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Spartakist Nummer 196

Januar 2013

Volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben!

Die Arbeiterbewegung muss Flüchtlinge gegen Staats- und Naziterror verteidigen!

Nein zu Residenzpflicht, Isolationslagern!
Stoppt die Abschiebungen!

Im September 2012 machten sich Flüchtlinge aus dem Würzburger Flüchtlingslager zu Fuß auf den Weg ins 500 km entfernte Berlin, um auf ihre schreckliche Situation aufmerksam zu machen. Wenige Wochen zuvor hatte sich der iranische Flüchtling Mohammad Rahsepar das Leben genommen, ohne jede Hoffnung, dem Isolationslager zu entkommen und zu seiner Schwester in ein anderes Bundesland ziehen zu dürfen. Die Flüchtlinge fordern elementare Menschenrechte wie die Abschaffung der Residenzpflicht, Schließung der Isolationslager, Anerkennung aller Asylsuchenden als politische Flüchtlinge und ein Ende der Deportationen. Einige nähten sich den Mund zu und traten in Hungerstreik, um plastisch zu zeigen, wie schrecklich die Bedingungen ihrer Isolationshaft sind. Auf dem Marsch und auch noch heute, Wochen nachdem sie in Berlin ankamen, setzen ihnen nicht nur Kälte und Hunger zu, sondern faschistische Provokationen und vor allem die allgegenwärtigen Angriffe und die Verfolgung durch die Polizei und den gesamten bürgerlichen Staatsapparat.

Rassismus ist eine Peitsche, die die Bourgeoisie permanent einsetzt, um die Arbeiterklasse zu spalten und vom kapitalistischen Elend abzulenken. Gegenwärtig hat dies meist die Form von „Krieg gegen den Terror“, mit dem direkt Immigranten und Flüchtlinge terrorisiert und die Arbeiterbewegung insgesamt eingeschüchtert werden soll. Die organisierte Macht der Arbeiterbewegung muss dem frontal entgegentreten und mobilisieren, um Flüchtlinge zu verteidigen, die am wenigsten geschützten und schwächsten Glieder der Gesellschaft! Ihre elementaren Forderungen nach menschenwürdigen Lebensbedingungen müssen erfüllt werden! Die Gewerkschaften an den Flughäfen haben eine große soziale Macht, wie die Streiks des Vorfeldpersonals in Frankfurt/Main im Februar oder des Kabinenpersonals der Lufthansa im Sommer letzten Jahres zeigten. Diese soziale Macht zu mobilisieren, um Abschiebungen zu verhindern, wäre ein konkretes Beispiel, wie die Gewerkschaften Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft in die Tat umsetzen können.

Die heutige sozialdemokratische Gewerkschaftsführung ist jedoch ein Hindernis dafür. Sie ist der Klassenzusammenarbeit mit den Bossen verpflichtet und strebt daher danach, Streiks und andere Klassenkämpfe zu vermeiden, und, wenn das nicht geht, sie auf den engsten ökonomischen Rahmen zu begrenzen. In Wirklichkeit ist die Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen ein notwendiger Bestandteil der Verteidigung der Gewerkschaften selber. Gelingt es den Bossen, die multiethnische Arbeiterschaft durch Rassismus zu spalten, so ist die Kampfkraft der Gewerkschaften geschwächt. Dazu kommt, dass sich die Nazis aus dem Terror gegen Flüchtlinge, ethnische Minderheiten, Linke usw. nähren. Sie sind der Todfeind der Arbeiterbewegung, was auch die Naziangriffe am 1. Mai 2009 auf die DGB-Demo in Dortmund illustrieren. Es ist notwendig, die Naziaufmärsche durch Arbeiter/Immigranten-Mobilisierungen zu stoppen. Eine klassenkämpferische Führung der Gewerkschaften wird auch im Kampf darüber geschmiedet werden, die Arbeiterklasse für ihre breitesten Interessen zu mobilisieren.

