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Spartakist Nummer 186

Januar 2011

Spartakist-Jugend

Nick Brauns und RIO über Türkei, Kurdistan:

Wasserträger für Linkspartei-Reformismus und PKK-Nationalismus

Für eine Sozialistische Republik Vereinigtes Kurdistan!

Am 6. Oktober 2010 veranstalteten Nick Brauns und die Gruppe RIO (Revolutionäre Internationalistische Organisation, ehemals Revo) in Berlin eine Diskussion „über die politische Krise in der Türkei, die ArbeiterInnenbewegung, die kurdische Frage und revolutionäre Perspektiven“. Mit ihren Erdölpipelines und der größten NATO-Armee in Europa ist die kapitalistische Türkei sowohl Handlanger als auch wertvolle Beute der Imperialisten. Militärisch den USA untergeordnet und ökonomisch vom deutschen Imperialismus abhängig, vertritt sie deren Interessen im Nahen Osten. Seit Mitte der 1980er-Jahre führt die türkische Armee, unterstützt und bewaffnet von den USA und Deutschland, Krieg gegen die kurdische Minderheit, in dessen Verlauf etwa 37 000 Menschen getötet und Tausende Dörfer niedergebrannt wurden. Bei der Verfolgung der Kurden, von denen viele als Arbeiter in Europa leben, spielt der deutsche Imperialismus eine Schlüsselrolle, der 1993 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und über 35 kurdische Vereine in Deutschland verbot. Nach wie vor sind Kurden hier scharfer Repression ausgesetzt (siehe „Stoppt die Abschiebung von Leyla!“, Seite 3).

Genossen der Spartakist-Jugend intervenierten bei der Veranstaltung und zeigten unsere Perspektive des Kampfes für Arbeiterrevolution von Diyarbakir bis Duisburg auf. Da die kurdische Nation auf vier kapitalistische Staaten aufgeteilt ist – die Türkei, Syrien, Irak und Iran –, ist die Erringung der kurdischen nationalen Unabhängigkeit nur möglich im Rahmen des Kampfes für die Sozialistische Föderation des Nahen Ostens. Nick Brauns sieht dies anders und gab mit seinem Referat den Ton der Veranstaltung an. Sein Ausgangspunkt war die Unterdrückung der Kurden seit den 1920er-Jahren, als Hunderttausende vertrieben wurden. Aber er beschönigte durchweg das Programm ihrer heutigen kleinbürgerlich-nationalistischen Führung, der PKK. Er argumentierte entlang seinem neuen Buch PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam. Dort schreibt er:

„So wichtig eine kritische Auseinandersetzung mit Programmen der PKK und Äußerungen ihrer Führer ist, darf diese Bewegung dennoch nicht allein danach beurteilt werden. ,Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme‘ – diese Feststellung von Karl Marx aus dem Jahr 1875 gilt umso mehr für eine Organisation wie die PKK, die in einem politischen Umfeld agiert, in dem geschriebene Theorie wenig gilt und eine Bewegung nach ihrer tatsächlichen Wirkung und Praxis beurteilt wird.“

Dieses Zitat von Marx wurde schon von unzähligen Reformisten aus dem Zusammenhang gerissen und so für ihren Zweck verfälscht. Marx argumentierte damit 1875 gegen das Gothaer Programm der Sozialdemokratie, das nur „gesetzliche Mittel“ vorsah und jeglichen Klassencharakter des bürgerlichen Staates verschwieg. Die „Bewegung“, von der Marx sprach, war eine proletarische Bewegung, die sich gegen solche Einschränkungen richtete! Was jedoch die PKK betrifft, ist sowohl ihre „Bewegung“ als auch das Programm, auf dem sie basiert, eine Sackgasse für kurdische Militante.

