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Spartakist Nummer 181

Januar 2010

Vor 20 Jahren: Vorrevolutionäre Situation in der DDR

1989/90 – der Kampf für ein rotes Rätedeutschland und gegen die Konterrevolution

Wir sind die Partei der Russischen Revolution!

Am 21. November hielten wir in Berlin unsere Diskussionsveranstaltung zum 20. Jahrestag der vorrevolutionären Situation in der DDR 1989/90 ab. Über 50 Teilnehmer aus vielen Teilen Deutschlands sowie aus anderen Ländern hörten im Verlaufe des Tages Referate und diskutierten über die Lehren des Zusammenbruchs des Stalinismus und den Kampf der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) gegen die kapitalistische Konterrevolution in der DDR, Osteuropa und der Sowjetunion. Das Eröffnungsreferat erklärte, wie der Stalinismus einen Bruch darstellte mit dem Programm von Lenins und Trotzkis Bolschewiki, die die Oktoberrevolution 1917 geführt und für ihre Ausweitung gekämpft hatten. Es skizzierte unsere kompromisslose Verteidigung der Sowjetunion im zweiten Kalten Krieg Anfang der 1980er-Jahre im Gegensatz zu allen möglichen Arten von Pseudolinken, die den Imperialisten ihre „Menschenrechts“-Kampagnen abgekauft hatten (siehe dazu auch „Von Berlin bis Moskau: Der Kampf der IKL gegen die kapitalistische Konterrevolution“, Spartakist Nr. 178, Juli 2009). Das Hauptreferat unseres Genossen Fred über unseren Kampf gegen die Konterrevolution in der DDR 1989/90 für eine revolutionäre Wiedervereinigung durch proletarisch-politische Revolution im Osten und sozialistische Revolution im Westen ist im Anschluss abgedruckt. Im zweiten Teil der Veranstaltung schilderte unser Genosse Jan J. die Gründung der Spartakusowska Grupa Polski (SGP), polnische Sektion der IKL, im Jahre 1990; das Referat ist auf Seite 7 abgedruckt. Eine Genossin berichtete über unsere Arbeit gegenüber der Roten Armee in der DDR; Ziel war, das Programm des Trotzkismus ins Heimatland der Oktoberrevolution zurückzubringen. Über unseren Kampf, in der Sowjetunion 1991/92 die Arbeiterklasse gegen die sich anbahnende Konterrevolution zu mobilisieren, berichtete eine andere Genossin in ihrem Referat (siehe dazu Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 16, Herbst 1994).

In der Diskussionsrunde schilderten eine Reihe von Sympathisanten und Mitgliedern, wie sie aufgrund unseres Kampfes 1989/90 zu uns gestoßen waren. Ob aus dem Milieu der SED, der Vereinigten Linken (VL) oder des Neuen Forums, fast alle, die wir damals gewonnen haben, kamen von anderen Organisationen, mit denen sie über die Frage des Kampfes gegen die Konterrevolution gebrochen hatten. Ein Genosse, der einer der Mitbegründer der ersten Spartakist-Gruppen in Ostberlin war, schilderte, wie die Unterdrückung jeder politischen Diskussion durch die Stalinisten dazu führte, dass sich Kritiker der Opposition der Bürgerbewegung unter dem Schutzmantel der Kirche zuwandten. Ursprünglich hatte er sich gedacht, dass der Abzug der Roten Armee aus Afghanistan 1988/89 ein Verrat war und dass man dort gegen die Mudschaheddin kämpfen sollte. Als er sich damit bei den Diskussionen mit anderen Oppositionellen völlig isoliert fand, glaubte er letztlich selber, dass er falsch lag. Erst durch den Kontakt mit uns wurde er wieder zu seiner ursprünglichen Meinung gewonnen. Es hatte ihn sehr beeindruckt, wie der Raum in unserem damaligen öffentlichen Treffpunkt im Halkevi (linkes Zentrum) voller Leute war, die heftig rauchend eifrig über Arbeiterräte und Revolution diskutierten, während ein Banner an der Wand hing: „Für den Kommunismus von Lenin, Liebknecht, Luxemburg“. So hatte er sich die Bolschewiki in den 1920er-Jahren vorgestellt.

Ein Hallenser Teilnehmer meinte, dass wir Linken heutzutage nicht das Recht hätten, Leute wie Ernst Thälmann, die ihr Leben gelassen haben, die zum Teil gefoltert wurden, als Verräter abzustempeln. Nach der Konterrevolution sollten viele Schulen, die die Namen von Thälmann, Pieck, Liebknecht oder Luxemburg trugen, umbenannt werden. Viele Eltern haben diese Namen verteidigt, und er meinte, dass sie Recht damit hatten, und zwar nicht nur deshalb, weil er selber Thälmannpionier war, sondern auch weil diese Namen dafür stehen, dass einfache Arbeiter zum Marxismus fanden. Genossen erklärten, dass es bei der Kritik nicht um die Person Thälmanns geht, sondern darum, die politischen Lehren aus dem Verrat der KPD-Führung von 1933 zu ziehen. Natürlich verteidigen wir Thälmann gegen die deutsche Bourgeoisie, die Thälmann hasst, weil er für sie für Sowjetunion und Sozialismus steht. Von den Stalinisten in der DDR wurde ein Thälmannkult betrieben, der die Schuld für die Niederlage 1933 von den Schultern der stalinistischen Komintern- und KPD-Führung auf die deutsche Arbeiterklasse abwälzen sollte. Damit soll auch weggewischt werden, dass die Trotzkisten damals das richtige Programm aufgezeigt haben, die Nazis zu stoppen, nämlich dass die KPD die SPD in eine Einheitsfront hätte zwingen müssen, um die Nazis zu zerschlagen. Die SPD-Basis und die Arbeiter in den SPD-geführten Gewerkschaften wollten kämpfen, und das hätte die KPD ausnutzen müssen, anstatt die SPD mit den Nazis in einen Topf zu werfen mittels der Sozialfaschismus„theorie“. Thälmann wurde von den Nazis ermordet, wie Abertausende kommunistische und sozialdemokratische Arbeiter auch (siehe auch „Stalin/Thälmann und ihre ‚Dritte Periode‘“, Spartakist Nr. 69, 24. April 1990, und Nr. 70, 8. Mai 1990).

Ein Sympathisant aus Halle, der 1989/90 bei der Vereinigten Linken aktiv war, betonte, dass für ihn die Frage der Volksfront zentral war, um mit der VL und ihrem Konzept der „Einheit der Linken“ zu brechen. Tatsächlich haben die Stalinisten in der DDR den Arbeitern jahrelang ihr Klassenbewusstsein mit einem volksfrontlerischen Weltbild, das Klassenkampf leugnend die Welt in „progressive“ und „reaktionäre“ Völker unterteilt, vergiftet. Die Volksfront ist die falsche Lehre, die aus dem selbstmörderischen Sektierertum der Komintern Anfang der 1930er-Jahre gezogen wurde. Die Volksfront ist ein Bündnis zwischen proletarischen und „progressiven“ bürgerlichen Kräften, beschränkt auf einen rein bürgerlichen Rahmen. Sie ist das Gegenteil der leninistischen Einheitsfront, die auf dem Prinzip „Klasse gegen Klasse“ basiert, d. h. Einheit der Arbeiter in der Aktion, im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie, trotz der grundsätzlichen Spaltung der Arbeiterbewegung in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel. Von Stalin und der Komintern auf dem VII. Weltkongress 1935 verkündet, wurde die Volksfront zu einem der Hauptinstrumente, proletarische Revolutionen zum Entgleisen zu bringen. Ob Frankreich und Spanien Mitte der 1930er-Jahre oder Chile 1973: Die Volksfront ist der Todfeind jeder Revolution.

Insgesamt war die Veranstaltung sehr erfolgreich und nahezu alle Teilnehmer blieben die ganzen acht Stunden von Anfang bis Ende, woran sich bei vielen noch weitere Diskussionen in den Kneipen und Cafés rund um den Veranstaltungsort anschlossen.

