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Spartakist Nummer 168

Herbst 2007

Die Russische Revolution von 1917

Von der Februarrevolution zu den Julitagen

Zweiter Teil

Spartakist-Jugend

Wir drucken im Folgenden den zur Veröffentlichung redigierten zweiten und abschließenden Teil eines Vortrags des Genossen T. Marlow im Rahmen einer Schulungsreihe über Leo Trotzkis Die Geschichte der Russischen Revolution (1932) ab, die im Januar 2006 für junge Kader der Spartacist League/U.S. abgehalten wurde. Er ist übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 875, 1. September 2006. Der erste Teil erschien in Spartakist Nr. 167, Sommer 2007.

Während der Februarrevolution und des folgenden Monats befand sich Lenin noch immer im Exil in der Schweiz und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, nach Russland zu gelangen. Im Laufe des März näherte sich die Haltung der bolschewistischen Führer in Russland weitgehend der Position der Menschewiki an. Am 15. März enthielt die damals von Stalin, Kamenjew und Muranow herausgegebene Prawda einen Artikel, in dem es hieß:

„Nicht die Desorganisierung der revolutionären und der sich revolutionierenden Armee und nicht das inhaltlose ,Nieder mit dem Krieg!‘ ist unsere Losung. Unsere Losung ist Druck (!) auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen, offen vor die ganze Weltdemokratie (!) zu treten, mit dem Versuche (!), alle kriegführenden Länder zu einer sofortigen Aufnahme von Verhandlungen über die Methoden der Beendigung des Weltkrieges aufzufordern. Bis dahin aber bleibt jeder (!) auf seinem Kampfposten (!).“ [Hervorhebungen von Trotzki] (Leo Trotzki, Die Lehren des Oktober, 1924)

Dieser Artikel war völlig im Geiste des „revolutionären“ Defensismus der Menschewiki und Sozialrevolutionäre (SR) – d.h. die Russische Revolution hatte die Hauptaufgabe, den Sturz der Monarchie, erreicht, und die „Revolution“ und ihr „freies Volk“ mussten sich gegen den deutschen Kaiser verteidigen. In Wirklichkeit bedeutete dies, dass es weiterhin um die Kriegsziele der russischen Bourgeoisie ging, jetzt unter dem Deckmantel der „Demokratie“ anstatt unter dem Adler der Romanows. Dieser Defensismus stand in scharfem Widerspruch zu dem von Lenin und den Bolschewiki im Ersten Weltkrieg vertretenen revolutionären Defätismus. Im Gegensatz zu den Menschewiki und den sozialdemokratischen Führern in ganz Europa, die entweder ihre eigene imperialistische herrschende Klasse offen unterstützten oder die Imperialisten um einen gerechten Frieden anflehten, bestand Lenin darauf, dass die Arbeiterklasse im interimperialistischen Krieg keine Seite hatte und dass der einzige Weg zum Frieden darin bestand, dass die Arbeiterklasse einer jeden kriegführenden Nation den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zum Sturz der kapitalistischen Herrscher verwandelte.

Wie weit die Bolschewiki sich nach der Februarrevolution auf eine Aussöhnung mit den Menschewiki hinbewegt hatten, lässt sich daran ermessen, dass sich in einigen Provinzen, wie Trotzki in seiner Geschichte bemerkt, Bolschewiki und Menschewiki zu Einheitsorganisationen zusammengeschlossen hatten. Tatsächlich befürworteten Parteiführer wie Stalin zu Beginn der Parteikonferenz vom April eine Fusion mit den Menschewiki. Man sollte wissen, dass seinetwegen Lenin alle Hände voll zu tun hatte.