Die PKK hat seit 1984 einen zum Teil heldenhaften militärischen Kampf gegen die weit besser ausgerüstete türkische Armee geführt und so Massenunterstützung unter der kurdischen Bevölkerung in Kurdistan und den städtischen Zentren der Türkei und Westeuropas erlangt. Jedoch stand sie einer Klassenkampfperspektive feindselig gegenüber, d. h. dem Programm, die türkischen Arbeiter vom türkischen Nationalismus zu brechen und für die kurdische Unabhängigkeit zu gewinnen, um vereint mit den kurdischen Arbeitern gegen den gemeinsamen Klassenfeind, die türkische Bourgeoisie und ihre imperialistischen Paten – Deutschland und die USA –, für Arbeiterrevolution zu kämpfen. Stattdessen bestand die PKK-Strategie darin, mittels des Guerillakrieges an den Verhandlungstisch mit der türkischen Bourgeoisie zu gelangen und dort Zugeständnisse im Rahmen des Kapitalismus zu ertrotzen, der von ihr ausdrücklich akzeptiert wird. Da ihre Perspektive nicht mit einem Kampf für die proletarische Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern verbunden ist, hat die PKK immer wieder versucht, auf die westlichen „demokratischen“ Imperialisten Druck auszuüben, damit diese das türkische NATO-Mitglied dazu bringen, Zugeständnisse zu machen.

Mit der Konterrevolution im degenerierten Arbeiterstaat Sowjetunion und in den deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas haben sich die Angriffe auf die Arbeiter und alle unterdrückten Völker enorm verschärft. Die Türkei bekam nach der kapitalistischen Wiedervereinigung vom deutschen Imperialismus ehemalige DDR-Panzer geschenkt, mit denen dann Tausende kurdische Dörfer zerstört wurden. Die Zerstörung der Sowjetunion als Schutzmacht brachte die PKK dazu, den Kampf für Unabhängigkeit aufzugeben und stattdessen eine „kurdische Intifada“ für „Selbstverwaltung“ innerhalb einer „demokratischen Türkei“ zu propagieren – was Brauns in seinem Referat nur „folgerichtig“ fand. Dieser Strategie von Brauns zur Versöhnung mit dem Kapitalismus stellte ein Genosse der Spartakist-Jugend unsere leninistisch-trotzkistische Perspektive entgegen:

„Wir verteidigen die PKK natürlich gegen den bürgerlichen Staat – das ist die Vorbedingung jeder Kritik; aber wir geben ihr keine politische Unterstützung. Nick Brauns dagegen streut kurdischen Militanten Sand in die Augen. Die PKK tritt nicht mal mehr für ‚Sozialismus in einem Viertel Land‘ ein und appelliert offen an die imperialistische EU und die türkische Bourgeoisie. Die einzige Lösung ist eine Sozialistische Republik Vereinigtes Kurdistan – das erfordert sozialistische Revolution in vier Ländern.“

In Bezug auf die Türkei und andere ökonomisch rückständige Länder treten wir für Trotzkis Programm der permanenten Revolution ein, „dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen“ (Leo Trotzki, Die permanente Revolution, 1930). Dafür müssen revolutionäre trotzkistisch-leninistische Arbeiterparteien im Nahen Osten als Teil der wiederzuschmiedenden Vierten Internationale aufgebaut werden. Wie der Genosse weiter ausführte:

„Schlüssel dafür ist, türkische Arbeiter für die Verteidigung der Kurden und für deren Unabhängigkeit zu gewinnen. Darin liegt auch die Verbindung zu Deutschland: Kurdische und türkische Arbeiter hier sind strategischer Bestandteil der Arbeiterklasse und können eine Brücke zu den Kämpfen in der Türkei sein. Hier ist es notwendig, einen politischen Kampf gegen die Sozialdemokratie und für eine revolutionäre Partei zu führen, auch gegen Nick Brauns’ Arbeitgeber, die Linkspartei-Fraktion im Bundestag. Die Linkspartei schürt Illusionen in eine ,bürgerlich-demokratische‘ Lösung mittels der EU. Der SPD/Linkspartei-Senat in Berlin schiebt unterdessen Immigranten ab und seine Bullen terrorisieren kurdische Aktivisten. Man darf nicht vergessen, dass Sarrazin sieben Jahre lang Einpeitscher dieses Senats war. Notwendig ist ein Bruch mit dem Reformismus, ob SPD oder Linkspartei, für eine revolutionäre multiethnische Arbeiterpartei.“