* * * *

Die Feiern der Bourgeoisie zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin spielten sich während der heftigsten Wirtschaftskrise der kapitalistischen Welt seit den 1930er-Jahren ab. Auch wenn die Bourgeoisie behauptet, der Kommunismus sei seit 20 Jahren tot und beerdigt, so ist sie doch nicht so degeneriert, dass sie ihre eigenen Lügen wirklich glaubt. Die Bourgeoisie weiß, früher oder später wird die Arbeiterbewegung wieder aufstehen. Sie kann diesen Moment mit ihren antikommunistischen Kampagnen hinauszögern, verhindern kann sie ihn nicht. Unsere Aufgabe als proletarische Revolutionäre ist es, sich darauf vorzubereiten, und dazu gehört auch das Wissen darüber, wie die kapitalistische Konterrevolution in der DDR siegen konnte.

Der Fall der Berliner Mauer

Im Sommer 1989 wurde offensichtlich, dass sich die DDR in einer tiefen Krise befand. Im Frühjahr musste die Regierung die Wahlergebnisse der Kommunalwahlen fälschen, obwohl sie diese eigentlich schon bürokratisch kontrollierte. In China unternahm das Proletariat, ausgelöst durch die Studentenproteste am Tiananmenplatz, die ersten Schritte einer proletarisch-politischen Revolution, was dann aber Anfang Juni von den chinesischen stalinistischen Bürokraten im Blut erstickt wurde. Diese Ereignisse hinterließen einen starken Eindruck in der DDR. Es gab große Illusionen in die Anfang 1985 vom neuen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow verkündete Politik von „Perestroika“-Marktreformen und politischen „Glasnost“-Liberalisierungen. Gorbatschow wollte den vergreisten Erich Honecker an der DDR-Spitze durch jemanden ersetzen, der seine Marktreformen unterstützen würde. Dies förderte die Herausbildung einer Opposition zur Honecker-Regierung im Land. In Warschau übernahm im Sommer die konterrevolutionäre Solidarność die Regierungsgewalt von der abdankenden polnischen stalinistischen Bürokratie. Anfang September öffnete Ungarn seine Grenze nach Österreich für DDR-Bürger, was eine große Ausreisewelle auslöste, und wurde dafür mit 500 Millionen DM an neuen Krediten belohnt. In vielen DDR-Betrieben mussten Arbeiter deshalb wegen Arbeitskräftemangel Extraschichten arbeiten. Gleichzeitig gab Gorbatschow als Teil seiner „Marktsozialismus“-Reformen bekannt, dass die Sowjetunion Öl und Rohstoffe nur zu Weltmarktpreisen und konvertierbaren Währungen an die anderen deformierten Arbeiterstaaten verkaufen würde. Die wirtschaftliche Situation in der DDR war schlimmer, als es selbst den Mitgliedern von Honeckers Regierung bekannt war.

Es wurde klar, dass die DDR nicht auf die alte Weise weitermachen konnte. Anfang Oktober 1989 fingen Demonstrationen im Süden der DDR an und wuchsen von Woche zu Woche. Honecker wollte bewaffnete Kräfte gegen die Demonstranten einsetzen, aber große Teile der betroffenen Betriebskampfgruppen waren dazu nicht bereit, und Gorbatschow und das Kommando der Roten Armee in der DDR sagten Nein. Am 17. Oktober wurde Honecker gestürzt.

Heute sind wir ständig der bürgerlichen Propaganda ausgesetzt, dass alle Ostdeutschen damals nichts anderes wollten als die kapitalistische Wiedervereinigung mit dem kapitalistischen Westdeutschland. Das ist eine große Lüge im Stile von Joseph Goebbels. Die Masse der ostdeutschen Arbeiter, Studenten und Soldaten wollten die DDR vor dem Zusammenbruch durch die Politik der stalinistischen Herrscher retten. Eine Unterschriftensammlung „Für unser Land!“ erhielt die Unterstützung von fast 1,2 Millionen. Mit „Unser Land!“ meinten sie die DDR. Die einzige Grundlage für die eigenständige Existenz der DDR war, dass sie auf einer anderen Klassenbasis beruhte als das kapitalistische Westdeutschland, d. h. dass sie ein Arbeiterstaat war (wenn auch bürokratisch deformiert). Das war dann auch, mehr oder weniger klar verstanden, der einzige vernünftige Grund, warum so viele für eine fortgesetzte Existenz der DDR eintraten: Ablehnung des Kapitalismus und Eintreten für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Am 4. November 1989 gab es eine Demonstration in Ostberlin mit knapp einer Million Teilnehmern. Neben bürgerlich-demokratischen Parolen, Losungen für Reisefreiheit und gegen die SED konnte man auch explizit prosozialistische Banner und Losungen sehen wie „Für kommunistische Ideale – Keine Privilegien“, „Bildet Räte“ und so weiter. Fünf Tage später fiel die Berliner Mauer.

Das Internationale Exekutivkomitee der Internationalen Kommunistischen Liga hatte Ende Oktober einen Bericht über die offene Situation in der DDR erhalten und traf sich vom 9. bis 11. November 1989. 24 Stunden später flogen die ersten führenden Genossen nach Deutschland, um die Trotzkistische Liga Deutschlands, damals die deutsche Sektion der IKL, zu unterstützen bei ihrer Intervention in diese vorrevolutionäre Situation, um der ostdeutschen Arbeiterklasse revolutionäre Führung zu geben. Im Verlauf dieser Intervention – die größte, welche die IKL jemals unternahm – hatten wir ein Drittel unserer Mitgliedschaft vor Ort. Wir warfen alles hinein, was wir hatten. Am 15. November erschien unser Flugblatt „Arbeiterräte an die Macht!“ (nachgedruckt in Spartakist Nr. 180, November 2009). Davon verteilten wir 200 000 während der nächsten zwei Wochen. Zu dieser Zeit erhöhte Spartakist seine Erscheinungsweise von zweimonatlich auf wöchentlich bis zweiwöchentlich.

Am 7. Dezember brachten wir die erste Ausgabe von ArprekorrArbeiterpressekorrespondenz – heraus, zeitweise täglich erscheinend, als kollektiver Organisator der Avantgarde der Arbeiterklasse und als das Werkzeug, die Partei aufzubauen, die notwendig war, um die proletarisch-politische Revolution zu führen. Die Propaganda wurde uns förmlich aus den Händen gerissen. In allen größeren Städten bildeten sich Gruppen von Jugendlichen oder Arbeitern, die Arprekorr verteilten und die wir in den Spartakist-Gruppen organisierten.

Für ein rotes Arbeiterrätedeutschland!

Wir intervenierten mit unserem Programm für ein rotes Arbeiterrätedeutschland, für die revolutionäre Wiedervereinigung durch proletarisch-politische Revolution im Osten, um die stalinistische Bürokratie rauszuwerfen, und für sozialistische Revolution im Westen, um die Bourgeoisie zu stürzen. Wir verstanden, dass Deutschland entlang einer Klassenlinie geteilt war und dass die Frage stand: revolutionäre oder konterrevolutionäre Wiedervereinigung. Also machten wir unsere Opposition zu Letzterer klar mit unserer Losung „Kein Ausverkauf der DDR!“. Von diesem Standpunkt aus kämpften wir für eine revolutionäre Partei in Ost und West. Wir schickten Mitglieder der ostdeutschen Spartakist-Gruppen auf Tour durch das Ruhrgebiet, das industrielle Kernland des deutschen Kapitalismus.

In der DDR trafen wir auf eine widersprüchliche Form von falschem Bewusstsein, das auf den Lügen und Entstellungen des Stalinismus basierte. Diese volksfrontlerische Weltanschauung setzte falsche Kategorien wie „friedliebende Länder“, „progressive Völker“ oder „Flügel“ des Imperialismus an die Stelle einer revolutionären Weltanschauung, die auf einer Perspektive des Klassenkampfes basiert. Viele in der DDR dachten: „Wir leben in diesem beschützten ,Sozialismus in einem halben Land‘ und da draußen gibt es eine im Grunde genommen unveränderliche, feindliche Welt ohne Klassenwidersprüche.“ Unser Programm für eine revolutionäre Wiedervereinigung ging dagegen an, aber es gab weitverbreiteten Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Westdeutschland.

