times in einem Interview. „Solche Gruppen wurden damals an den Universitäten und anderswo als Gegengewicht zu den Kommunisten gefördert, um ein Gleichgewicht herzustellen“ (zitiert in Political Islam). Schon Jahrzehnte zuvor hatten die US-Imperialisten Islamisten und andere religiöse Reaktionäre im Kalten Krieg gegen den „gottlosen Kommunismus“ willkommen geheißen.

Es war 1979 der Aufstieg des Ajatollah Chomeini zur Macht im Iran, der dem Wachstum der islamischen Reaktion im Nahen Osten gewaltigen Auftrieb gab. Dies war nicht unausweichlich gewesen. Die stalinistische Tudeh-Partei genoss das Vertrauen der Masse der Arbeiterklasse. Beim Sturz des verhassten, von den USA gestützten Schah spielten militante Kämpfe des iranischen Proletariats, insbesondere der strategisch wichtigen Ölarbeiter, eine entscheidende Rolle, was die Möglichkeit eines Kampfes um Arbeitermacht auf die Tagesordnung setzte. Doch im Namen von „Antiimperialismus“ gaben Tudeh und andere iranische linke Gruppen der von Mullahs dominierten Opposition unter der Führung Chomeinis ihre Unterstützung, ebenso wie der Großteil der vorgeblich sozialistischen Organisationen weltweit. Chomeini wurde an die Macht gespült, und das Ergebnis war ein massenhaftes Blutbad, unter anderem an unverschleierten Frauen, Linken, Gewerkschaftern und Kurden.

Wie wir in der Grundsatzerklärung der Internationalen Kommunistischen Liga (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 20, Sommer 1998) bemerkten:

„Die ,Iranische Revolution‘ von 1979 eröffnete eine Periode des Aufstiegs des politischen Islam im historisch muslimischen Teil der Welt, eine Entwicklung, die zur konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion beitrug und durch diese wiederum kräftig verstärkt wurde. Chomeinis Machtergreifung und Konsolidierung im Iran war eine ähnliche Niederlage wie Hitlers Zerschlagung des deutschen Proletariats 1933, wenn auch im engeren, regionalen Maßstab. Die Losung der internationalen Spartacist Tendenz ,Nieder mit dem Schah! Keine Unterstützung für die Mullahs!‘ und unsere Betonung der Frauenfrage (,Nein zum Schleier!‘) standen in scharfem Gegensatz zur Kapitulation der übrigen Linken vor der von den Mullahs geführten Reaktion.“

Religiöser Fanatismus, der sich besonders unterdrückerisch gegen Frauen richtet, ist kein ausschließlich islamisches Phänomen. Unter protestantischen Fernsehpredigern, ultraorthodoxen Juden, katholischen Opus-Dei-Anhängern und Hindutva-Fundamentalisten mangelt es nicht an Fanatikern, die glauben, sie hätten einen gottgegebenen Auftrag, die Gebote ihrer jeweiligen „heiligen Schriften“ durchzusetzen und die Ungläubigen zu vernichten; ein jüngstes Beispiel davon sind Pogrome buddhistischer Mobs gegen die muslimische Rohingya-Minderheit in Myanmar (Birma). Die Weltsicht der Islamisten, die unverschleierte Frauen und Linke als Ungläubige betrachten, die den Zorn Gottes verdienen, unterscheidet sich nicht grundlegend von der christlicher Fanatiker in den USA, die Abtreibungskliniken terrorisieren, oder faschistoider Zionisten, die Palästinenser beim Morgengebet mit Kugeln durchsieben.

Was den islamistischen Fundamentalismus unterscheidet, ist die besondere historische Entwicklung der Region, in der er gedeiht. In Westeuropa waren Teile des Christen- und des Judentums, die wie der Islam und andere Religionen ihre Wurzeln in der vorkapitalistischen Gesellschaft haben, dazu gezwungen, sich dem aufstrebenden Kapitalismus und seinen materiellen Fortschritten gegenüber der rückständigen Feudalgesellschaft anzupassen. Dazu war der Islam nicht im gleichen Maße gezwungen. Bis zum 16. Jahrhundert waren die islamischen Gesellschaften Nordafrikas und des Nahen Ostens qualitativ höher entwickelt als das katholische Europa. Doch Jahrhunderte der Stagnation und des Niedergangs unter der Osmanenherrschaft schotteten die islamische Welt vor der Renaissance, dem Rationalismus der Aufklärung und der industriellen Revolution ab. Nach dem Dahinschwinden der osmanischen Herrschaft hielt koloniale Besetzung die kapitalistische Entwicklung auf und verstärkte die soziale Rückständigkeit zum Zweck der Festigung der Kolonialherrschaft. Der Islam, der in einigen entscheidenden Punkten dem Christentum vor der Reformation ähnelt, beansprucht in Gesellschaften, in denen es nie zu einer Trennung von Religion und Staat kam, die Kontrolle über alle Aspekte des persönlichen Lebens.