Lenin hatte in seinen „Briefen aus der Ferne“ vom März viele wesentliche Positionen klargestellt. Er erklärte ausdrücklich, dass in der Frage des imperialistischen Krieges jegliche Annäherung an den Defensismus ein Spaltungsgrund sei. In seiner Geschichte zitiert Trotzki einen Brief Lenins vom März: „Unsere Partei würde sich für ewig mit Schande bedecken, politisch umbringen, wenn sie auf einen solchen Betrug einginge… Ich werde sogar einen sofortigen Bruch, mit wem auch immer aus unserer Partei, vorziehen, als dem Sozialpatriotismus nachgeben…“ Auf jeden Fall hätte die Rede, die Lenin nach seiner Ankunft in Petrograd am 3. April über den sozialistischen Charakter der Russischen Revolution hielt, die Bolschewiki nicht so sehr überraschen sollen, wie sie es anscheinend tat.

Lenins Kampf zur Umbewaffnung der Partei

Am 4. April trug Lenin die brillanten Thesen vor, die jetzt als „Aprilthesen“ bekannt sind. Auf nur ein paar Seiten bekräftigte Lenin die strategischen Ziele der Bolschewiki, von denen sie abgeglitten waren, und verkündete eine völlig neue taktische Orientierung für die Partei. Dazu gehörte das Fallenlassen alter Losungen wie die der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zugunsten eines direkten Kampfes für die proletarische Macht in Russland. Damit wies Lenin in der Praxis die falsche Formel einer Zweiklassendiktatur zurück und gelangte im Wesentlichen zum gleichen Konzept der Russischen Revolution, wie es Trotzki bereits 1905 skizziert hatte und das als die Theorie der permanenten Revolution bekannt wurde. Trotzki verstand, dass die Vollendung der demokratischen Revolution im rückständigen Russland nur als Diktatur des Proletariats, das sich auf die Bauernschaft stützt, vorstellbar war und dass die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse in Russland nicht nur die demokratischen, sondern auch die sozialistischen Aufgaben auf die Tagesordnung setzen würde. Dies würde der internationalen sozialistischen Revolution, die für die Entwicklung des Sozialismus in Russland notwendig war, mächtigen Auftrieb geben. [Für weitere Hintergrundinformationen zu den Konzepten der Russischen Revolution bei den Menschewiki, den Bolschewiki und Trotzki siehe „Die Russische Revolution von 1905“, Spartakist Nr. 166, Frühjahr 2007.]

In seinen Aprilthesen rief Lenin auch zum Aufbau einer neuen, revolutionären Dritten Internationale auf. Die Notwendigkeit einer neuen Internationale und eines Bruchs mit den Sozialchauvinisten, einschließlich der schwankenden zentristischen Elemente um den deutschen sozialdemokratischen Führer Karl Kautsky, war seit Beginn des imperialistischen Krieges eine Forderung Lenins gewesen.

Lenin stieß auf eine nicht geringe Opposition – er musste einen Kampf führen, um die Partei für sich zu gewinnen, wobei er gelegentlich sogar damit drohte, dem Zentralkomitee den Rücken zu kehren und direkt an die Mitgliedschaft zu appellieren. Kurzum, damit stellte sich die Frage eines Fraktionskampfes und einer Spaltung. Es ist bemerkenswert, dass bei der Veröffentlichung der Aprilthesen am 7. April in der Prawda kein einziges Mitglied des Zentralkomitees Lenins Artikel mit unterzeichnen wollte. Tatsächlich schrieben die Herausgeber der Prawda: „Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin betrifft, so erscheint es uns unannehmbar, insofern es von der Einschätzung der bürgerlich-demokratischen Revolution als einer abgeschlossenen ausgeht und mit der sofortigen Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische Revolution rechnet.“ Den Ernst der Lage in der Partei hat Trotzki gut auf den Punkt gebracht:

„Das Zentralorgan der Partei erklärte auf diese Weise vor dem Angesicht der Arbeiterklasse und deren Feinden offen das Auseinandergehen mit dem allgemein anerkannten Führer der Partei in der Kernfrage der Revolution, auf die die bolschewistischen Kader sich während einer langen Reihe von Jahren vorbereitet hatten. Dies allein genügt, um die ganze Tiefe der Aprilkrise der Partei richtig einzuschätzen, die aus dem Zusammenstoß zweier unversöhnlicher Linien erwachsen war. Ohne Überwindung dieser Krise konnte die Revolution nicht weiterschreiten.“

Bürgerlich-demokratische oder sozialistische Revolution?