Die Möglichkeit einer politischen Revolution in der DDR stellte sich schon vor Jahrzehnten im Juni 1953. Mit Stalins Tod im März desselben Jahres sahen die ostdeutschen Arbeiter revolutionäre Möglichkeiten und begannen eine proletarisch-politische Revolution. Hennigsdorfer Metallarbeiter demonstrierten durch Westberlin, forderten eine Metallarbeiterregierung und an der Bahnstrecke nach Westdeutschland hielten DDR-Arbeiter ein Banner, gerichtet an ihre Klassenbrüder im Westen: „Räumt ihr den Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!“ Der damalige sowjetische Führer Chruschtschow mobilisierte Panzer der Sowjetarmee, was die ostdeutschen Stalinisten unter Walter Ulbricht, dem Vorgänger von Honecker, rettete. Diese proletarische Revolte wurde von den Stalinisten völlig zu Unrecht als „faschistischer Putsch“ verleumdet, denn die Stalinisten wollten jede Opposition gegen ihre Misswirtschaft im Arbeiterstaat als unvermeidlich kapitalistisch-konterrevolutionär darstellen.

In der keimenden politischen Revolution, die im Herbst 1989 anfing, riefen wir zur Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten auf, wie jene in Russland im Oktober 1917. Arbeiter aus Fabriken kamen zu uns und fragten uns, wie man das macht. Wir erklärten, jede Fabrik würde ihre Delegierten wählen, die jederzeit abrufbar sind, die nicht mehr bezahlt bekommen als ein normaler Arbeiter und die verantwortlich dafür sind, die Politik in den Arbeiterräten zu entscheiden, d. h. wie man den Ausverkauf der Fabrik verhindert, wie man die Faschisten stoppt und Wohnviertel von ausländischen Arbeitern schützt, und letztendlich wie man die gesamte Gesellschaft regiert. Diese Räte würden die Organe der proletarischen Diktatur sein, entscheiden, was und wieviel zu produzieren ist usw.

Gegen unsere Forderung von 1989/90, „Arbeiter- und Soldatenräte an die Macht!“, machten Kapitalisten, Sozialdemokraten, stalinistische Kombinatsdirektoren und DDR-Oppositionsgruppen wie die Vereinigte Linke (VL) eine Kampagne für Betriebsräte und Mitbestimmung. In Spartakist Nr. 68 vom 1. März 1990 berichteten wir:

„Der PDS-Vorsitzende Gregor Gysi sagte am 7. Januar in einem Referat zum Auftakt der Wahlkampagne, ,Mitbestimmung der Werktätigen‘ sei im Falle von ,Joint Ventures‘ notwendig, und Betriebsräte seien eine Form der ,Demokratisierung der Wirtschaft‘.“

Wir warnten:

„Im Gegenteil, hier geht es um den Ausverkauf unserer Wirtschaft, unserer VEBs, der Arbeiter, der DDR.“

Den DDR-Arbeitern sollte verschleiert werden, dass sie mit dem Ausverkauf ihrer Betriebe an das westdeutsche Kapital als Klasse entmachtet werden sollten. „Mitbestimmung“ ist eine klassenkollaborationistische Illusion in eine Versöhnung der Interessen der Ausgebeuteten mit ihren Ausbeutern; dies zeigte sich dann nach der Wiedervereinigung, als die DDR-Industrie von der Bourgeoisie mittels der Treuhand zerschlagen wurde.

Aber auf einer Betriebsrätekonferenz, zu der die VL-Initiativgruppe aufgerufen hatte, hatten Berichte über die realen Bedingungen der „Mitbestimmung“ in der Bundesrepublik eine „ernüchternde“ Wirkung, schrieb das Neue Deutschland am 5. Februar 1990. Wir antworteten am 1. März darauf:

„So dient der Aufruf zu Betriebsräten oft dazu, ein Programm für die Restauration des Kapitalismus zu verschleiern… In unserem ,Offenen Brief an alle Kommunisten‘ (Arprekorr Nr. 18, 12. Januar) schrieben wir: ,Die SED-PDS schlägt jetzt vor, Betriebsräte zu bilden, „bevor das Kapital kommt“ (ND vom 11. Januar). Die Spartakisten rufen auf, Arbeiter- und Soldatenräte zu bilden, um zu verhindern, dass das Kapital kommt!‘“

In der DDR gab es Fabrikmilizen – die Kampfgruppen. Sie wurden gegründet, um einen weiteren 17. Juni 1953 zu verhindern, aber sie sahen sich selbst als Verteidiger des Arbeiterstaats auf der Fabrikebene. Es gab Abteilungen in jeder Fabrik, mit Zugang sogar zu schweren Waffen wie Artillerie und Panzern. Nach einer Zusammenfassung eines Berichts der Stasi – Ministerium für Staatssicherheit (MfS) – vom 23. Oktober 1989 weigerten sich die Kampfgruppen, als sie zur Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR den Einsatz von Schlagstöcken trainieren sollten: „Schon zu Beginn des Jahres 1989 haben viele Kampfgruppenangehörige dagegen protestiert, dass sie für Straßenkämpfe ausgebildet werden sollten. Ein entsprechender Ausbildungsplan musste fallen gelassen werden.“

Wir Trotzkisten finden es nicht überraschend, dass der Versuch schiefging, die Arbeiterklasse zu bewaffnen, um eine proletarisch-politische Revolution zu verhindern. Das trifft auch insofern zu, als die Kampfgruppen eine SED-Parteimiliz waren, schließlich liefen auch 1953 große Teile der SED bis in die Führung hinein zu den aufständischen Arbeitern über. Zum Beispiel schickte Ulbricht zwei Kader aus seinem 20-köpfigen Sekretariat nach Rostock zur Warnow-Werft, um dort die Streiks und Demonstrationen zu beenden. Doch die beiden taten was anderes: Sie verbreiteten die Forderungen der Arbeiter über den Werksrundfunk! Im November 1989, als die SED-Parteiorganisationen auf Fabrikebene verschwanden, hatten die Kampfgruppen das sehr reale Potenzial, zum Kristallisationspunkt für eine proletarisch-politische Revolution zu werden. Es war also eine sehr bewusste Entscheidung der Stalinisten, diese Einheiten Anfang Dezember aufzulösen und damit die Arbeiterklasse zu entwaffnen.

Aufgrund unserer Propaganda gründeten Einheiten der ostdeutschen Armee – der Nationalen Volksarmee (NVA) – Soldatenräte. Wir wissen, dass unser erstes Flugblatt mit dem Aufruf zur Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten innerhalb der NVA per Fax an alle Dienststellen verbreitet wurde. Einige dieser Räte verbreiteten Arprekorr innerhalb der Armee. Mehrmals begegneten wir auf Demos und bei Verkäufen Soldaten, die uns erklärten: Wir sind Spartakisten! Es waren diese Einheiten, die von den Stalinisten im Januar in Panik aufgelöst wurden.

Hier kann man etwas von dem Unterschied zwischen einem Arbeiterstaat, selbst einem deformierten, und einem kapitalistischen Staat erkennen. Wie Engels vor mehr als 100 Jahren erklärte, besteht der Staat im Kern aus bewaffneten Einheiten, die eine bestimmte Eigentumsordnung verteidigen. Er besteht im Kern aus der Polizei, der Armee, den Gefängniswärtern. Der Staat verteidigt die Produktionsform und die Gesellschaftsklasse, die die Produktionsverhältnisse beherrscht. Im kapitalistischen Staat sind das das Privateigentum an den Produktivkräften und die Kapitalistenklasse, der dieses Eigentum gehört. In den ostdeutschen bewaffneten Kräften (in der NVA) gab es viele Soldaten und Offiziere, die es als ihre Aufgabe ansahen, den Sozialismus zu verteidigen. Im Gegensatz dazu verstehen die Offiziere in der Bundeswehr, wie auch schon ihre Vorgänger von Reichswehr und Wehrmacht, sehr gut, dass sie die letzte Bastion der kapitalistischen Ordnung sind, dass sie auch im Falle eines Bürgerkriegs zu Hause aufständische Arbeiter erschießen werden.

