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Spartakist Nummer 186

Januar 2011

Spartakist-Jugend

Die Einheitsfronttaktik: Ihre richtige und falsche Anwendung

Von Joseph Seymour

Wir drucken nachfolgend einen Vortrag ab, den Joseph Seymour, Mitglied des Zentralkomitees der Spartacist League/U.S., im Sommer 2009 auf der 13. Nationalkonferenz der SL/U.S. gehalten hat.

Die Taktik der Einheitsfront, wie sie ursprünglich auf dem Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) im Juni/Juli 1921 entwickelt und dargelegt wurde, war für Massenparteien gedacht, insbesondere die im Entstehen begriffenen kommunistischen Parteien in Deutschland und Frankreich. Sie zielte darauf ab, einen Teil der proletarischen Basis reformistischer Massenorganisationen unter der Führung der Sozialdemokraten und in Frankreich auch der rechtsgerichteten Syndikalisten für sich zu gewinnen. Die Einheitsfronttaktik wurde für nicht anwendbar erachtet bei relativ kleinen kommunistischen Parteien wie in Britannien oder den Vereinigten Staaten.

Deshalb ist es wichtig zu verstehen, dass unsere Handhabung der Einheitsfront eine Anpassung der ursprünglich konzipierten und umgesetzten Theorie ist. Diese Anpassung enthält zwangsläufig viele Abweichungen, manche von ihnen offensichtlich, andere weniger. So war die typische Form der ursprünglichen Einheitsfront die Kampfmaßnahme: ein Streik, eine Massendemonstration gegen die Regierungspolitik (manchmal von einem eintägigen Generalstreik begleitet), Verteidigungsaktionen gegen die Faschisten. Im Gegensatz dazu ist die typische Form unserer Einheitsfrontaktivitäten eine vorher geplante politische Protestaktion. Außerdem beruhen diese Protestaktionen häufig auf Forderungen, die von den kleinen linksgerichteten Propagandagruppen, die daran teilnehmen, unmöglich erreicht werden können, z. B. eine Universitätsprotestveranstaltung gegen die US-Besetzung des Irak und Afghanistans. Solche Aktivitäten sind in Wirklichkeit eine Form der Agitation, auf keinen Fall Einheitsfrontaktionen im ursprünglichen Sinne des Wortes.

In diesem Vortrag werde ich mein Augenmerk auf die Einheitsfronttaktik richten, wie sie ursprünglich von Lenin, Trotzki und anderen Führern der frühen Komintern entwickelt und dargelegt wurde. Doch eine nützliche Herangehensweise bei der Erwägung der Anwendbarkeit der Einheitsfront für eine revolutionär-marxistische Propagandagruppe wie die unsere hat vor sechshundert Jahren der junge englische feudale Krieger Henry Percy, auch bekannt als Hotspur [Heißsporn], angedeutet. Wie in Shakespeares Heinrich IV., Erster Teil, wiedergegeben, diskutierte Hotspur die Einheitsfronttaktik mit seinem Verbündeten, dem alten walisischen Stammesfürsten Owen Glendower. Glendower ereiferte sich: „Ich rufe Geister aus der wüsten Tiefe.“ Worauf Hotspur antwortete: „Ei ja, das kann ich auch, das kann ein jeder. Doch kommen sie, wenn Ihr nach ihnen ruft?“ Wenn die Geister aus dem reformistischen Sumpf nicht kommen, wenn wir sie anrufen, haben wir keine Einheitsfront.

Agitation und Propaganda

Ich denke, eine Quelle der Konfusion in unseren Diskussionen zur Einheitsfront ist die terminologische Ungenauigkeit, deren Folge ein Mangel an gegenseitigem Verständnis ist. Das heißt, wir benutzen die gleichen Begriffe, meinen aber Unterschiedliches damit. Ein Schlüsselbegriff ist dabei die „Agitation“. Die klassische marxistische Definition von Agitation stammt von einem der ersten russischen Marxisten, Georgi Plechanow, der sie folgendermaßen von Propaganda unterschied. Propaganda ist die Vermittlung vieler komplexer Ideen an wenige Personen. Agitation ist die Vermittlung einiger weniger einfacher Ideen an eine Menge von Personen. Doch in unserer Tendenz wird Agitation oft mit einem Aktionsaufruf in Verbindung gebracht. Der Unterschied zwischen Propaganda und Agitation wird in diesem Fall nicht hinsichtlich der Vermittlung entweder komplexer oder einfacher Ideen gesehen und dargestellt, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer unmittelbaren Realisierbarkeit.