Afghanistan: Imperialisten schüren religiöse Reaktion

In der Periode der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts setzten die entstehenden Kapitalistenklassen – in ihrem Kampf zur Beseitigung der feudalen Hindernisse für eine kapitalistische Entwicklung – die Wissenschaft gegen religiösen Obskurantismus ein. Doch in der Epoche seines imperialistischen Niedergangs und Verfalls hat der Kapitalismus zunehmend rückständige Anschauungen gefördert. Die Imperialisten haben sich in ihrem Kreuzzug zur Zerstörung der Sowjetunion und zur Eindämmung der allgegenwärtigen kommunistischen Flut mit allen möglichen religiösen Finsterlingen eingelassen – vom Dalai Lama über die indonesische islamische Masyumi bis zu den afghanischen Mudschaheddin. John Foster Dulles, der später auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges US-Außenminister wurde, erklärte 1950: „Die Religionen des Ostens sind tief verwurzelt und haben viele kostbare Werte. Ihre geistlichen Überzeugungen können nicht mit kommunistischem Atheismus und Materialismus in Einklang gebracht werden. Das schafft ein gemeinsames Band zwischen uns, und unsere Aufgabe ist, es zu finden und zu entwickeln“ (zitiert in Paul Baran, The Political Economy of Growth [Die politische Ökonomie des Wachstums], 1968).

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg rekrutierten die USA sowjetische Muslime, darunter viele, die auf Seiten der Nazis gekämpft hatten, für ihre Geheimoperationen gegen die UdSSR. Einige wurden von Radio Free Europe und Radio Liberty herangezogen, um antisowjetische Propaganda auszustrahlen. 1953 lud Präsident Eisenhower drei Dutzend Islamistenführer, auch aus der Muslimbruderschaft, ins Weiße Haus ein, um sie für Washingtons antikommunistischen Kreuzzug anzuwerben. Dulles’ „gemeinsames Band“ kam 1965/66 zum Tragen, als die CIA das Massaker an mehr als einer Million Linker, Arbeiter und anderer durch die Armee und Islamisten in Indonesien unterstützte. Es wurde in den 1980ern weiter gefestigt beim antisowjetischen Dschihad in Afghanistan.

Dort nahm die modernisierende prosowjetische Regierung der Demokratischen Volkspartei (DVPA) nach ihrer Machtübernahme 1978 ein Reformprogramm in Angriff: Schuldentilgung für Bauern, Neuverteilung des Landes, Verbot von Zwangsehen und Senkung des Brautpreises auf eine symbolische Summe. Die Maßnahmen der DVPA, insbesondere jene, die darauf abzielten, Frauen aus feudaler Tyrannei zu befreien, bedrohten den Würgegriff der Mullahs über das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und riefen umgehend eine mörderische Gegenreaktion hervor.

Am explosivsten war, dass die DVPA die Schulpflicht für Mädchen einführte und Alphabetisierungsprogramme für Frauen einrichtete; in gut einem Jahr wurden 600 Schulen gebaut. Die Aufständischen der Stämme verteufelten den Schulunterricht für Frauen als ersten Schritt zu einem „Leben in Schande“, und bei den ersten blutigen Auseinandersetzungen ging es um die Bildung von Frauen – DVPA-Kader und Lehrer, die Frauen das Lesen und Schreiben beibringen wollten, wurden aus Dörfern vertrieben und ermordet. Wegen der Revolte wurde ein Erlass, der es Frauen erlaubte, sich scheiden zu lassen, nicht offiziell bekannt gegeben. Selbst die New York Times (9. Februar 1980) gab zu: „Der Grund, der orthodoxe muslimische Männer in den Paschtunendörfern im Osten Afghanistans dazu trieb, ihre Waffen zu ergreifen, war die Zuerkennung neuer Rechte für Frauen durch die revolutionäre Kabuler Regierung.“