Bei unserer Intervention in der DDR 1989/90 riefen wir zu einer leninistisch-egalitären Partei auf. Anfang Dezember 1989 gab es einen außerordentlichen Parteitag der SED, der mehrere Tage dauerte. Sie warfen die alte Führung raus und fügten zu ihrem alten Namen „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) hinzu. Das verstärkte die Illusionen vieler prokommunistischer Arbeiter und Basismitglieder der SED, dass die SED-PDS, wie sie jetzt hieß, für ihre Interessen reformierbar sei. Aber das war sie nicht. Die SED-PDS bezog sich nicht auf Lenin, was auch vorher schon ein Hohn war, sondern bekannte sich jetzt zu Eduard Bernstein, dessen Reformismus Rosa Luxemburg in der SPD bekämpft hatte. Und zu Karl Kautsky, der die bürgerliche Demokratie von Weimar der Oktoberrevolution in Russland von 1917 positiv entgegenstellte. Die SED-PDS versprach, eine profitbeherrschte kapitalistische Gesellschaft zu verhindern. Gleichzeitig befürwortete sie marktorientierte Reformen und lobte Kanzler Helmut Kohls Programm für konföderative Strukturen, die in Wirklichkeit die DDR im kapitalistischen Westdeutschland aufgehen lassen sollten.

Wir riefen dagegen zu einer leninistisch-egalitären Partei auf. Mit dem Begriff „egalitär“ machten wir klar, dass wir gegen bürokratische Privilegien waren, dass wir nicht die alte SED reformieren wollten, sondern dass wir eine wirklich kommunistische Partei der Arbeiterklasse meinten. Bewusst riefen wir nicht zum Aufbau einer neuen KPD auf, weil dies in den Augen der ostdeutschen Arbeiter gehießen hätte, die bürokratisch verknöcherte stalinistische Partei von Ernst Thälmann wieder aufzubauen, die komplett dabei versagt hatte, die Machtergreifung des Nationalsozialismus zu verhindern. Nur die trotzkistische Opposition innerhalb und außerhalb der KPD hatte vor 1933 ein Programm dafür, der Bourgeoisie, die auf den Faschismus setzte, die Macht durch eine sozialistische Revolution zu entreißen.

An den zwei Wochenenden des außerordentlichen Parteitags der SED (8./9. und 16./17. Dezember 1989) verkauften wir Tausende Exemplare unserer Propaganda und viele Ausgaben eines Nachdrucks von Trotzkis Verratene Revolution. Am meisten Zuspruch erfuhren wir von SED-Basismitgliedern, also denjenigen, die den Parteitag versorgten, darunter einige Kundschafter von Markus Wolf, dem ehemaligen Chef der DDR-Auslandsspionage (HVA) der Stasi. Große Teile der Berliner SED-Basis hatten auf Demonstrationen am 8. und 10. November 1989 mit bis zu 150 000 Teilnehmern gezeigt, dass sie für Sozialismus kämpfen wollten. Sie hatten immer wieder vor dem SED-ZK-Gebäude eine Reform der SED gefordert. Die Bestrebungen von vielen nach einer neuen „kommunistischen Partei“ wurden durch die Gründung der Kommunistischen Plattform als Spielwiese innerhalb der SED-PDS in Zusammenarbeit mit Gregor Gysi bekämpft. Sie diente vor allem dazu, Demoralisierung und Hoffnungslosigkeit darüber zu verbreiten, dass es keine Alternative zur kapitalistischen Wiedervereinigung gäbe. 2007 veröffentlichte sie folgendes als Abgesang auf proletarische Revolutionen in den imperialistischen Ländern:

„Spätestens zu diesem Zeitpunkt [1983/84] war es klar, dass ein revolutionärer Aufbruch in den entwickelten kapitalistischen Ländern und ein rascher Zusammenbruch der imperialistischen Herrschaft nicht auf der Tagesordnung stand. Die einzig realistische Perspektive war die längerfristige Koexistenz beider Systeme, in der sich zu erweisen hatte, welche Seite es besser vermag, die objektiven Erfordernisse des Friedens und des Fortschritts in der gegenwärtigen Etappe der Menschheitsentwicklung zu realisieren. Es ging darum, Formen zu finden, die dem epochalen Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus eine Bewegung verleihen, die nicht in einem Kernwaffenkrieg mündet.“ (Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Juli 2007)

Proletarischer Internationalismus

Schlüssel für den Kampf für die revolutionäre Wiedervereinigung Deutschlands, um Arbeiter- und Soldatenräte und eine neue leninistisch-egalitäre Partei zu schmieden, war der Kampf für proletarischen Internationalismus gegen alle Formen von Nationalismus und Rassismus. Es gab eine recht große Anzahl Arbeiter aus Vietnam, Kuba, Mosambik, Angola und Polen in der DDR. Aber sie hatten keine Staatsbürgerrechte. Ein Großteil von ihnen musste getrennt vom Rest der Bevölkerung leben, und obwohl sie formell dieselben Löhne erhielten, wurden diese nicht immer an sie ausgezahlt. Wenn eine vietnamesische Arbeiterin in der DDR schwanger wurde, wurde sie nach Vietnam zurückgeschickt. Das war das völlige Gegenteil des Arbeiterstaates, den die Bolschewiki aufgebaut hatten und für den wir kämpfen. Eines der ersten Gesetze, die in Sowjetrussland nach der Revolution 1917 in Kraft traten, war, dass jeder, der dort lebt und nicht Arbeiter oder Bauern ausbeutet, volle Staatsbürgerrechte hat.

Wir stellten die Forderung auf: „Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten!“ Das war zentral, um gegen rassistische Spaltungen in der Arbeiterklasse zu kämpfen. In Arprekorr veröffentlichten wir internationalistische Grüße in verschiedenen Sprachen: Vietnamesisch, Portugiesisch, Polnisch, Spanisch und auch Russisch. Auch konnten diese Arbeiter eine lebendige Brücke bilden, um die Partei aufzubauen und die Revolution in ihre Heimatländer zu tragen. Aus genau diesem Grund befahl das stalinistische Castro-Regime allen kubanischen Arbeitern und Studenten in der DDR, dass sie nach Kuba zurückkehren sollen, damit sie nicht mit proletarisch-politischer Revolution und der Idee der Herrschaft der Arbeiterräte infiziert werden. Ebenso wichtig war unsere bedingungslose militärische Verteidigung der Sowjetunion. Es gab in der DDR tiefe prosowjetische Gefühle. Die Rote Armee hatte das Naziregime zerschlagen und sie war lebensnotwendig für die Verteidigung gegen die NATO. Im Gegensatz zu den anderen osteuropäischen Staaten konnte es in der DDR keinen „Nationalkommunismus“ – Stalinismus in nationalistischen antisowjetischen Farben – geben. Bis Ende 1989 landeten antisowjetische SED-Dissidenten nach nicht allzu langer Zeit bei der West-SPD (oft genug wurden sie erst durch die stalinistischen Bürokraten zu Antikommunisten gemacht, wie z. B. Wolf Biermann). Die antikommunistischen Pfaffen der Anfang Oktober 1989 gegründeten ostdeutschen SDP verhinderten das dann und schnitten die vereinigte SPD davon ab, ihren Anteil aus der SED zu bekommen. Leute wie PDS-Führer Berghofer, die die PDS verlassen hatten, wurden Anfang 1990 an der Tür abgewiesen. Unsere prosowjetische Haltung machte uns populär bei den Teilen der SED-Basis, die für Sozialismus kämpfen wollten.

Die Resonanz unseres Programms war nicht auf Ostdeutschland beschränkt. Immigrierte Arbeiter aus der Türkei sind ein strategischer Bestandteil der westdeutschen Arbeiterklasse, konzentriert in Schlüsselindustrien. Und sie sind viel entfremdeter von der westdeutschen Sozialdemokratie, deren rechter Flügel mit Sarrazin und Buschkowsky offen rassistische Hetze gegen sie betreibt. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn die SPD verteidigt insgesamt diese rassistische bürgerliche Gesellschaft.