Die „alten Bolschewiki“, darunter Stalin, Sinowjew und Kamenjew, schienen zu glauben, dass die alte Losung „Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ durch eine Art Verschmelzung von der Provisorischen Regierung und den Sowjets verwirklicht worden sei – später, im Oktober 1917, sollten Sinowjew und Kamenjew, gegen den Beschluss des Zentralkomitees zum bewaffneten Aufstand, ausdrücklich verkünden: „Die Konstituierende Versammlung und die Räte – das ist jener kombinierte Typus der Staatsinstitutionen, dem wir entgegengehen“ (zitiert in Lehren des Oktober). Für die Russische Revolution wäre das der Tod gewesen.

Die Ereignisse in Petrograd vor der Einberufung der Gesamtrussischen Konferenz der bolschewistischen Partei am 24. April unterstrichen nachdrücklich, dass Lenins Neuorientierung der Partei richtig und überfällig war. Vielleicht als eine Ohrfeige für die Sowjets, ging Miljukow, Führer der Kadetten und damals Außenminister der Provisorischen Regierung, am 18. April mit einem Brief an die Öffentlichkeit, in dem er Russlands Engagement im imperialistischen Krieg bekräftigte. Nach dem westlichen Kalender geschah dies am 1. Mai – dem internationalen Feiertag der Arbeiter. An diesem Tag gab es in Petrograd friedliche und feierliche Demonstrationen. Bei den Massen von Petrograd rief Miljukows Brief große Empörung hervor, und den 20. April schilderte Trotzki in seiner Geschichte: „Die Massen gingen mit Waffen in den Händen auf die Straße. Zwischen den Bajonetten der Soldaten tauchten Plakate auf: ,Nieder mit Miljukow!‘“. Trotzki fährt fort: „Die von den bewaffneten Soldaten und Matrosen auf die Straßen getragene Losung ,Nieder mit der Provisorischen Regierung‘ mußte unvermeidlich in die Demonstration eine Strömung des bewaffneten Aufstandes hineinbringen.“

Das hatte wenig zu tun mit der geradezu festlichen Demonstration nur einen Monat zuvor, als 800 000 zur Beerdigung der Märtyrer der Februarrevolution strömten. Die Demonstration vom 20. April sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Massen von Petrograd mit der Waffe in der Hand auf die Straße gingen in der offensichtlichen Absicht, die Staatsmacht zu erobern, doch ohne die Führung, die den Kampf zum Sieg führen kann. Diese Führung sollte erst im Oktober zur Stelle sein.

So trat die bolschewistische Konferenz zusammen, als gleichzeitig die Petrograder Arbeiter revolutionäre Ernsthaftigkeit demonstrierten – und das spürten die bolschewistischen Arbeiter in den Fabriken und in den Sowjets der unteren Ebene deutlich. Lenin war vor allem ein scharfsinniger Politiker! Trotzki erzählt in seinen Lehren des Oktober:

„Diese Fragestellung ist höchst bezeichnend. Lenin hat nach dem Auskundschaftungsversuch die Parole des sofortigen Sturzes der Provisorischen Regierung zurückgezogen, er zog sie aber nur für Wochen oder Monate zurück, je nachdem, mit welcher Geschwindigkeit die Empörung der Massen gegen die Opportunisten zunehmen würde. Die Opposition hielt jedoch die Parole selbst für einen Fehler.

In dem zeitweiligen Rückzug Lenins war nicht der leiseste Hinweis auf eine Änderung der Linie vorhanden. Er ging nicht davon aus, daß die demokratische Revolution noch nicht zu Ende war, sondern ausschließlich davon, daß die Masse heute noch nicht fähig ist, die Provisorische Regierung zu stürzen, und daß man daher alles tun müsse, damit die Arbeiterklasse fähig wird, die Provisorische Regierung morgen zu stürzen.