Die ursprünglichen Komintern-Dokumente zur Einheitsfront verbanden Agitation mit Propaganda, grenzten aber beides von der Beteiligung am Kampf ab. So erklärte das Dokument „Thesen über die Taktik“ vom Juli 1921:

„Die Kommunistische Internationale hat vom ersten Tag ihrer Bildung an klar und unzweideutig sich zum Zwecke gesetzt nicht die Bildung kleiner, kommunistischer Sekten, die nur durch Propaganda und Agitation ihren Einfluss auf die Arbeitermassen herzustellen suchen, sondern die Teilnahme an dem Kampfe der Arbeitermassen, die Leitung dieses Kampfes in kommunistischem Sinne und die Bildung im Kampfe erprobter, großer, revolutionärer kommunistischer Massenparteien.“ (Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921)

Oder noch einmal in demselben Dokument: „Die kommunistischen Parteien können sich nur im Kampfe entwickeln. Selbst die kleinsten kommunistischen Parteien dürfen sich nicht auf bloße Propaganda und Agitation beschränken“.

Ich werde versuchen, dieses Konzept in Bezug auf unsere eigene Organisation durch ein hypothetisches Beispiel zu erläutern. Angenommen eine Anzahl nicht registrierter Latino-Immigranten, die in Hotels und Restaurants in San Francisco arbeiten, werden von Bundespolizisten verhaftet und abgeschoben. Einige dieser Immigranten sind Mitglieder der Hotel- und Restaurantarbeitergewerkschaft. Ein Workers-Vanguard-Artikel zu diesen Vorfällen schließt mit der Stellungnahme, dass es die allgemeine Politik der Arbeiterbewegung sein muss, sich Abschiebungen zu widersetzen und volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten zu fordern. Das ist Agitation. Nehmen wir weiter an, wir haben in der Hotel- und Restaurantarbeitergewerkschaft von San Francisco einige Unterstützer. Sie sind der Meinung, dass viele Arbeiter in der Gewerkschaft durch die Abschiebungen hinreichend wütend sind, um bereit zu sein, sich an einer Protestaktion zu beteiligen. Also bringen unsere Unterstützer auf einer Gewerkschaftsversammlung einen Antrag auf einen eintägigen Proteststreik gegen Abschiebungen und für Immigrantenrechte ein. Dies ist ein Aktionsaufruf. Wir sollten den Begriff Agitation konsequent in seinem ursprünglichen Plechanowschen Sinne verwenden und ihn einerseits von Propaganda und andererseits von Aktionsaufrufen klar abgrenzen.

Die Einheitsfront auf dem Dritten Weltkongress

Der Dritte Kongress der Kommunistischen Internationale, der Mitte 1921 abgehalten wurde, erkannte die zeitweilige Stabilisierung der bürgerlichen Ordnung in Europa nach den revolutionären Turbulenzen der unmittelbaren Periode nach dem Ersten Weltkrieg an und thematisierte das. Insbesondere waren Revolutionen in Deutschland und Ungarn und eine beginnende Revolution in Italien von den Kräften der bürgerlichen Reaktion niedergeschlagen worden, angestiftet, vor allem in Deutschland, von den sozialdemokratischen Führern. 1998 hielt Genosse Reuben Samuels eine Schulung zum Dritten Weltkongress ab, in der er die Bedingungen, mit denen der Kongreß konfrontiert war, zusammenfasste:

„Die Niederlagen dieser Periode zeigten sowohl die Unreife der jüngst gegründeten kommunistischen Parteien als auch die Fähigkeit der Sozialdemokratie – trotz ihrer Rolle im Ersten Weltkrieg bei der Mobilisierung des Proletariats für die imperialistische Schlächterei und trotz ihrer Vorreiterrolle bei den imperialistischen Feldzügen gegen die Sowjetunion –, in den fortgeschrittenen Industrieländern ihre Basis innerhalb der organisierten Arbeiterklasse zu erhalten.“ („The First Four Congresses of the Communist International“, Marxist Studies for Cadre Education Nr. 9, 2003)