Unser Westberliner Büro war in einem Zentrum türkischer Immigranten, das sich Halkevi nannte. Sie überließen uns einen großen Teil ihrer Räume, weil sie verstanden, dass ein wiedervereinigter deutscher Imperialismus verstärkten deutschen Nationalismus und rassistischen Terror bedeuten würde. Eine erfolgreiche proletarisch-politische Revolution im Osten dagegen würde ein großer Schlag gegen Rassismus sein und ein großer Schritt und eine Inspiration für eine soziale Revolution in Westdeutschland.

Eine zentrale Achse unseres proletarischen internationalistischen Kampfes war unser Aufruf für die revolutionäre Einheit des deutschen, polnischen und sowjetischen Proletariats. Unsere Arbeit gegenüber der Roten Armee war ein Teil dieser Perspektive, das Programm von Lenin und Trotzki zurück in die Sowjetunion zu tragen. Die DDR stand dem westdeutschen Imperialismus, einer der stärksten imperialistischen Mächte der Welt, und seiner Armee, der zweitstärksten in der NATO, direkt gegenüber. Die deutsche Bourgeoisie und die U.S.-Imperialisten traten auf den Plan um die beginnende politische Revolution zu stoppen, indem sie deutschen Revanchismus unterstützten. Neonazis verübten Provokationen gegen Soldaten der sowjetischen Truppen in der DDR, die die entscheidende militärische Kraft an der NATO-Frontlinie waren.

Sehr wichtig war der Kampf gegen antipolnischen Chauvinismus, wovon es in der DDR eine Menge gab. Zum Beispiel hatte die Modrow-Regierung Einkaufsverbote gegen Polen erlassen. Unsere internationalistischen Grüße an die polnischen Arbeiter waren sehr wichtig. Im Mai 1990 veröffentlichten wir auch einen „Brief an die polnischen Arbeiter“, der sowohl in der DDR als auch in Polen verteilt wurde. Eine Gruppe, die aus der Jugendorganisation der polnischen stalinistischen Partei kam, kriegte diesen in ihre Hände. Sie schrieben uns zurück, wir kontaktierten sie und daraus entstand unsere polnische Sektion, die Spartakusowska Grupa Polski. Mehr darüber später von einem Genossen der SGP selbst (siehe Seite 7).

Der Schlüssel dafür, uns an die polnischen Arbeiter zu wenden, war unser kompromissloser Kampf gegen die von Vatikan, CIA und Frankfurter Bankiers unterstützte Solidarność. Sie war gerade 1989 an die Macht gekommen und führte die Konterrevolution. Stellt euch einfach mal die Wirkung auf ostdeutsche Arbeiter vor, wenn Streiks in Polen gegen die Angriffe auf die Arbeiterklasse wegen der Konterrevolution zu dieser Zeit ausgebrochen wären. Oder umgekehrt, wie eine erfolgreiche proletarisch-politische Revolution die polnischen Arbeiter inspiriert hätte, Solidarność zu stürzen. Es gibt eine Tradition, die auf Rosa Luxemburg zurückgeht, eine der hervorragendsten Führerinnen der deutschen Arbeiterklasse, die polnisch-jüdischer Herkunft war und zuvor Führerin der revolutionären polnischen Arbeiterpartei SdKPiL.

Die revolutionäre Zeitung

In seiner Polemik von 1902, Was Tun?, erklärt Lenin, dass die Zeitung der kollektive Organisator der revolutionären Partei ist. Genau das konnte man im realen Leben mit unserer Tageszeitung Arprekorr und unserem zweiwöchentlichen Spartakist sehen. Die erste Arprekorr kam Anfang Dezember heraus, gegen Ende Dezember bestand ein großer Teil unserer Arbeit darin, Pakete über Pakete jeder Ausgabe per Autokurier oder Bahn und Post in alle Teile der DDR zu verschicken. Wir verkauften zehn- bis zwölftausend Arprekorr pro Tag – durchschnittlich.

Arbeiter und Jugendliche rissen sich um unsere Zeitung und wir erhielten in 4 Monaten 500 Leserbriefe, allein im Januar 180. Aber das heißt nicht, dass sie unsere Sicht der Welt teilten. In Diskussionen und in diesen Briefen trafen wir – wie schon erwähnt – auf viele Formen falschen Bewusstseins. Die Stalinisten hatten jahrzehntelang die Lüge verbreitet, dass Trotzki ein Konterrevolutionär war – sozialdemokratisch, faschistisch oder sogar beides. Wir bekamen Briefe von Studenten und Arbeitern, die sagten: „Wir stimmen vollkommen mit dem überein, was ihr schreibt, und wollen auch dafür kämpfen, aber wie könnt ihr euch Trotzkisten nennen?“ Um die Lügen, die von den Stalinisten verbreitet wurden, zu bekämpfen, brachten wir eine Ausgabe unserer internationalen viersprachigen Zeitschrift Spartacist heraus (deutsche Ausgabe Nr. 14, Winter 1989/90) mit dem Titel „Trotzkismus: Was er nicht ist – und was er ist“.

Berlin-Treptow, 3. Januar 1990

Ein bis zwei Wochen nachdem die erste Ausgabe von Arprekorr erschienen war, wurde sie in allen größeren Städten Ostdeutschlands verteilt. Diejenigen, die sie verteilten, taten das, weil sie damit übereinstimmten, wofür wir kämpften. Die Rolle der Zeitung als kollektiver Organisator der Partei war 1989/90 auf explosive Weise sichtbar. Das Wichtigste war, die Gruppen, die Arprekorr verbreiteten wie in Halle und anderswo, wirklich zu organisieren, Kommunikation herzustellen und sie politisch zu trainieren, weil die Spartakist-Gruppen das Mittel waren, die revolutionäre Partei aufzubauen, die notwendig war, um die politische Revolution zu führen. Sie waren ein Mittel, die Macht unseres Programms über die Macht der Organisation in Staatsmacht umzuwandeln, in die Herrschaft der Arbeiterklasse in der Gesellschaft. Die erste Spartakist-Gruppe wurde in Berlin am 16. Dezember 1989 gegründet. Sieben Wochen nachdem wir unser erstes Flugblatt in Ostberlin verteilt hatten, sprachen wir bei der prosowjetischen und Pro-DDR-Kundgebung von 250 000 in Treptow – ein Gegenpol zu den Montagsdemonstrationen Mitte Dezember 1989 im Süden der DDR, wo Kohl mit Deutschlandfahnen bejubelt wurde.

Am 8. November 1999, dem zehnten Jahrestag des Falls der Mauer, wurde im deutschen Fernsehen eine Talkshow mit Michail Gorbatschow, ehemaliger Präsident der Sowjetunion, Helmut Kohl, Ex-Bundeskanzler des deutschen Imperialismus, und dem Ex-US-Präsidenten Bush gesendet. Sie plauderten darüber, wie sie 1990 die Konterrevolution in der DDR organisiert hatten, und Gorbatschow sagte:

„Wir haben unseren Standpunkt zum Prozess der Vereinigung Deutschlands unter der Einwirkung der Ereignisse geändert, die sich in der DDR entwickelten. Und eine besonders kritische Situation ergab sich im Januar. Von der Natur der Dinge her lief ein Zerfall der Strukturen. Es gab eine Gefahr – eine Gefahr der Desorganisation, der großen Destabilisierung. Wenn Sie so wollen, fing das am 3. Januar an, und weiter fast jeden Tag.“

Gorbatschow redete offensichtlich von der Kundgebung am 3. Januar in Treptow. Vor zwei Wochen wiederholte er praktisch das Gleiche in einem Interview mit Le Monde am 6. November: „Nach den Feiern zu Weihnachten und Neujahr sah man überall in Deutschland Massendemonstrationen. Für mich war dies das Signal, dass es unvermeidbar war, meine Politik zu ändern.“