Die ganze Aprilkonferenz der Partei war dieser Grundfrage gewidmet. Gehen wir zur Eroberung der Macht im Namen des sozialistischen Umsturzes oder helfen wir (irgendjemandem), die demokratische Revolution zu vollenden? Leider ist der Bericht dieser Aprilkonferenz bis heute noch nicht veröffentlicht, obwohl es in der Geschichte unserer Partei kaum einen Parteitag gab, der für das Schicksal der Revolution von einer so einzigartigen und unmittelbaren Bedeutung gewesen wäre, wie diese Aprilkonferenz des Jahres 1917.

Der Standpunkt Lenins war: Unversöhnlicher Kampf gegen die Vaterlandsverteidigung und ihre Anhänger, Eroberung der Mehrheit in den Sowjets, Sturz der Provisorischen Regierung, Eroberung der Macht durch die Sowjets, revolutionäre Friedenspolitik, ein Programm des sozialistischen Umsturzes innerhalb und der internationalen Revolution außerhalb des Landes.“

Die erste Koalitionsregierung und der Junikongress der Sowjets

Vor dem April – und mit der Ausnahme von Kerenski, der im März der Provisorischen Regierung als Justizminister beigetreten war – hatte die Versöhnlerführung (SR und Menschewiki) der Sowjets versucht, die Macht der Sowjets preiszugeben, ohne offen in die bürgerliche Regierung einzutreten. Anfang Mai wurde die erste Koalitionsregierung gebildet. Kerenski (der sich den SR nach der Februarrevolution angeschlossen hatte) wurde Kriegsminister. Menschewiki und Sozialrevolutionäre übernahmen ebenfalls Ministerposten in der Provisorischen Regierung. Das war ein politischer Verrat an der Massenbasis der Sowjets, doch er ergab sich wie von selbst aus der ganzen politischen Grundlage der Versöhnler. So schreibt Trotzki in Lehren des Oktober:

„Tatsächlich hatten die menschewistischen Grünschnäbel lange Jahre hindurch stets davon geplappert, daß die künftige Revolution eine bürgerliche sein werde, daß die Regierung der bürgerlichen Revolution nur bürgerliche Aufgaben werde erfüllen können, daß die Sozialdemokratie die Aufgaben der bürgerlichen Demokratie nicht übernehmen können und gezwungen sein werde, ,die Bourgeoisie nach links zu drängen‘ und selbst in Opposition zu verbleiben. Mit einem besonders ermüdenden Tiefsinn hat Martynow dieses Thema entwickelt. Bei Ausbruch der bürgerlichen Revolution des Jahres 1917 befanden sich die Menschewiki sehr bald in der Regierung. Von ihrem ganzen ,prinzipiellen‘ Standpunkt blieb nur jene politische Schlußfolgerung übrig, daß das Proletariat sich nicht an die Macht heranwagen darf.“

Am 1. Mai stimmte die Führung des Petrograder Sowjets dafür, der Koalitionsregierung beizutreten. Als Geste an die Massen wurde Miljukow am nächsten Tag gezwungen, als Außenminister zurückzutreten. (In seiner Geschichte erwähnt Trotzki den Vorschlag eines SR-Führers zur Entschärfung der durch Miljukows Brief ausgelösten Krise: „Tschernow fand einen genialen Ausweg, indem er Miljukow vorschlug, in das Ministerium für Volksbildung überzugehen. Als Objekt der Geographie war Konstantinopel jedenfalls ungefährlicher denn als Objekt der Diplomatie.“) Miljukows Rücktritt war nur ein Beschwichtigungsmittel für die Massen, da die Regierung weiterhin die Politik der Bourgeoisie betrieb, vor allem was den Krieg betrifft.