Ganz sozialdemokratischer „Realpolitiker“, rechtfertigte Brauns die Politik der „klassenübergreifenden Zusammenarbeit“: Diese sei „von den Verhältnissen diktiert“, da PKK-nahe Parteien wie die BDP (Partei für Frieden und Demokratie) in Gestalt lokaler Regierungen des bürgerlichen Staates oft selbst die „Hauptarbeitgeber“ seien – dagegen streike man nicht. Als Mitarbeiter der Linkspartei-Bundestagsfraktion hilft Brauns, der sich als Berater der kurdischen Befreiungsbewegung aufspielt, seit Jahren mit, Kurden in Deutschland an den Reformismus der Linkspartei zu binden. Linkspartei und SPD sind bürgerliche Arbeiterparteien: Sie haben ihre Basis in der Arbeiterklasse, vertreten jedoch ein bürgerliches Programm, den Kapitalismus mitzuverwalten. Gerade weil sie von Zeit zu Zeit gegen einige „Auswüchse“ des Kapitalismus auftritt, ist die Linkspartei dann oft effektiver als die SPD, geschweige denn bürgerliche Parteien, um ihrer Arbeiterbasis die Angriffe der Kapitalisten reinzuwürgen und sie an die reaktionäre EU bzw. den deutschen Imperialismus zu ketten.

Brauns bezieht sich in seinem Buch positiv auf den Antrag der Linkspartei-Bundestagsfraktion von 2008, wo ihm zufolge gefordert wurde, „die friedliche Lösung der kurdischen Frage stärker ins Zentrum der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stellen“! Das ist ein Appell an den deutschen Imperialismus, der selbst eine führende Rolle bei der Verfolgung der Kurden spielt. Brauns kritisiert lediglich, dass dieser Antrag von der Linkspartei zurückgezogen wurde, da er auch die Forderung enthielt, die PKK und andere kurdische Organisationen nicht mehr als kriminelle Vereinigungen einzustufen So kapitulierte die Linkspartei feige vor einer Anti-PKK-Kampagne.

RIO hatte Brauns’ Politik bei der Veranstaltung außer vereinzeltem Murren nichts entgegenzusetzen. Auf dem Papier argumentiert sie für eine „Abgrenzung von allen bürgerlichen Kräften, egal ob AKP oder CHP“, betont die Bedeutung der Arbeiterklasse, kritisiert die Gewerkschaftsbürokratie, wendet sich gegen die Einbindung der Arbeiter als „JuniorpartnerInnen in einer bürgerlichen anti-imperialistischen Front“ und stellt fest, es fehle eine „revolutionäre Partei“. Wie hohl RIOs Forderung nach einer „gemeinsamen revolutionären Organisation der ArbeiterInnen aller Nationalitäten“ ist, zeigt RIO in einer gemeinsamen Erklärung mit Nick Brauns, in der sie an die PKK (kaum verhüllt als „kurdische Bewegung“ bezeichnet) appelliert, diese Forderung umzusetzen:

„Der kurdischen Bewegung, als einzige linksausgerichtete Massenbewegung in der Region, wenn sie sich nicht mit weiteren 25 Jahren von Unterdrückung und minimalen Zugeständnissen abfinden will, bleibt nur die Option, eine internationale Bewegung der Ausgebeuteten ins Leben zu rufen.“ („Für ein sozialistisches Kurdistan!“, 1. Dezember 2009)