Am 3. Januar 1990 kamen mehr als 250 000 Menschen zu einer antifaschistischen, prosowjetischen, pro-sozialistischen Mobilisierung zum sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, das zu Ehren der Soldaten der Roten Armee errichtet worden war, die ihr Leben im Kampf zur Befreiung Berlins von den Faschisten gegeben hatten. Sie kamen, um gegen die Schändung des Ehrenmals durch Faschisten Ende Dezember 1989 zu protestieren. Und es waren wir, die Trotzkisten, die diese Einheitsfront initiierten. Wir verteilten 130 000 Flugblätter vor und in Ostberliner Fabriken, in Arbeiterbezirken, vor S-Bahnstationen und besonders an ausländische Vertragsarbeiter. Und wir sagten: „Die grauenhafte Schändung des Ehrenmals für die gefallenen sowjetischen Helden am 28. Dezember in Treptow ruft Abscheu und Empörung bei Millionen Arbeitern und weiten Schichten der Bevölkerung der DDR hervor. Diese Provokation richtet sich genauso gegen unseren Arbeiterstaat, der auf den Ruinen des Hitler-Faschismus errichtet worden ist.“

Wir warnten: „Noch ist der wieder aufsteigende Faschismus eine extremistische Randerscheinung. Er würde erneut die ganze Menschheit bedrohen, sobald die ersten Krisen in einem wiedervereinigten Großdeutschland auftauchen. Heute ist die SPD/SDP das Hauptinstrument, ein solches Großdeutschland herbeizuführen. Jetzt das vielköpfige faschistische Ungeheuer abzuwürgen heißt, diesem sozialdemokratischen Vordringen Einhalt zu gebieten.“ Und wir betonten: „Die Sozialdemokratie ist das Trojanische Pferd der Konterrevolution!“ Wir forderten: „Für gemeinsame Arbeitermilizen unter der Kontrolle von Arbeiter- und Soldatenräten! Arbeiter- und Soldatenräte an die Macht! Für eine leninistisch-egalitäre Partei! Volle Staatsbürgerrechte für ausländische Arbeiter! Für das Wiederaufleben der Wirtschaft durch zentrale Planung unter Arbeiterräten! Kein Ausverkauf der DDR – Die DDR darf nicht das Panama des westdeutschen Imperialismus werden! Für ein rotes Rätedeutschland in einem sozialistischen Europa!“

Es waren die Fabrikarbeiter, die das Rückgrat unserer Mobilisierung bildeten. Zuerst weigerte sich die SED-PDS, sich dem Aufruf zu einer Demonstration anzuschließen. Aber als sie feststellten, dass die Ostberliner Betriebe hinter unserem Aufruf standen, sagte uns Lothar Bisky, einer der Führer der SED-PDS: „Ihr habt die Arbeiter“, und sie waren gezwungen, den Aufruf zu der Demonstration zu unterstützen. Bisky meinte nicht, dass wir sie schon in unseren Reihen organisierten, sondern dass unser Programm die Bestrebungen der prosozialistischen Arbeiter ausdrückte. Das Potenzial für das explosive Wachstum einer trotzkistischen Partei war real. Unser Programm fing an lebendig zu werden. In vielen Fällen wussten die SED-PDS-Führer mehr darüber als wir damals.

Und 250 000 hörten Trotzkismus gegen Stalinismus, die IKL gegen die SED-PDS. Es war das erste Mal seit Trotzkis Verbannung aus der UdSSR und der Zerschlagung der Linken Opposition dort in den späten 20er-Jahren, dass Trotzkisten vor einem Massenpublikum in einem deformierten Arbeiterstaat sprechen konnten. Ich zitiere aus der Rede unserer Genossin Renate:

„Eine politische Revolution, wie sie jetzt ausgebrochen ist und unter uns Raum greift, die sollten wir verteidigen.

Die wirtschaftliche Abschöpfung und politische Eingliederung in Etappen, wie sie durch den BRD-Imperialismus versucht wird und wo sie Hilfe bekommt von der SPD, kann diese politische Revolution in eine soziale Konterrevolution verändern. Das darf nicht geschehen! Dagegen ist es notwendig zu kämpfen!

Richtig, stoppt die Nazis durch Arbeitereinheitsfront! Wir müssen weiter denken. Unsere Wirtschaft leidet unter Verschwendung und Veralterung. Die Diktatur der SED-Partei hat gezeigt, dass sie untauglich ist, dagegen anzugehen…

Lenin sagt, Politik ist die Konzentration der Ökonomie. Der Kampf um die Macht, um diese Entscheidungen zu treffen und dieses Land zu regieren, muss liegen in den Händen von Arbeiterräten, damit rationelle vernünftige Entscheidungen gefunden werden können, zur Zufriedenheit der Mehrheit…

Die Sowjetunion wird sicher den gleichen Weg gehen, und das würde uns helfen, gemeinsam ökonomische und politische Probleme zu lösen, und unsere Staaten, unsere Arbeiterstaaten zu verteidigen, die im Moment im Übergang sind, die gebrochen sind vom Kapitalismus, aber noch nicht sozialistisch sind.

…wir kämpfen für die Schmiedung einer neuen Arbeiterpartei, gleiche Rechte, gleiche Pflichten, im Geiste von Lenin, Liebknecht und Luxemburg. Stoppt die Nazis durch Einheitsfrontaktion! Arbeiter- und Soldatenräte an die Macht! Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“

Wir schrieben in unserer Bilanz im Hauptdokument unserer Zweiten Internationalen Konferenz von 1992:

„Doch wie später Treptow zeigte, standen wir von Anfang an in einem politischen Kampf mit dem abdankenden stalinistischen Regime über die Zukunft der DDR. Während wir eine Regierung von Arbeiterräten forderten, handelten die Stalinisten bewusst, um einen Arbeiteraufstand dadurch zu verhindern, dass sie alle Armee-Einheiten demobilisierten, die auf unsere frühe Propaganda hin Soldatenräte gebildet hatten. Obwohl geprägt durch das Missverhältnis von Kräften, gab es eigentlich einen Wettstreit zwischen dem IKL-Programm der politischen Revolution und dem stalinistischen Programm von Kapitulation und Konterrevolution.“ („Für den Kommunismus von Lenin und Trotzki!“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 15, Frühjahr 1993)

Das war es, was sich in der Konfrontation der Programme auf der Rednertribüne in Treptow ausdrückte. Trotz des Missverhältnisses der Kräfte spürte Gorbatschow den Druck, den die Massen ausübten und dem wir einen politischen Ausdruck gaben. Er hat gehandelt, um den Revolutionären den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, bevor wir die Zeit hatten, starke Organisationen in den Betrieben aufzubauen.

„Linke“ Unterstützer der Konterrevolution

Unsere Trotzkismus-Broschüre war nicht nur eine Polemik gegen die Stalinisten, sondern auch gegen die vorgeblichen Trotzkisten gerichtet, von denen manche in der DDR intervenierten und die die Konterrevolution unterstützten. Sie kritisierten Teile der „Bürgerrechtsbewegung“ wie das Neue Forum nicht dafür, dass diese die „demokratische“ Konterrevolution propagierten – bürgerliche Demokratie war ja auch ihr eigenes Programm –, sondern dafür, dass das Neue Forum nicht entschlossen genug die SED stürzen wollte, nicht gewaltsam genug gegen Stasizentralen vorging. Heute sind die Sozialistische Alternative (SAV), marx21 und Gruppe Arbeitermacht (GAM) reformistische Anhängsel der Linkspartei – meist innerhalb als angebliche Opposition, wo sie dann Lafontaines „linke“ Reden bejubeln.

Die GAM spaltete sich von Tony Cliffs britischer Socialist Workers Party (heute in Deutschland marx21) in den späten 70er-Jahren ab. Sie bejubelte 1990 die Angriffe der rechtesten Elemente, einschließlich Faschisten, auf die Stasizentrale in Berlin. Das war Mitte Januar, nach Treptow, als es eine riesige antikommunistische Offensive der westdeutschen Sozialdemokratie und der gesamten Bourgeoisie gab. Sie forderten auch den sofortigen Abzug der Roten Armee. Alle Pseudotrotzkisten unterstützten letzten Endes die Konterrevolution. Die jetzige und die ehemalige Jugendgruppe der GAM, beide namens Revolution, teilen alle dieses konterrevolutionäre Programm, was sich heute vor allem in ihrer Hetze gegen den chinesischen deformierten Arbeiterstaat ausdrückt.