In einer Hinsicht stellte die auf dem Dritten Weltkongress entwickelte und angenommene Politik, vor allem die Einheitsfronttaktik, ein fortgeschritteneres Stadium des Parteiaufbaus dar – man suchte die Unterstützung einer politisch weniger fortgeschrittenen Schicht der Arbeiterklasse zu erlangen. Das Hauptthema der Komintern-Dokumente zur Taktik war damals, dass eine Mehrheit der organisierten Arbeiterklasse für die kommunistische Bewegung nicht einfach nur durch Propaganda und Agitation gewonnen werden könne, d. h. auf der Grundlage von Ideen. Dazu müssten die kommunistischen Parteien in der Praxis ihre Führung in den alltäglichen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen beweisen, die oft defensiven Charakter haben und sich um Teilforderungen drehen.

Aus dieser Position ergibt sich jedoch, dass eine Minderheit der Arbeiterklasse, sogar eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit – die politisch fortgeschrittensten Elemente –, durch Propaganda und Agitation für den Kommunismus gewonnen werden können, insbesondere durch polemische Angriffe auf die Reformisten und Zentristen. Um 1921 hatten es die Kommunistischen Parteien in Deutschland und Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern – zum Beispiel der Tschechoslowakei – geschafft, die Masse dieser politisch fortgeschrittenen Arbeiter anzuziehen. Sie sahen sich nun einer anderen Aufgabe gegenüber, nämlich der Erlangung der Unterstützung eines Teils der Arbeiter, die immer noch den reformistischen Parteien und den ihr angeschlossenen Gewerkschaften anhingen.

Diese Arbeiter wussten, was Programm, Politik und Praxis angeht, sehr wohl, worum es sich bei den Kommunisten handelte. Das Problem war nicht ein Mangel an Vertrautheit ihrerseits. Vielmehr lehnten diese Arbeiter ab, wofür die Kommunisten standen. Sie billigten weitgehend die bürgerlich-demokratische Ideologie, vor allem die Identifizierung von Demokratie mit einer durch allgemeines und gleiches Wahlrecht gewählten parlamentarischen Regierung. Vielfach sahen sie die Kommunisten als unverantwortliche Heißsporne an, die die ihnen folgenden Arbeiter in abenteuerliche Aktionen führen würden, die von den Kräften des Staates und rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen zerschlagen werden würden.

Jedoch waren einige dieser Arbeiter bereit, mit den Kommunisten auf der Grundlage – allerdings nur auf der Grundlage – gegenseitig vereinbarter Bedingungen zusammenzuarbeiten. In den „Leitsätzen über die Einheitsfront …“ vom Dezember 1921 wird die Einstellung solcher Arbeiter beschrieben:

„Bedeutende Arbeiterschichten, die den alten sozialdemokratischen Parteien angehören, [wollen sich] nicht mehr mit dem Feldzug der Sozialdemokraten und Zentristen gegen die kommunistische Vorhut zufrieden geben, sie fangen schon an, eine Verständigung mit den Kommunisten zu fordern. Aber sie haben gleichzeitig noch nicht ihren Glauben an die Reformisten überwunden, und bedeutende Massen unterstützen noch die Parteien der 2. und der Amsterdamer Internationale. Diese Arbeitermassen formulieren ihre Pläne und Bestrebungen nicht genügend klar, aber im großen und ganzen lässt sich die neue Stimmung auf den Wunsch zurückführen, die Einheitsfront herzustellen und zu versuchen, die Parteien und Verbände der 2. und der Amsterdamer Internationale zum Kampf gegen den Angriff des Kapitals zusammen mit den Kommunisten zu veranlassen.“

Die Amsterdamer Internationale war die Gewerkschaftsgruppierung, die der Zweiten Internationale angeschlossen war.