Nach wiederholten dringenden Bitten des DVPA-Regimes schickte die Sowjetregierung im Dezember 1979 Truppen nach Afghanistan, um an der Südflanke der UdSSR einen Sieg der Mudschaheddin zu verhindern. Dies war ein notwendiger militärischer Verteidigungsakt gegen imperialistische Konterrevolution. Die konservative Kreml-Bürokratie schickte 100 000 Soldaten gewiss nicht, um eine soziale Revolution durchzuführen. Doch eine ausgedehnte sowjetische Militärpräsenz eröffnete die Möglichkeit zur Befreiung der Völker dieses zurückgebliebenen Landes, insbesondere der Frauen. Wir Trotzkisten sagten „Hoch die Rote Armee!“ und riefen dazu auf, die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution auf die afghanischen Völker auszuweiten.

Nachdem die Imperialisten mitgeholfen hatten, eine sowjetische Militärintervention zu provozieren, benutzten sie diese dann als Vorwand für eine erneute Kalte-Kriegs-Offensive und setzten die Frauen hassenden Mudschaheddin-Mörderbanden in einem Stellvertreterkrieg dafür ein, Sowjetsoldaten zu töten. Dafür setzte die CIA die größte Geheimoperation ihrer Geschichte in Gang und ließ sich das viele Milliarden Dollar kosten. Durch ihre Mittelsmänner, die saudische Monarchie und der pakistanische Geheimdienst, koordinierten die Imperialisten die Rekrutierung, Bewaffnung und Ausbildung Zehntausender „arabischer Afghanen“ aus der ganzen Welt. Die ägyptische Bruderschaft spielte bei diesem „heiligen Krieg“ eine Schlüsselrolle. Ihre Mitglieder wurden von Husni Mubarak aus dem Gefängnis entlassen und nach Afghanistan geschickt und bildeten dort ein bedeutendes Mudschaheddin-Kontingent. Wichtige Leute aus der Führung besuchten regelmäßig Afghanistan. Die von der Bruderschaft kontrollierte ägyptische Ärztekammer organisierte und bezahlte 95 Prozent der für die islamistischen Streitkräfte arbeitenden Ärzte.

Mitte der 1980er-Jahre hatte die Rote Armee gegen die Mudschaheddin dann eindeutig die Oberhand. Doch die sowjetische stalinistische Bürokratie zog, getreu ihren Illusionen von einer „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus, 1988/89 die Truppen ab. Wir verurteilten aufs schärfste diesen kriminellen Verrat nicht nur an den afghanischen Frauen und Linken, sondern auch am sowjetischen degenerierten Arbeiterstaat und warnten, dass es besser sei, die Imperialisten in Afghanistan zu bekämpfen, als ihnen in der Sowjetunion selbst entgegentreten zu müssen.

Der Abzug aus Afghanistan ebnete der kapitalistischen Konterrevolution in Osteuropa und der UdSSR den Weg, einer welthistorischen Niederlage für das internationale Proletariat ebenso wie für Frauen, ethnische und nationale Minderheiten und alle Ausgebeuteten und Unterdrückten. Die nachsowjetischen Jahre sind gekennzeichnet durch einen drastischen Rückgang des Lebensstandards der Werktätigen und Armen, einen verstärkten imperialistischen Würgegriff über die halbkolonialen Völker, verschärfte Repression gegen Immigranten und eine starke Zunahme rassistischer und religiöser Reaktion. Der US-Imperialismus, nicht länger durch das Gegengewicht der Sowjetunion in Zaum gehalten, rief eine „Welt der einen Supermacht“ aus, in der er seine militärische Macht überall nach Belieben einsetzen kann.

Afghanistan wurde erneut zur reinsten Hölle für Frauen. Und die vom US-Imperialismus erzeugten und gepäppelten „arabischen Afghanen“ gründeten dann in anderen Ländern reaktionäre Bewegungen, wobei sie sich den tiefen Groll der Bevölkerung gegen brutale nationalistische Regime und vom Imperialismus diktierte Austerität zu Nutze machten. Als sich dieses Frankenstein-Monster im September 2001 gegen seinen Schöpfer wandte, erklärten die USA zynisch ihren „Krieg gegen den Terror“. Im Gegenzug führt jeder neue imperialistische Militärangriff in der muslimischen Welt den Reihen der islamischen Fundamentalisten neue Kräfte zu.