Die Studentenorganisation der Linkspartei, SDS, ein Tummelplatz für Pseudotrotzkisten, hatte bei ihrem Kongress „Make Capitalism History“ Anfang Oktober dieses Jahres Bernd Gehrke, Führer der früheren DDR-Oppositionsgruppe Vereinigte Linke, eingeladen. Zuvor war er schon bei einer der Jahrestagsfeiern der SAV aufgetreten. Gehrke machte sich bei den Pseudotrotzkisten in der Führung des SDS vor allem mit der Aussage beliebt: „Klar ist aus meiner Sicht, dass wir aus einem antagonistischen Ausbeutungssystem in ein anderes gelandet sind“ (SoZ, November 2009). Für ihn wie für viele Pseudolinke besteht die Welt spätestens seit 1989 nur aus der „Alternative“ bürgerlich-parlamentarischer Regierungskombinationen rot-grün oder schwarz-gelb: „Es bestand [1989/90] die reale Alternative zwischen einer rot-grünen Bürgerdemokratie und einer gleichberechtigten Vereinigung beider deutscher Staaten einerseits, und der dann realisierten Unterwerfung Ostdeutschlands mit dem Sieg des Neoliberalismus im Gefolge andererseits.“

Die VL war 1989/90 in der DDR ein wichtiger politischer Gegner für uns, weil viele Arbeiter und Linke der Offensive des Kapitals mit einer „Einheit der Linken“ begegnen wollten. Die VL war der linke Flügel der kleinbürgerlichen „Bürgerbewegung“. Sie strichen nach der Konterrevolution bald die Segel, ihre Aufgabe hatte sich erledigt. In ihrem Gründungsaufruf vom 4. September 1989 „Für eine Vereinigte Linke in der DDR“ erklärten sie:

„… die Herstellung eines breiten Konsenses unter den Linken in unserem Land und die Ausarbeitung eines realistischen, politisch tragfähigen und durchgreifenden gesellschaftlichen Programms einer sozialistischen Umgestaltung der DDR [ist] heute wichtiger als jemals zuvor.“

Die Widersprüchlichkeit der VL wird besonders deutlich an ihrer anfänglichen Unterstützung der Treptower Demonstration einerseits und ihrer panikartigen Reaktion darauf andererseits. Noch am 3. Januar 1990, d. h. am selben Tag wie Treptow, bekamen es die kleinbürgerlichen Demokraten der Bürgerbewegung inklusive der VL sowie der SDP mit der Angst zu tun. „Anlass war die Befürchtung, ,alte SED-Kader‘ würden wieder in Machtpositionen gelangen.“ („Erklärung der Opposition zum Wahlbündnis 90“, www.ddr89.de) Es wurde ein kurzlebiges oppositionelles Wahlbündnis, zusammengeschustert mit dem Ziel, „die bisher regierenden politischen Kräfte abzulösen“. Dieses Wahlbündnis sollte die Organisationen der Bürgerbewegung wie die VL, das Neue Forum, die Initiative für Frieden und Menschenrechte, Demokratie jetzt, den Demokratischen Aufbruch (der gerade seinen Weg zu Kohls CDU fand) sowie die offen für Marktwirtschaft und Wiedervereinigung eintretende SDP umfassen. Dieses Wahlbündnis war konterrevolutionär. Unter dem Eindruck des Höhepunkts unseres Einflusses und einer beeindruckenden Manifestation prosozialistischer Massen (d. h. im Zuge der fortschreitenden politischen Polarisierung in der DDR) bekamen es die „sozialistischen Demokraten“ an der Führung der VL mit der Angst zu tun und schlossen sich mit konterrevolutionären Kräften zusammen. Von uns verlangte ihr Führer Thomas Klein am 21. Januar, dass wir uns von Treptow distanzieren, falls wir dieser konterrevolutionären Volksfront beitreten wollten. Das zeigt sehr deutlich, wohin vorgeblich klassenloser Kampf für „Demokratie“ oder „Menschenrechte“ und sozialdemokratischer „Antistalinismus“ einen führen, nämlich ins Lager des Klassenfeindes.

Das Trojanische Pferd der Konterrevolution

Es gibt Hinweise darauf, dass in der Arbeiterbasis der SPD sowie in den Gewerkschaften Ende 1989 das Gerede über kapitalistische Wiedervereinigung mit einer Menge Unbehagen aufgenommen wurde. Auf einer gewissen Ebene spiegelte dies das Verständnis wider, dass die sozialen Errungenschaften in der DDR auch Errungenschaften für die Arbeiter im Westen darstellten. Oskar Lafontaines Distanzierung von Willy Brandts nationalistischem Kurs in Richtung schneller Wiedervereinigung, seine Appelle für eine langsame Wiedervereinigung, um eine Überlastung der westlichen Sozialsysteme zu vermeiden, waren sowohl ein deformierter Ausdruck solchen Unbehagens innerhalb der Arbeiterklasse im Westen als auch ein Mittel, um solche Besorgnisse zu beschwichtigen und vor allem um Klassenkampf zu verhindern. Als der IG-Metall-Tarifvertrag auslief und im Januar 1990 Streiks anstanden, wurde sehr schnell von den Bossen eine Lohnerhöhung zugestanden. Die Bosse und die SPD-Spitzen waren sehr bewusst dabei, um jeden Preis den Ausbruch von Klassenkampf im Westen zu dieser Zeit zu verhindern; sie fürchteten den Einfluss, den dieser auf die Arbeiterklasse in der DDR haben könnte. 1953 hatte die SPD-Führung Überstunden geschoben, um eine Ausbreitung des 17. Juni auf Westdeutschland und Westberlin zu verhindern: Deshalb durften die Ostberliner Arbeiter keinen Generalstreikaufruf über den Westberliner Rundfunk RIAS verlesen. Die Polarisierung in der SPD 1989/90 deutete an, wie diese Partei unter der Wucht einer siegreichen proletarisch-politischen Revolution in der DDR entlang der Klassenlinie hätte gespalten werden können.

Lafontaines Rolle war die des linken Gesichts der sozialdemokratischen Kampagne für die kapitalistische Wiedervereinigung, auch wenn die anderen Führer der SPD ihm dafür nicht sehr dankbar waren. Viele von ihnen haben ihm bis heute nicht vergeben, wie skeptisch er über die nationalistische Orgie war, die sie zusammen mit Kohl durchzogen. Dabei hielt er Leute, die sich als „Internationalisten“ sahen, innerhalb des Rahmens der Sozialdemokratie, Leute, die die nationalistischen Exzesse der Ost-SPD und von Brandt abschreckten. Mit seinen Warnungen vor den Ergebnissen einer schnellen Konterrevolution sprach er die Angst derjenigen an, die in der DDR etwas Positives sahen, das nicht zerstört werden sollte, er gab diesen Leuten den Eindruck, er sei irgendwie auf ihrer Seite. Oskar Lafontaine bildet heute in der Linkspartei den Kitt zwischen der ostdeutschen PDS-Basis und den West-Linken und West-Gewerkschaftern aus der WASG, weil er 1989/90 für eine langsamere Wiedervereinigung eintrat. 1989 war er derjenige, der die potenziellen linken Dissidenten und große Teile der Arbeiterklasse an die Sozialdemokratie band. In dieser Funktion verkörperte er in viel gefährlicherer Form als Willy Brandt und Co. das Trojanische Pferd der Konterrevolution.

Gründung der Spartakist-Arbeiterpartei

Am 21. Januar 1990 gründeten wir die Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands (SpAD), eine Fusion der Spartakist-Gruppen und der Trotzkistischen Liga Deutschlands. Die SpAD nahm den Kampf gegen die konterrevolutionäre Kampagne auf, die nach Treptow entfesselt wurde, um die DDR in den Anschluss zu treiben.