Es gibt zwei grundlegende Bedingungen, damit die Einheitsfronttaktik effektiv sein kann. Erstens müssen ihre Ziele Angelegenheiten beinhalten – wie Widerstand gegen Lohnkürzungen –, für die reformistisch gesinnte Arbeiter unabhängig von dem Angebot zur Zusammenarbeit durch die Kommunisten kämpfen würden. Zweitens muss die Kommunistische Partei genügend soziales und politisches Gewicht besitzen, um den Ausgang solcher Kämpfe substanziell beeinflussen zu können. Wie Trotzki in seinem Artikel von 1922 „On the United Front“ erläuterte ([Über die Einheitsfront], The First 5 Years of the Communist International, Vol. 2):

„Wo die Kommunistische Partei bereits eine große, organisierte politische Kraft darstellt, aber nicht die entscheidende Stärke erreicht; wo die Partei organisatorisch sagen wir ein Viertel, ein Drittel oder einen noch größeren Teil der organisierten proletarischen Avantgarde umfasst, steht sie vor der Frage der Einheitsfront in all ihrer Schärfe.“

Er unterschied solche Parteien von jenen, die qualitativ kleiner waren:

„In Fällen, in denen die Kommunistische Partei noch eine Organisation einer zahlenmäßig unbedeutenden Minderheit darstellt, erreicht die Frage ihres Verhaltens an der Front der Massenkämpfe keine entscheidende praktische oder organisatorische Bedeutung.“

Im Verlauf meines Vortrags werde ich noch die Taktik erörtern, die von der Kominternführung für jene Parteien ausgearbeitet wurde, die in Trotzkis Worten immer noch eine zahlenmäßig unbedeutende Minderheit waren, insbesondere in Britannien und den Vereinigten Staaten.

Die Einheitsfronttaktik war als zweischneidiges Schwert konzipiert. Wenn die reformistischen Führer einer Einheitsfrontaktion zustimmten, wären die Kommunisten in der Lage in der Praxis zu beweisen, dass sie die effektivsten und militantesten Führer elementarer Arbeiterkämpfe sind. Dadurch würden sie bei den reformistisch gesinnten Arbeitern mehr Gehör finden für die weitergehenden Elemente und Ziele ihres Programms. Wenn die reformistischen Führer das Angebot einer Einheitsfront zurückwiesen, dann könnten die Kommunisten den Arbeitern, die jenen folgten, sagen: „Seht, aus Feindschaft gegenüber dem Kommunismus berauben euch eure Führer eines starken und bereitwilligen Verbündeten bei euren eigenen Kämpfen gegen die Kapitalisten und ihren Staatsapparat.“ Wie Trotzki sagte:

„Es ist erforderlich, dass die kämpfenden Massen jederzeit die Möglichkeit bekommen, sich selbst zu überzeugen, dass das Nicht-Erreichen der Einheit in der Aktion nicht an unserer formalistischen Unversöhnlichkeit liegt, sondern am fehlenden wirklichen Kampfeswillen auf Seiten der Reformisten.“

Der Appell der Komintern „For the United Proletarian Front!“ [Für die proletarische Einheitsfront!] vom Januar 1922 führt aus:

„Kein Arbeiter, ob Kommunist oder Sozialdemokrat oder Syndikalist oder sogar ein Mitglied der christlichen oder liberalen Gewerkschaften, möchte seinen Lohn weiter verringert bekommen. Keiner möchte länger arbeiten, hungrig und in der Kälte. Und daher müssen sich alle in einer Einheitsfront gegen die Angriffe der Bosse vereinigen.“ (The Communist International, 1919–1943: Documents Vol. 1, 1919–1922, selected and edited by Jane Degras, 1956)

Zum Verständnis der zentralen Bedeutung elementarer Lohnkämpfe für die Begründung und Durchführung der Einheitsfronttaktik muss man wissen, dass damals in Deutschland, Frankreich und einer Anzahl anderer europäischer Länder die Gewerkschaftsbewegung entlang politischer Linien gespalten war. Die meisten unserer Sektionen sind in Ländern – den USA, Kanada, Britannien, Deutschland, Australien –, in denen es Einheitsgewerkschaften gibt, die die Arbeiter aller politischen Richtungen umfassen. Doch wir haben auch Sektionen in Ländern – Frankreich, Südafrika, Mexiko –, in denen es konkurrierende Gewerkschaftsföderationen gibt, die verschiedenen politischen Parteien angeschlossen sind.