Am 3. Juni begann die erste Allrussische Konferenz der Sowjets. Um eine Vorstellung von den Massen zu geben, die von den Sowjets repräsentiert wurden, schreibt Trotzki in seiner Geschichte: „Beschließende Stimme hatten Sowjets, die mindestens 25 000 Menschen vertraten. Sowjets, die 10 000–25 000 vereinigten, hatten beratende Stimme.“ Doch nicht die Fabriken und Kasernen hatten die Kontrolle, sondern vielmehr die Versöhnler, die im Mai in die erste Koalitionsregierung eintraten. Eine der „Errungenschaften“ dieses Kongresses bestand darin, einer neuen Offensive gegen die deutschen Streitkräfte formal zuzustimmen. Dieser unselige Plan, den Kerenski erstellt hatte, war in Wirklichkeit eine Abschlagzahlung der russischen Bourgeoisie an die Entente für die massiven Kredite Britanniens und Frankreichs. Es ist zweifelhaft, ob irgendein Mitglied der russischen Bourgeoisie an einen Erfolg dieser militärischen Offensive glaubte. Wie Trotzki in seiner Geschichte ausführt:

„Der amerikanische Journalist John Reed, der zu sehen und zu hören verstand und der ein unsterbliches Chronikbuch über die Tage der Oktoberrevolution hinterlassen hat, sagt geradeheraus, daß ein großer Teil der besitzenden Klassen in Rußland den Sieg der Deutschen einem Triumph der Revolution vorzog und sich nicht genierte, dies offen auszusprechen. ,Ich hatte einmal Gelegenheit‘, erzählt Reed unter anderen Beispielen, ,einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns zu verbringen; beim Teetisch saßen elf Menschen. Der Gesellschaft wurde die Frage gestellt, wen sie vorzögen, Wilhelm oder die Bolschewiki? Zehn von elf entschieden sich für Wilhelm.‘“

Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte gewesen, dass die Bourgeoisie defätistisch wurde – siehe die Pariser Kommune. Im Gefolge der französischen Niederlage im französisch-preußischen Krieg ergriffen die Arbeiter in Paris die Macht, um die Stadt zu verteidigen. Thiers und all die großen französischen Patrioten wandten sich daraufhin mit der Bitte einzugreifen an Bismarck, ihren Feind von gestern. Mit Unterstützung der Preußen ließ man die bürgerliche französische Armee Paris zuerst beschießen und dann einnehmen. Bei der anschließenden Repression wurden Zehntausende von Kommunarden und Arbeitern entweder an Ort und Stelle hingerichtet oder eingekerkert. Und man beachte, dass 1917 die Zerschlagung der Kommune von 1871 gar nicht so lange her war – weniger als die Zeitspanne, die uns heute vom Ende des Zweiten Weltkriegs trennt.

Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses

Im Juni gaben die Bolschewiki einen Aufruf zu einer Demonstration heraus, während der Sowjetkongress tagte. Der sollte kein Aufruf zum Aufstand sein, obgleich den Anstoß dazu die militärische Organisation der Bolschewiki gab. Egal, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hielten ihn dafür, weil sie wussten, dass sich die Petrograder Massen den Bolschewiki annäherten. Sie benutzten ihre Position an der Spitze des Zentral-Exekutivkomitees des Sowjets, um eine Resolution zu verabschieden, die für drei Tage jegliche Demonstrationen verbot. Der Sowjetkongress schickte Delegierte in die Arbeiterviertel – in den Worten von Trotzki: „Man ließ den Berg nicht zu den Propheten kommen, also mußten die Propheten zum Berge gehen.“

Weil sie keinen direkten Angriff auf den Sowjet wünschten, gaben die Bolschewiki nach. Doch wie Trotzki bemerkt, begegnete man den Emissären der Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit Verachtung und Feindseligkeit. Ein Beispiel aus der Geschichte: „Die Arbeiter des Putilow-Werkes erklärten sich erst dann bereit, den Aufruf des Kongresses gegen die Demonstration anzuschlagen, nachdem sie sich aus der âPrawda‘ überzeugt haben würden, daß er dem Beschluß der Bolschewiki nicht widersprach.“ Diese Reaktion war noch vergleichsweise gemäßigt. Anderswo wurde die Entscheidung der Bolschewiki nicht so ohne weiteres akzeptiert:

„Die Massen unterwarfen sich dem Beschluß der Bolschewiki. Doch vollzog sich die Unterwerfung keinesfalls ohne Proteste und sogar Empörung. In einigen Betrieben wurden Resolutionen angenommen, die dem Zentralkomitee eine Mißbilligung aussprachen. Die hitzigsten Parteimitglieder in den Bezirken zerrissen ihre Mitgliedskarten. Das war eine ernste Warnung.“

Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre wollten Blut sehen – Vorzeichen einer Entwicklung, die nur ein paar Wochen später eintreten sollte. Am 10. Juni erklärte die Zeitung der Menschewiki: „Es ist Zeit, die Leninisten als Abtrünnige und Verräter der Revolution zu brandmarken“ (zitiert in Trotzkis Geschichte). Am nächsten Tag forderte der Führer der Menschewiki Zeretelli, die Bolschewiki zu entwaffnen. Was er in Wirklichkeit meinte, war die Entwaffnung der Arbeiter. Trotzki brachte es auf den Punkt: „Mit anderen Worten, es rückte jener klassische Moment der Revolution heran, wo die bürgerliche Demokratie auf Geheiß der Reaktion die Arbeiter entwaffnen möchte, die den Sieg der Umwälzung gesichert hatten.“ Später stellt Trotzki fest: „Die Versöhnlerpolitik zum glücklichen Ende, das heißt zur Errichtung der parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie zu führen, war nicht anders möglich als durch Entwaffnung der Arbeiter und Soldaten.“

Die Menschewiki entschlossen sich zu einem öffentlichen Kräftemessen bei einer Demonstration am 18. Juni. Die Demonstration sollte eine Wiederholung der friedlichen Prozession zu Ehren der Märtyrer des Februar sein. Damals waren etwa 800 000 gekommen. Diesmal demonstrierten halb so viele, doch die kamen überwiegend aus den Fabriken und Kasernen. In seiner Geschichte schildert Trotzki den Aufmarsch:

„Die ersten bolschewistischen Parolen wurden halb ironisch aufgenommen. Hatte doch Zeretelli am Vorabend seine Herausforderung so zuversichtlich hingeworfen. Doch die gleichen Parolen wiederholten sich fortwährend. ,Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten‘, ,Nieder mit der Offensive‘, ,Alle Macht den Sowjets‘, das ironische Lächeln erstarrte auf den Gesichtern, um später völlig zu verschwinden. Die bolschewistischen Banner nahmen kein Ende. Die Delegierten gaben das undankbare Zählen auf. Der Sieg der Bolschewiki war zu offensichtlich…

Ein Betrieb trug das Plakat: ,Das Recht auf Leben steht über dem Recht auf Privatbesitz.‘ Diese Losung war von keiner Partei diktiert worden.“

Trotzki fährt fort: „Die Demonstration vom 18. Juni übte einen gewaltigen Eindruck auf ihre Teilnehmer aus. Die Massen erkannten, daß der Bolschewismus eine Macht geworden war, und die Schwankenden fühlten sich von ihm angezogen.“ Der Gegensatz zwischen der zunehmenden Stärke der Bolschewiki und der schwindenden Autorität der Menschewiki/SR-Führung des Sowjets sollte kennzeichnend sein für die gesamte Periode vor der Oktoberrevolution.

Die Julitage

Interessanterweise hatten die Bolschewiki in dem Zeitraum von Februar bis Juni eine so gut wie ununterbrochene Zunahme ihres Einflusses in der Arbeiterklasse und ebenso bei der Petrograder Garnison zu verzeichnen. Revolutionen verlaufen selten mit einem derart nahtlosen Übergang, und Russland 1917 war keine Ausnahme. Die Kräfte der Konterrevolution waren überhaupt noch nicht erledigt, und die herrschende Klasse wollte Rache für die Demütigung bei der Juni-Demonstration.