In ihrem Hungerstreik-Camp vor dem Brandenburger Tor berichteten iranische und afghanische Flüchtlinge einer Spartakist-Reporterin, dass jeder von ihnen Freunde hatte, die sich das Leben nahmen. Ein Flüchtling mit Residenzpflicht in Bayern beschrieb, dass sich zwei seiner Freunde töteten, einer erhängte sich vor dem Rathaus in Mespelbrunn und lag zehn Tage im Koma. Bitter sprachen die Menschen im Camp über die Berichterstattung in den bürgerlichen Medien, die die Flüchtlinge angreift und nicht die Bedingungen, unter denen sie leben müssen: „Sie sagen, wir seien krank im Kopf, die Frau meines Freundes liegt im Krankenhaus, sie brach zusammen, nachdem ihr Mann Selbstmord beging, und die benutzen das um zu sagen, wir seien alle verrückt.“ Und die „Residenzpflicht“ bedeutet, dass es „nicht erlaubt ist, zu studieren oder Deutsch zu lernen, man kann nur dasitzen und warten in einem kleinen Raum, den man mit drei anderen Leuten teilt, man sitzt und schaut aus dem Fenster, lange Zeit, und wartet, bis die Regierung eine Entscheidung trifft.“

Breite öffentliche Empörung wurde ausgelöst, weil die Polizei auf Anweisung von Innensenator Henkel (CDU) immer wieder bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt Decken, Schlafsäcke, Matten und Zelte der Flüchtlinge konfiszierte; eine besonders brutale Aktion gab es mitten in der Nacht vom 28. Oktober. Dies wurde als „Wärmeverbot“ bekannt, solch rassistischer Sadismus erinnert an Aktionen von KZ-Wächtern. Demonstranten und Hungerstreikende berichteten von Festnahmen und Misshandlungen durch die Polizei, wenn Menschen solch lebenswichtige Utensilien nicht hergeben wollten. Aus vielen Teilen der Berliner Bevölkerung kamen Essen- und Kleiderspenden. Das Büro des Innensenators Henkel antwortete am 7. Dezember auf einen Protestbrief des KfsV (siehe Seite 2), „Zelte und Pavillons seien nicht als Bestandteil der geschützten Versammlung anzusehen. Diese dienten lediglich der Bequemlichkeit der Teilnehmer“, und verwies auf Wärmebusse, die am Brandenburger Tor bereitstünden. Abgesehen davon, dass diese zynische Antwort den Demonstranten jede Menschenwürde abspricht, hatte die Polizei bereits am Abend des 30. Novembers den Wärmebus der Flüchtlinge versetzt, um Platz zu machen für einen riesigen Weihnachtsbaum, der dann schwerbewaffnet bewacht wurde. Damit der Bus nicht mehr „bewegt“ werden konnte, wurden Kabel durchgeschnitten. Wie der Sender rbb berichtete: „Die teilweise im Hungerstreik befindlichen Flüchtlinge haben zwar weiter Zugang zu dem Reisebus – allerdings funktioniert nun die Heizung nicht mehr.“

Inzwischen haben die Flüchtlinge aus den Camps am Brandenburger Tor und am Kreuzberger Oranienplatz sowie ihre Unterstützer eine ehemalige Schule besetzt, die seit zwei Jahren leer steht. Gnädig erlaubte Bezirksbürgermeister Schulz (Grüne) die Nutzung bis kommenden März. Aber der grausame tagtägliche Alptraum von Flüchtlingen in diesem Land geht unvermindert weiter. Am Montag, den 10. Dezember wurden acht Serben aus Berlin abgeschoben. In der Woche zuvor versuchte ein 26jähriger Flüchtling aus Liberia, sich durch das Schlucken von Medikamenten und Reinigungsmitteln einen Tag vor seiner Abschiebung das Leben zu nehmen.

Der Flüchtlingsmarsch und die Tent-Action-Proteste fielen mit dem schrecklichen Jahrestag des staatlich organisierten Pogroms in Rostock-Lichtenhagen zusammen. Nach der Konterrevolution in der DDR und der kapitalistischen Wiedervereinigung Deutschlands führte die deutsche Bourgeoisie eine rassistische Hetzkampagne gegen das bis dahin geltende Asylrecht, um die Flüchtlinge zu Sündenböcken für die stark ansteigende Massenarbeitslosigkeit zu erklären. Im Verlauf dieser Kampagne kam es zu den Pogromen von Hoyerswerda 1991 und Rostock, sowie den Nazi-Brandmorden von Mölln 1992 und Solingen 1993. Während die Kapitalisten und ihre Treuhand die DDR-Industrie zerschlugen und Abermillionen Arbeitsplätze vernichteten, gaben der bürgerliche Staat und seine Medien den Nazis die Stichworte, und die führten die Terroraktionen aus.