Die Einheitsfront in Frankreich und Deutschland

Unsere Politik gegenüber den politischen Organisationen der Arbeiterklasse unterscheidet sich erheblich von der gegenüber den wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse. Eine politische Partei besteht aus einem freiwilligen Zusammenschluss individueller Aktivisten auf der Grundlage eines umfassenden Programms zur Organisierung oder Reorganisierung der Gesellschaft. Wir versuchen eine politisch homogene revolutionäre Avantgardepartei aufzubauen. Dieses Vorhaben beinhaltet oft auch, reformistische und zentristische Parteien zu spalten. So wurde 1920 die französische Kommunistische Partei durch Abspaltung einer linksgerichteten Mehrheit von der reformistischen Sozialistischen Partei gegründet. Auf ähnliche Weise wurde im selben Jahr die deutsche Kommunistische Partei durch Abspaltung einer linksgerichteten Mehrheit von der zentristischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei aus einer relativ kleinen Organisation von ungefähr 80 000 Mitgliedern in eine Massenpartei verwandelt.

Jedoch befürworten wir Industriegewerkschaften und Fabrikkomitees, die alle dort beschäftigten Arbeiter ungeachtet ihrer politischen Überzeugungen und Zugehörigkeiten umfassen, und versuchen, wenn es angebracht ist, sie aufzubauen. Unser Ziel ist es, die politische Unterstützung der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder zu bekommen, um die amtierenden reformistischen oder (in den USA) liberalen Gewerkschaftsbürokraten unter Wahrung der Unversehrtheit dieser Organisationen zu ersetzen. Doch die amtierenden Bürokraten werden sich nicht unbedingt an diese Spielregeln halten, vor allem dann nicht, wenn sie verlieren. Das ist in Frankreich 1921 passiert.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war die Hauptgewerkschaftsorganisation in Frankreich, die Confédération Générale du Travail (CGT), eine Bastion des linksgerichteten oder revolutionären Syndikalismus. Die CGT war mit Stolz und voller Absicht unabhängig von der Sozialistischen Partei und stand ihr in nicht geringem Maße feindselig gegenüber. Syndikalistische Militante betrachteten diese Partei aus guten Gründen als vorwiegend kleinbürgerliche, von parlamentarischem Karrierismus und intellektuellem Dilettantismus durchdrungene Organisation. Doch in den letzten Jahren vor dem Krieg verringerte sich die Distanz zwischen der CGT und der Sozialistischen Partei zusehends, als eine eher rechtsgerichtete Führung unter Léon Jouhaux die CGT übernahm. Bei Ausbruch des Krieges schlossen sich Jouhaux und andere CGT-Führer mit Führern der Sozialistischen Partei zu einem sogenannten „geheiligten Bund“ der nationalen Verteidigung zusammen. Jouhaux selbst wurde Regierungsfunktionär.

Nach dem Krieg polarisierte sich die CGT zwischen einem erklärtermaßen reformistischen rechten Flügel um Jouhaux und einem amorphen linken Flügel aus pro-bolschewistischen Militanten, Syndikalisten alter Schule und Anarchisten. Konfrontiert mit der wachsenden Aussicht, von den Kräften der Linken verdrängt zu werden, spaltete Jouhaux Ende 1921 die Organisation. Die rechtsgerichtete Gewerkschaftsföderation, die den alten Namen beibehielt, hatte ungefähr 250 000 Mitglieder. Die linksgerichtete Organisation mit dem Namen CGT-Unitaire (CGTU), angeführt von einem instabilen Block unerfahrener Kommunisten, Syndikalisten und Anarchisten, reklamierte 350 000 Mitglieder für sich. So erforderten wirksame Arbeiterkämpfe über Löhne, Arbeitsbedingungen und Entlassungen gemeinsame Aktionen zwischen den Kommunisten und ihren linksgerichteten Verbündeten in der CGTU und den Reformisten in der CGT.

Die Lage in Deutschland war komplizierter, weil sich die politische Spaltung in Kommunisten und Reformisten mit verschiedenen Formen der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse überschnitt. Die Sozialdemokraten behielten die Kontrolle über die Hauptgewerkschaftsorganisation, den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB). Dies war eine regelrechte Branchengewerkschaft auf der Grundlage von Berufen, nicht von industriellen oder anderen wirtschaftlichen Einheiten. Zum Beispiel gehörten der Maschinistengewerkschaft Maschinisten aus verschiedenen Betrieben an, aber keine Nicht-Maschinisten aus diesen Betrieben. Die Kommunistische Partei versuchte zwar im ADGB zu arbeiten, die sozialdemokratische Bürokratie verstand es aber, bürokratische Methoden anzuwenden, um zu verhindern, dass die Kommunisten entsprechend ihres Einflusses unter der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften ihre Autorität ausüben konnten.