Die Demonstration vom 18. Juni zeigte deutlich, dass die Bolschewiki bei der Basis in den Fabriken und bei einigen der Garnisonen von Petrograd inzwischen die Mehrheit oder nahezu die Mehrheit hatten. Es war keineswegs ausgemacht, dass dies auch auf die Provinzen oder auf die Front zutraf. Die Auswirkungen der von Kerenski am 16. Juni angeordneten Offensive – eines ganz und gar vorhersehbaren Debakels – mussten erst noch in ihrem ganzen Ausmaß bekannt werden. Doch in Petrograd hatten die Massen den Siedepunkt erreicht. Alles war im Zusammenbruch begriffen, auch das Transportwesen und die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Brennstoff. Die Februarrevolution war durch das Verlangen der Massen ausgelöst worden, sowohl die Romanow-Dynastie loszuwerden als auch den Krieg zu beenden – doch einige Monate später wütete der mörderische Krieg immer noch.

Die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli waren nicht weit von einem Aufstand entfernt. Soldaten, die regimentsweise mitmarschierten, widersetzten sich den Versuchen bolschewistischer Redner, die Demonstration vom 3. Juli in Grenzen zu halten, und riefen „Nieder! Nieder!“ Wie Trotzki in seiner Geschichte ausführt: „Solche Rufe hatte der bolschewistische Balkon von den Soldaten noch nicht vernommen, und das war ein bedrohliches Anzeichen. Hinter dem Rücken der Regimenter tauchten die Betriebe auf: ,Alle Macht den Sowjets!‘, âNieder mit den zehn Minister-Kapitalisten!‘ Das waren die Banner des 18. Juni. Aber jetzt waren sie von Bajonetten umgeben.“ Die Bolschewiki hatten versucht, die Massen zurückzuhalten, waren dazu jedoch nicht imstande. Trotzki bemerkte: „Das Komitee ist immer häufiger gezwungen, Agitatoren zu Truppenteilen und Betrieben auszusenden, um von vorzeitigen Aktionen zurückzuhalten. Verlegen die Köpfe schüttelnd, beklagen sich die Wyborger Bolschewiki im eigenen Kreise: ,Wir müssen Feuerwehr spielen.‘“

Die aufständische Stimmung der Arbeiter und Soldaten wurde von Trotzki in seiner Schilderung ihrer militärischen Vorbereitungen festgehalten: „Am Morgen des 3. Juli wählten einige tausend Maschinengewehrschützen, nachdem sie die Versammlung der Kompanie- und Regimentskomitees ihres Regiments gesprengt hatten, einen eigenen Vorsitzenden und verlangten sofortige Beratung der Frage über ein bewaffnetes Auftreten.“ Trotzki fährt fort:

„Im Kasernenhof ging eine nicht minder heiße Arbeit. Waffenlose Soldaten versorgte man mit Gewehren, manche mit Bomben, auf jedes Lastauto, das von den Betrieben geliefert wurde, stellte man drei Maschinengewehre mit Bedienung. Das Regiment sollte auf der Straße in Kampfordnung erscheinen…

Der längste Kampf ging um das Putilowwerk. Gegen 2 Uhr mittags verbreitete sich in den Abteilungen die Nachricht, eine Delegation des Maschinengewehrkommandos sei erschienen und rufe zu einem Meeting. Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor. Unter Beifallsrufen berichteten die Maschinengewehrschützen, sie hätten den Befehl erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, ,nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Minister-Kapitalisten‘.“

Raskolnikow, ein Unterleutnant zur See und Bolschewik, telefonierte verzweifelt mit dem Parteihauptquartier um Rat, da die Kronstädter Matrosen entschlossen waren, mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen. Nach anfänglichem Widerstand gegen die Demonstration gab die bolschewistische Führung nach. Anstatt die Massen führerlos zu lassen, zogen die Bolschewiki lieber mit den Demonstranten in den Kampf, um bei einem geordneten Rückzug die Führung zu stellen.