Jetzt sind wieder die Roma aus den Staaten des früheren Jugoslawien das Ziel der bürgerlichen Hetze und werden erneut als Freiwild auserkoren. Als Volk ohne Staat symbolisiert ihre Geschichte die Verfolgung aller Staatenlosen. Gerade erst ermahnte Berlins Innenstaatssekretär Krömer „alle abgelehnten Asylbewerber aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, freiwillig zurückzukehren, um einer zwangsweisen Abschiebung zu entgehen“ (Tagesspiegel, 11. Dezember)!

Am 24. Oktober wurde in Berlin zwischen Reichstag und Brandenburger Tor das Mahnmal für den Holocaust an den Sinti und Roma eingeweiht – nach 20 Jahren elendig langer Planungen und Diskussionen darüber. Für Kanzlerin Merkel jetzt jedoch eine willkommene Gelegenheit, das Ansehen des deutschen Imperialismus in der Welt etwas aufzupeppen. Aber die Flüchtlinge vom Camp am Brandenburger Tor waren unerwünscht. Einer von ihnen erklärte uns, dass sie gemeinsam mit den Roma teilnehmen wollten, aber die Polizei dies nach einigem Hin und Her definitiv verbot. Daraufhin meldeten sie eine getrennte Demo an und riefen zum Hungerstreik auf.

Schleswig-Holsteins Koalitionsregierung aus SPD/Grünen und Südschleswigschem Wählerverband setzte im November eine Verfassungsänderung durch, um Sinti und Roma als nationale Minderheit anzuerkennen: „Die nationale dänische Minderheit, die Minderheit der deutschen Sinti und Roma und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.“ Die Anerkennung von Sinti und Roma als nationale Minderheit 70 Jahre nach dem Völkermord an ihnen ist mehr als überfällig. Nur schützt diese in keiner Weise die Roma, die keinen deutschen Pass haben, vor der alltäglichen Diskriminierung und der Verfolgung durch den Staat, auch in Schleswig-Holstein, einschließlich ihrer Abschiebung. Eine zentrale Forderung der Arbeiterbewegung muss sein: Volle Staatsbürgerrechte für alle, die hier leben!

Wir begrüßen jegliche Verbesserung, wie klein auch immer, die Flüchtlinge oder Minderheiten durch ihre Kämpfe der Bourgeoisie entreißen können. Aber es ist eine Illusion, dass Verhandlungen mit kapitalistischen Regierungen oder sozialdemokratischen oder bürgerlich-liberalen Politikern die Situation von Flüchtlingen oder auch von Immigranten auf Dauer oder sogar qualitativ verbessern können. Nur die soziale Macht der integrierten Arbeiterklasse kann das tun, wenn sie an der Spitze aller Unterdrückten in dieser Gesellschaft mobilisiert wird.

Seit 2009 wurde in vielen Bundesländern die verhasste und quälende Residenzpflicht „reformiert“. Heute halten von den Flächenländern nur noch Bayern, Thüringen und Sachsen unverändert an der alten Regelung von 1982 fest, die Flüchtlingen verbot, sich weiter als 30 km zu entfernen. In Bayern endet die Residenzpflicht seit kurzem an der Landkreisgrenze. Ganz kürzlich änderte auch Hessen die Auflagen dahingehend, dass sich Flüchtlinge innerhalb des Bundeslandes bewegen dürfen, oder im Fall von Berlin und Brandenburg auch zwischen diesen Ländern. Grundlegend bestehen bleibt die vollständige Reglementierung des Lebens von Flüchtlingen auf Schritt und Tritt, nur der Rahmen hat sich etwas erweitert, insofern als sich die permanenten Kontrollmöglichkeiten des Staates erweitert haben.