Doch ließen die revolutionären Turbulenzen 1918/19 eine andere Form der Massenorganisation der Arbeiterklasse entstehen, die Betriebsräte. Diese umfassten alle Arbeiter im Unternehmen und waren für die Belegschaft repräsentativer als die Gewerkschaften. Betriebsratsvertreter mussten Lohnarbeiter des jeweiligen Unternehmens sein, was bezahlte Gewerkschaftsfunktionäre ausschloss. Ende 1922 hatte die Kommunistische Partei genügend Einfluss erlangt, um einen landesweiten Kongress mehrerer tausend Betriebsräte zu organisieren. So beinhaltete die Einheitsfronttaktik oft Aufrufe zu gemeinsamer Aktion zwischen den kommunistisch geführten Betriebsräten und den sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften.

Ein gutes Beispiel, wie sich die Einheitsfronttaktik in der Praxis darstellte, wenn auch im negativen Sinne, zeigte ein Eisenbahnerstreik Anfang 1922. Die deutschen Eisenbahnen waren Staatseigentum. Im Rahmen eines fiskalischen Austeritätsprogramms kündigte die Regierung an, dass 20 000 Eisenbahner entlassen würden. Dies provozierte einen Streik einer unabhängigen Eisenbahnergewerkschaft, die nicht dem ADGB angeschlossen war. Die Regierung unter der Führung des sozialdemokratischen Präsidenten Friedrich Ebert erklärte den Streik für illegal. Als Antwort darauf gab die Kommunistische Partei einen Appell an alle Arbeiterorganisationen heraus, das Streikrecht zu verteidigen, und mobilisierte ihre eigenen Kräfte zur Unterstützung der Eisenbahnarbeiter. Als die Führer der Sozialdemokratischen Partei und des ADGB sich weigerten, den Streik zu unterstützen, beorderte der Vorstand der Eisenbahnergewerkschaft seine Mitglieder zurück an die Arbeit. Doch die Politik und die Aktivitäten der Kommunisten ließen ihr politisches Ansehen bei einem strategisch wichtigen Teil der Arbeiterklasse ansteigen und diskreditierten die Sozialdemokraten.

Die Einheitsfront und die nachsowjetische Periode

Offensichtlich ist die Anwendung der Einheitsfronttaktik bei elementaren, alltäglichen Kämpfen der Arbeiter gegen das Kapital durch die jungen europäischen Kommunistischen Parteien für uns heute nicht relevant und wird es auch morgen nicht sein. Doch es gibt andere wichtige Unterschiede, die viel weniger offensichtlich sind. Ein solcher Unterschied ist die Rolle der Freiheit der Kritik oder genauer gesagt der Kritik selbst. In einem Artikel von 1922 bezeichnete Trotzki die Freiheit der Kritik als eine negative Bedingung der Einheitsfront, d. h. als etwas, von dem sich die Kommunisten nicht abbringen lassen:

„Wir haben mit den Reformisten und Zentristen gebrochen, um die völlige Freiheit zu bekommen, Niederträchtigkeit, Verrat, Unentschlossenheit und den Geist der Halbherzigkeit in der Arbeiterbewegung zu kritisieren. Aus diesem Grund ist jede Art von organisatorischer Vereinbarung, die unsere Freiheit der Kritik und Agitation einschränkt, für uns absolut unannehmbar.“

Denkt daran, wir sprechen von kommunistischen Massenparteien, die in der Lage waren, ihre Kritik an den reformistischen Organisationen deren Mitgliedern und Unterstützern bekannt zu machen. Die deutsche Kommunistische Partei hatte Anfang der 20er-Jahre Dutzende von Tageszeitungen, die von Hunderttausenden von Arbeitern gelesen wurden, auch von einem Teil der Mitglieder und Unterstützer der Sozialdemokratie. Die deutsche, französische und andere europäische kommunistische Parteien hatten Parlaments- und Kommunalabgeordnete. Sie hatten Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter in Betriebsräten. In praktisch jeder Fabrik in Deutschland, Frankreich und einigen anderen Ländern wie Italien und der Tschechoslowakei debattierten kommunistische Arbeiter regelmäßig mit sozialdemokratischen, syndikalistischen oder anarchistischen Arbeitskollegen über Politik. Es fehlte nicht an politischen Debatten und Streitgesprächen zwischen den Kommunisten und anderen Tendenzen in der Arbeiterbewegung.