Derweil hat aber der „Krieg gegen den Terror“ der Zusammenarbeit zwischen islamischen Fundamentalisten und den Imperialisten keinen Abbruch getan. Als die ägyptische Muslimbruderschaft an der Macht war, hielt sie sich genau wie ihr türkisches Gegenstück, die AKP, an den vorgegebenen Rahmen imperialistischer Beherrschung der Region. Wie Perry Anderson in der New Left Review zur Zeit von Mubaraks Sturz bemerkte:

„Früher hätte die Aussicht auf den Regierungseintritt der Muslimbruderschaft oder ihrer regionalen Ableger in Washington akute Alarmstimmung ausgelöst. Doch der Westen ist beruhigt, er besitzt jetzt in der Türkei eine Blaupause, die er in den arabischen Ländern vervielfältigen kann und die das Beste aller politischen Welten anbietet. Die AKP hat gezeigt, wie loyal gegenüber der NATO und dem Neoliberalismus und wie fähig in der angemessenen Anwendung von Einschüchterung und Repression eine fromme, aber liberale Demokratie, die sich des Knüppels und des Korans bedient, sein kann.“ (März/April 2011)

Eine proletarisch-revolutionäre Perspektive

Der Vormarsch sozialer Reaktion und imperialistischer Machtanmaßung auf einem Großteil des Erdballs in den Jahren seit der konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion demonstriert das ungeheure Ausmaß dieser Niederlage. Vorgeblich sozialistische Organisationen weltweit – von denen die meisten den Zusammenbruch der Sowjetunion bejubelten – haben sich der triumphalen Verkündung vom „Tod des Kommunismus“ durch die Bourgeoisie angepasst und sich jeglichen Anscheins einer Verbindung zur Russischen Revolution von 1917 und ihrer bolschewistischen Führung entledigt.

Wir in der IKL haben das nicht getan. Die bolschewistische Revolution bleibt Höhepunkt der modernen Geschichte und Anleitung für einen erfolgreichen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung mit wichtigen Lektionen für Kämpfer in Ägypten und anderswo im Nahen Osten, die eine Alternative zu militärischem Bonapartismus und islamischer Reaktion suchen. Um die Fesseln von Imperialismus und aus dem Feudalismus stammender Reaktion zu zerbrechen, ist der revolutionäre Sieg des Proletariats notwendig – eine Perspektive, die mit dem Kampf für Arbeitermacht in den imperialistischen Zentren verknüpft werden muss.

Das kämpferische ägyptische Proletariat muss an die Spitze aller Unterdrückten treten, darunter religiöse und ethnische Minderheiten wie auch Frauen, und für seine eigene Herrschaft kämpfen – eine Arbeiter- und Bauernregierung. Proletarische Konzentrationen in der Region, von den Textilfabriken Ägyptens und den Autofabriken der Türkei zu den Ölfeldern des Iran und auch im zionistischen Garnisonsstaat Israel verweisen auf das Potenzial, all die reaktionären Regime hinwegzufegen und eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens zu schmieden. Um diese Aufgabe durchführen zu können, muss das Proletariat von bürgerlichem Nationalismus und allen Arten religiöser Rückständigkeit gebrochen werden. Und das erfordert eine revolutionäre Führung.

Gegenwärtig scheint das vielleicht eine fern in der Zukunft liegende Perspektive zu sein. Aber ohne proletarische Revolution wird die Ausbeutung der arbeitenden Menschen immer weitergehen und es wird keine Befreiung der Frauen geben. Die Funktionsweise des kapitalistischen Profitsystems selbst, das in der Wirtschaftskrise der vergangenen fünf Jahre Leben und Existenz von Arbeitern auf dem gesamten Erdball verwüstet hat, legt den Samen für scharfen Klassen- und sozialen Kampf. In solche Kämpfe intervenieren wir und kämpfen dabei für die politische Unabhängigkeit des Proletariats von allen bürgerlichen Kräften. Dabei ist es unser Ziel, Arbeiterparteien nach dem Modell der Bolschewiki als Sektionen einer wiedergeschmiedeten trotzkistischen Vierten Internationale herauszubilden.

 

Spartakist Nr. 202

Spartakist Nr. 202

März 2014

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