Wie Nick Brauns ist auch RIO nur linkes Anhängsel der Linkspartei. Nachdem RIOs Vorläuferorganisation jahrelang der PDS/Linkspartei „kritische“ Wahlunterstützung gab, auch als diese in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern den Kapitalismus mitverwaltete, bevorzugt RIO momentan den indirekten Weg. Sie bietet der Linkspartei eine Bühne und ordnet ihre Kritik der „Einheit“ mit ihren Blockpartnern SAV, Linkspartei-Jugend Solid oder eben Nick Brauns unter, die die Linkspartei „nach links“ drücken wollen. Im Gegensatz dazu führen wir Spartakisten den politischen Kampf, Arbeiter und Jugendliche von SPD und Linkspartei loszubrechen und für den Aufbau einer revolutionären multiethnischen Arbeiterpartei zu gewinnen.

Nicht besser steht es um RIOs Ausführungen zur permanenten Revolution:

„Nur die ArbeiterInnenklasse in der Türkei und Nordkurdistan ist in der Lage, mit dem Imperialismus, den feudalen Strukturen und dem autokratischen Staatsapparat zu brechen. Doch die ArbeiterInnen dürfen keineswegs das bürgerlich-demokratische Programm von den sozialistischen Aufgaben trennen. Nur ein Programm der permanenten Revolution kann die Türkei grundlegend ändern.“ („Klassenkampf unter dem Halbmond“, Revolution, September 2010)

Doch am Ende bleibt RIO selber gerade die sozialistischen Aufgaben schuldig und bietet stattdessen nur demokratische („Für das bedingungslose Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes!“) und gewerkschaftliche („Für gewählte Streikkomitees!“) Forderungen. Auch mit ihren Forderungen „Für die Besetzung und Verstaatlichung aller Unternehmen, die mit Entlassungen oder Schließung drohen, unter ArbeiterInnenkontrolle!“ und „Für einen Plan öffentlicher Arbeiten, um die Arbeitslosigkeit und die Unterentwicklung zu beenden, unter Kontrolle der ArbeiterInnenorganisationen!“ bleibt es bei einer reformistischen Karikatur des Übergangsprogramms, denn es fehlt gerade das, was den Kern der permanenten Revolution ausmacht: der revolutionäre Sturz der Bourgeoisie und die Machtergreifung der Arbeiterklasse unterstützt von der Bauernschaft.

Das ist nicht überraschend, freut sich RIO doch ganz im Einklang mit ihren geistigen Vätern von der Gruppe Arbeitermacht, die 1991 in Moskau auf Jelzins konterrevolutionären Barrikaden standen, über die Wiedererrichtung der kapitalistischen Herrschaft in der ehemaligen Sowjetunion: „Heute, nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Sowjetunion und der fortschreitenden Krise des Kapitalismus haben sich die Voraussetzungen für uns Revolutionäre verbessert“ (Revolution, 24. April 2006). Auf ihre eigene Weise bestätigt RIO so Trotzkis grundlegenden Punkt: Wer alte Errungenschaften nicht verteidigt, kann niemals neue erobern. Als Trotzkisten haben wir im Gegensatz zu RIO und Nick Brauns die Sowjetunion gegen die kapitalistische Konterrevolution verteidigt und treten heute für die militärische Verteidigung der verbliebenen deformierten Arbeiterstaaten China, Kuba, Nordkorea, Vietnam gegen Imperialismus und Konterrevolution ein. Auf dieser Grundlage kämpfen wir für den Sturz der parasitären Bürokratien an ihrer Spitze durch politische Revolution und für die Errichtung von Arbeiter- und Bauernräten. Das ist integraler Bestandteil unseres Kampfes für neue Oktoberrevolutionen weltweit, wobei der Kampf gegen die nationale Unterdrückung der Kurden ein wichtiger Motor für die sozialistische Revolution im Nahen Osten und in Deutschland sein wird.

 

Spartakist Nr. 186

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