Die SL/U.S. sieht sich gegenüber unseren etwas größeren reformistischen Widersachern – der sozialdemokratischen International Socialist Organization (ISO), den stalinoiden Organisationen Workers World Party und Party for Socialism and Liberation und der maostalinistischen Revolutionary Communist Party – in einer ganz anderen Lage. Die Führer und Kader dieser Organisationen wollen sich nicht in politische Auseinandersetzungen mit uns verwickeln lassen und sehen auch keinerlei Notwendigkeit dazu. Im Gegenteil. Sie versuchen ihre neueren, jüngeren Mitglieder und Kontakte von „den Sparts“ abzuschotten. Die ISO zum Beispiel schließt uns von ihren öffentlichen Veranstaltungen aus. Als Antwort darauf gab es eine Tendenz, die Einheitsfronttaktik zu benutzen, um den Widerwillen unserer reformistischen Widersacher, mit uns politisch zu debattieren, zu umgehen. Über die Wirksamkeit der Taktik zu diesem Zweck lässt sich streiten.

Nicht bestreiten lässt sich jedoch, dass dies nicht der ursprüngliche Zweck der Einheitsfronttaktik gewesen ist. Ihr Ziel war es nicht, eine zusätzliche Bühne der Auseinandersetzung mit den Reformisten über Lehre und Programm zu schaffen, sondern sie auf einer völlig anderen Ebene anzugreifen. So erklärten die „Leitsätze über die Einheitsfront …“ vom Dezember 1921:

„Nachdem sie sich die organisatorische Freiheit der geistigen Einwirkung auf die Arbeitermassen gesichert haben, sind die kommunistischen Parteien aller Länder bestrebt, jetzt in allen Fällen eine möglichst breite und vollkommene Einheit der praktischen Aktion dieser Massen zu erreichen.“ (Hervorhebung im Original)

Zum Schluss werde ich die Taktik erörtern, die von der Kominternführung für die kleineren Kommunistischen Parteien in Britannien und den Vereinigten Staaten ausgearbeitet wurde, für die die Einheitsfront nicht anwendbar war, d. h. denen ein ausreichendes Gewicht fehlte, um Massenaktionen der Arbeiterklasse zu initiieren und zu organisieren. Gleichzeitig waren dies aber auch keine Propagandagruppen. Anfang der 1920er-Jahre hatten die britische und die amerikanische KP Tausende erfahrene Arbeiterkämpfer und hatten in ihren führenden Reihen einige weithin bekannte und angesehene Arbeiterführer wie Tom Mann in Britannien und William Z. Foster in den USA.

Sowohl bei der britischen als auch bei der amerikanischen Partei spielte Lenin eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung der geeigneten Taktik. Der Dreh- und Angelpunkt der Einheitsfronttaktik ist das Angebot der Kommunisten an die reformistischen Organisationen, einschließlich ihrer jeweiligen Führung, zum gemeinsamen Kampf. In Britannien drückte sich dies in kritischer Wahlunterstützung für die Labour Party aus und auch im Angebot der Kommunisten, der Labour Party beizutreten. Dabei würden die Kommunisten offen als eine organisierte Fraktion auf der Grundlage eines revolutionären Programms fungieren. Gleichzeitig würden Kommunisten als Mitglieder der Labour Party bei ihrem Aufbau mithelfen, zum Beispiel durch die Gewinnung politisch rückständigerer Arbeiter, die noch immer die Liberalen und die Tories unterstützten.