Die Flüchtlinge können diese minimalen Verbesserungen als einen Erfolg ihrer Proteste verbuchen. Nur braut sich schon wieder ein Unwetter über allen Flüchtlingen in der EU zusammen. Am 26. April 2012 verabschiedeten die Innenminister der EU eine sogenannte „Aufnahmerichtlinie“, die jetzt dem EU-Parlament vorliegt. Diese „Richtlinie“ ist ein Katalog zur absolut willkürlichen Inhaftierung von Flüchtlingen zur „Beweissicherung“ oder wegen der „verspäteten Asylantragstellung“, der „Gefahr des Untertauchens“ und natürlich mit dem absoluten Gummiparagraphen der Gefahr für „nationale Sicherheit und Ordnung“. Auch Kinder und Jugendliche dürfen nach diesen Kriterien in Haft genommen werden. Da werden unter EU-Recht dann einfach noch schärfere Richtlinien erlassen, um überhaupt keine Flüchtlinge mehr in die EU zu lassen und insbesondere nicht nach Deutschland. Nieder mit der rassistischen Festung Europa! Nieder mit der imperialistischen EU! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

Die Grünen geben sich als liberale Freunde der Flüchtlinge. Was aber die Heuchelei der Grünen am offensten enthüllt, sind die Taten der SPD/Grünen-Regierung von Schröder und Fischer, die sich lügnerisch auf „Menschenrechte“ berief, um den ersten deutschen Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg durchzusetzen und sich 1999 an der Bombardierung Serbiens zu beteiligen. Die insbesondere vom deutschen Imperialismus betriebene Konterrevolution und Aufspaltung des deformierten Arbeiterstaats Jugoslawien führte zu endlosen nationalistischen Schlächtereien und diese dienten den Imperialisten als Vorwand für ihre Intervention und die weitere Besetzung von Gebieten. Die Pogrome gegen Roma halten bis zum heutigen Tag an (siehe auch „Verhindert Abschiebungen von Roma in den Kosovo!“, Spartakist Nr. 184, Juli 2010).

Gregor Gysi und andere Führer der Linkspartei besuchten publikumswirksam die Tent Action. Sicher ist es im Interesse der Flüchtlinge, möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten und nicht völlig isoliert den Schikanen der Polizei ausgesetzt zu sein. Aber Unterstützer der Linkspartei, die wirklich für die Rechte der Flüchtlinge kämpfen wollen, müssen sich klarmachen: Rassismus gegen Flüchtlinge und Immigranten ist ein untrennbarer Bestandteil des bürgerlichen Staates, eine Methode der kapitalistischen Herrscher, die Arbeiterklasse zu spalten und zu lähmen. Die Linkspartei aber will teilnehmen an der Verwaltung des kapitalistischen Staates und tat es schon oft genug. Deshalb ist sie grundlegend ein Hindernis für jegliche wirkliche Verbesserung der Lage der Flüchtlinge! Unter dem „rot-roten“ Senat gab es jede Menge Abschiebungen und der berüchtigte Abschiebeknast in Grünau existierte unangefochten weiter. Der neue Berlin International Airport ist noch lange nicht fertig, da nicht sicher genug für die Passagiere, aber der Abschiebeknast auf dem Flughafengelände ist schon in Betrieb! Und die Planung dafür lief unter dem SPD-Linkspartei-Senat.

Es ist ein Prinzip der Kommunisten seit ihren Ursprüngen, für die Mobilisierung der Arbeiterbewegung zu kämpfen, um Flüchtlinge und andere besonders unterdrückte Teile der Gesellschaft zu verteidigen. Das gehört zu unserem Kampf, die Unterdrückten dieser Welt hinter der Arbeiterklasse zu vereinen auf dem Weg, den Kapitalismus zu stürzen und die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen. Unsere Genossen in der jungen revolutionären Sowjetunion, nach der Oktoberrevolution von 1917, betrachteten alle Werktätigen, die auf sowjetischem Territorium lebten, als Staatsbürger, ungeachtet ihrer nationalen Herkunft. Das ist die stolze Tradition unserer internationalen Partei, und wir setzen sie fort.

 

Spartakist Nr. 196

Spartakist Nr. 196

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