Die Julitage verkörpern die letzten Nachwehen der Februarrevolution und einen Vorgeschmack des Oktobers. Alle gegensätzlichen Klassen waren in Alarmbereitschaft, und die Konterrevolution schreckte vor einem Kampf nicht zurück. Während sich bei den Demonstrationen vom 3. und 4. Juli die Macht der bewaffneten Arbeiter und Soldaten zeigte, machten diese keinen Versuch zur Ergreifung der Staatsmacht. Die Versöhnlerführung der Sowjets wetterte gegen die Massen, die sich für „Alle Macht den Sowjets!“ ausgesprochen hatten. Trotzki schreibt:

„Die Versöhnler warteten auf zuverlässige Regimenter. ,In den Straßen ist revolutionäres Volk‘, sprach [der Menschewik] Dan, ,aber dieses Volk verrichtet eine konterrevolutionäre Sache …‘ Dan wird unterstützt von Abramowitsch, einem der Führer des jüdischen Bundes, einem konservativen Pedanten, dessen sämtliche Instinkte durch die Revolution verletzt sind.“

Zu den „zuverlässigen“ Truppenteilen, auf die die Regierung und die Sowjetführer zählten, gehörten die Kosaken; im August sollte Kerenski an den Kosakengeneral Kornilow appellieren, ein Kavalleriekorps nach Petrograd zu entsenden.

Die Welle des Beinahe-Aufstands brach zusammen, in manchen Fällen kam es zu Zusammenstößen mit Regierungstruppen. Die revolutionäre Welle machte schnell einer konterrevolutionären Kampagne Platz, die Bolschewiki in den Untergrund zu treiben. Trotzki wurde verhaftet; Lenin versteckte sich. Lenin verstand, wie wichtig es war, die zentralen bolschewistischen Kader zu erhalten. Seit 1914 wusste Lenin, dass die Sozialdemokraten, die „ihre“ jeweilige Bourgeoisie im Krieg unterstützten, Agenten des Klassenfeindes waren und nicht irregeleitete Genossen. Dieses weitsichtige Verständnis wurde im Oktober 1917 in Russland positiv bestätigt und tragischerweise während des von den deutschen Sozialdemokraten entfachten konterrevolutionären Terrors nach dem Spartakusaufstand in Berlin im Januar 1919 durch die Morde an Liebknecht und Luxemburg negativ bestätigt.

Die Julitage warfen ein grelles Schlaglicht auf die Instabilität der Doppelherrschaft, die aus der Februarrevolution hervorgegangen war. Entweder würde die Bourgeoisie mit Hilfe ihrer unterwürfigen menschewistischen und sozialrevolutionären Agenten die Sowjets zugunsten irgendeines bürgerlichen Parlamentes – in Wirklichkeit ein Befehlsempfänger einer Militärdiktatur – auflösen oder die Arbeiter würden die Staatsmacht erobern. Letzteres könnte über die Sowjets geschehen oder vielleicht auch über die Fabrikkomitees der organisierten Arbeiter – Lenin blieb offen für die Organisationsform, zumal die Sowjets unter der Führung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre eher ein Hindernis als eine Unterstützung für die proletarische Revolution darstellten.

Die auf die Julitage folgende Repression gegen die Bolschewiki war kurzlebig. Die Partei erholte sich, und die Arbeiter und Soldaten scharten sich wieder um ihre Banner und ihre Führung. Dies sollte sich ganz deutlich zeigen, als die Bourgeoisie im August all ihre Hoffnung auf den Kosakengeneral Kornilow setzte. Dabei hatte sie sich verspekuliert. Kornilows Putsch scheiterte, und es war eine Partei notwendig, die entschlossen war, ihr revolutionäres Programm in die Tat umzusetzen, um sowohl Kornilow zurückzuschlagen als auch dem Bauernaufstand im Sommer eine proletarische Führung zu geben. Auch das bedeutete einen innerparteilichen Kampf. Die großen Ereignisse vom Herbst 1917 kennen wir unter dem Namen Oktoberrevolution, nicht Oktober-Evolution. Der Unterschied ist qualitativ und zeigt die Kluft zwischen dem Reformismus jeder Couleur und dem Bolschewismus, d. h. dem revolutionären Marxismus.

 

Spartakist Nr. 168

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Gérard Le Méteil 1959 — 2007

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