In den USA waren die Gewerkschaften die einzigen Massenorganisationen der Arbeiterklasse (und sind es immer noch). Daher die Forderung der Kommunisten, dass die Gewerkschaften eine den Demokraten und Republikanern entgegengesetzte politische Partei gründen sollten, an der sich die Kommunisten beteiligen würden. Ob viele, vielleicht die meisten, amerikanische Kommunisten die Taktik als Aufruf und Bereitschaft missverstanden, eine neue reformistische Partei ähnlich der britischen Labour Party aufzubauen, darauf werde ich nicht eingehen. Diese Frage ist für den Zweck dieses Vortrags nicht von Belang. Worum es geht, ist ein Verständnis davon, dass die Befürwortung einer auf den Gewerkschaften basierenden Partei die amerikanische Entsprechung zur Einheitsfronttaktik war.

Anfang der 1970er-Jahre hatten wir eine ausgiebige interne Diskussion über die Frage der Labour Party. Der Inhalt und die Schlussfolgerungen der Diskussion wurden 1972 zusammengefasst in einem Vortrag des Genossen Jim Robertson, „Rede über die Labor-Party-Frage“, abgedruckt in Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 5, Mai 1977. Er erläuterte:

„Während der letzten Debatte in New York habe ich meine gesamte Redezeit den Beschlüssen des Dritten und Vierten [Welt]kongresses [der KI] gewidmet. Diesmal will ich nicht darauf eingehen und stattdessen einfach klarmachen, dass die Labor-Party-Losung die jetzige amerikanische Form der Frage der Einheitsfront darstellt. Die Frage stellt sich in dieser Form, weil es in den USA an einem massiven politischen Ausdruck des Reformismus beziehungsweise des Stalinismus mangelt; vorhanden sind dagegen organisierte Industriegewerkschaften mit einer dem Kapitalismus zutiefst verpflichteten Bürokratie an der Spitze: es ist in Bezug auf sie, dass die Frage der proletarischen Einheit und des Weges zu einem im Kampf errungenen Sieg des Kommunismus die Labor-Party-Frage in den Brennpunkt rückt.“

Jim betonte auch, dass eine tatsächliche Bewegung hin zu einer solchen Labor Party oder auch bloß eine maßgebliche Stimmung dafür nur durch ein qualitativ höheres Niveau des proletarischen Kampfes hervorgerufen werden könne, als es seinerzeit oder sogar während der großen Streiks existierte, durch die in den 1930er-Jahren die Massenindustriegewerkschaften aufgebaut wurden. Ohne einen solchen stürmischen Aufschwung des proletarischen Kampfes ist unser Eintreten für eine gewerkschaftsbasierte Partei in Opposition zu den Demokraten ein untergeordneter Aspekt unserer grundlegenderen Propaganda für die Diktatur des Proletariats (ausgedrückt in der Verwendung des Begriffs „Arbeiterregierung“).

Diese Herangehensweise an die Labor-Party-Frage ist, wie ich denke, für die SL/U.S. in der gegenwärtigen Periode von allgemeiner Bedeutung. Es ist viel darüber geredet worden, ob wir eine Perspektive haben oder nicht. Ich denke, wir haben eine Perspektive, aber nicht so, wie der Begriff bisher gebraucht wurde. Unsere Perspektive sollte die Herausgabe von mehr und besserer Propaganda sein, im Plechanowschen Sinne, wenigen Personen viele komplexe Ideen zu erklären. Lasst uns endlich Schluss machen mit der Jagd nach schnellem Erfolg. Wenn sich in der Zukunft Gelegenheiten zum organisatorischen Durchbruch ergeben, werden wir es alle merken. Zweifellos werden diese sowohl objektive Probleme als auch interne Differenzen mit sich bringen, möglicherweise auch Kämpfe, doch so etwas ist in unserer Tendenz seit dem Untergang der Sowjetunion nicht passiert.

Was passiert ist, denke ich, ist ein tiefgehender subjektiver Drang, organisatorische Durchbrüche zu erreichen, um (vor allem uns selbst) zu beweisen, dass wir nicht historisch irrelevant sind, da jeder andere auf der Welt der Meinung ist, wir seien historisch irrelevant. Wir sind historisch relevant, doch wir müssen und können dies jetzt nicht durch wesentliche organisatorische Durchbrüche oder irgendeine andere Art äußeren Erfolgs beweisen. Das ist einfach objektive Realität.

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