Treptow war wirklich ein Wendepunkt. Die deutsche Bourgeoisie geriet in Raserei und eröffnete einen ideologischen und ökonomischen Blitzkrieg, der auch gegen die Stalinisten gerichtet war. Es gab eine Sitzung des sogenannten Runden Tisches – eine konterrevolutionäre Versammlung aller oppositionellen Gruppen einschließlich der Vereinigten Linken, zusammen mit der SED-PDS und der ostdeutschen SPD/SDP. Die SPD trat auf und schrie gegen die stalinistische SED-PDS, weil sie auf derselben Tribüne mit den Trotzkisten standen, die die SPD/SDP „das Trojanische Pferd der Konterrevolution nennen“, und schwenkte unser Flugblatt dabei. Einige Tage später, nach noch mehr Druck, erklärte Gysi, dass es ein Fehler war, zu der Treptower Demonstration aufzurufen. Danach organisierten Gorbatschow und in seinem Nachtrab die ostdeutschen Stalinisten die wilde Flucht hinein in die Konterrevolution. Nach einem Treffen mit Gorbatschow Ende Januar in Moskau verkündete Modrow von der SED-PDS, damals Chef der DDR-Regierung, offen: „Deutschland, einig Vaterland!“

Die Wirkung auf die fortgeschrittensten Arbeiter war verheerend, weil sie immer noch auf die SED-PDS schauten und hofften, dass sie eine Art Hindernis zur Konterrevolution wäre. Trotzki hatte schon in Bezug auf die Spanische Revolution erklärt, dass Arbeiter nicht einfach mit der Partei brechen, die sie ins politische Leben brachte. Die Stalinisten wussten das und spielten auf Zeit. Gleichzeitig öffnete die SED-PDS alle Tore, um die deutsche Bourgeoisie reinzulassen. Ganze Fabriken wurden ausverkauft und die fortgeschrittensten Arbeiter wurden auf voll bezahlte „Kurzarbeit Null“ gesetzt, sprich gefeuert. Die Bourgeoisie pumpte Milliarden von D-Mark in die DDR.

In unserer Propaganda verschoben wir ebenfalls die Betonung, um die Notwendigkeit von Widerstand gegen die konzertierte Kampagne, die ostdeutsche Arbeiterklasse in die Konterrevolution zu drängen, hervorzuheben. Immer und immer wieder hatten wir die Überschrift „Gegen kapitalistische Wiedervereinigung“. Wir sagten: Nein zur Konterrevolution! Organisiert euch gegen den Ausverkauf der Fabriken! Wer gibt den Direktoren und anderen stalinistischen Bürokraten das Recht, die Fabriken zu verkaufen, die ihnen nicht gehören, sondern uns, der Arbeiterklasse?

Gegen die konterrevolutionäre Perspektive der kapitalistischen Vereinigung Deutschlands stellten wir die revolutionäre Perspektive der Einheit des deutschen und sowjetischen Proletariats, was auch gegen den falschen Glauben unter vielen ostdeutschen Arbeitern gerichtet war, dass es der westdeutschen Arbeiterklasse an jeglichen revolutionären Fähigkeiten fehle. Viele sagten uns, dass eine Revolution in Westdeutschland vielleicht möglich wäre, aber nicht heute oder morgen, und wir müssen heute etwas machen; wenn wir uns erheben, dann werden wir sofort mit dem machtvollen westdeutschen Imperialismus konfrontiert sein, mit der NATO, den Faschisten usw.

Die Sowjetunion war alles andere als stabil. Einerseits gab es zunehmende nationalistische Spannungen und konterrevolutionäre Bewegungen, besonders in den baltischen Staaten. Andererseits hat es im Sommer 1989 auch machtvolle Streiks der sowjetischen Bergarbeiter gegeben, wo spontan Sowjets gegründet worden waren usw., was zu schweren Erschütterungen bei der Bürokratie geführt hatte. Wir stellten die Losung auf: „Für eine Föderation von UdSSR und DDR, basierend auf Arbeiterdemokratie“ (Arprekorr Nr. 20, 26. Januar 1990).

Die Wahlen im März 1990 waren ein Referendum über Ja oder Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung, also Ja oder Nein zur kapitalistischen Konterrevolution. Wir machten klar, dass jede Organisation eine klare Position vor der Arbeiterklasse zu dieser lebenswichtigen Frage einnehmen muss. Unser zentraler Punkt war immer und immer wieder ein klares und lautes „Nein!“. Als eine Taktik, um die Stimmenzahl gegen die Konterrevolution zu maximieren und prosozialistische Arbeiter von pseudolinken Organisationen zu brechen, die die Konterrevolution unterstützten, und um diejenigen linken Organisationen zu spalten und umzugruppieren, die sich unter den Schlägen des kommenden Referendums polarisierten, gaben wir zur Volkskammerwahl am 18. März folgende Erklärung ab:

„Die SpAD sagt: Nein zur kapitalistischen Wiedervereinigung. Dies ist die dringende Frage, die sich in dieser Wahlkampagne stellt. Wir rufen alle diejenigen, die angeben, in Verteidigung der Interessen der Werktätigen der DDR zu stehen, dazu auf, jetzt und schriftlich ihre Position zu dieser Frage zu erklären. Die Werktätigen müssen ebenfalls verlangen, dass alle Kandidaten hierzu Stellung nehmen. Das Programm der Spartakisten ist die weitsichtigste und konsequenteste Verteidigung unseres Arbeiterstaats: Wählt die Kandidaten der SpAD bei den Wahlen am 18. März. Wo die SpAD keine Kandidaten aufstellen kann, rufen wir unsere Anhänger dazu auf, für solche Parteien und Gruppen zu stimmen, die klar gegen kapitalistische Wiedervereinigung stehen.“ (Arprekorr Nr. 23, 15. Februar 1990 und folgende Ausgaben)

Wir gingen damit zu den linken Organisationen in der DDR, und wie sich herausstellte: Wir waren die Einzigen, die gegen kapitalistische Konterrevolution kämpften!

Unter dem Ansturm der bürgerlichen Offensive verzweifelten die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse zunehmend. Um ein Beispiel zu geben: Als wir die Stadtreinigungsarbeiter in Halle besuchten, sahen wir unser Wahlplakat direkt neben dem der konservativen Christdemokraten hängen, die zu der Zeit die Regierung in Westdeutschland führten. Darauf angesprochen erklärten die Arbeiter uns: Entweder entscheiden wir uns für Revolution, dann stimmen wir für euch, oder wir entscheiden uns für Kapitalismus und stimmen für die Partei, die die besten Verbindungen und den besten Zugang zum Kapital hat.

Am 18. März stimmten mehr als 70 Prozent der DDR-Wähler entweder für die christdemokratisch- oder für die sozialdemokratisch-basierte Koalition, d. h. für die offene schnelle kapitalistische Wiedervereinigung. Wir sagten der internationalen Arbeiterklasse die bittere Wahrheit: „Viertes Reich gewinnt bei DDR-Wahl“. Die Konterrevolution hatte gewonnen, was eine bittere Niederlage nicht nur für die deutsche, sondern auch für die internationale Arbeiterklasse war. Die Einführung der westdeutschen D-Mark, die Auflösung der NVA, der DDR-Polizei und so weiter wurde im Grunde genommen zu diesem Zeitpunkt entschieden.

Die Konterrevolution verwüstet die Ex-DDR

Wovor wir gewarnt und wogegen wir gekämpft hatten, ist eingetreten: Die Konterrevolution verwüstete die frühere DDR; die gesamte Industrie wurde dem Erdboden gleich gemacht und es herrscht Massenarbeitslosigkeit, die Jugend wandert ab. Es gibt ständige, unablässige Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse im Westen, einen Feldzug, um die Macht der Gewerkschaften zu brechen und das System der Flächentarifverträge zu zerstören. Frauen wurden ganz besonders hart getroffen. Während sie in der DDR in die Gesellschaft integriert waren, zu 90 Prozent Arbeit hatten und es Krippenplätze für ihre Kinder gab, verloren sehr viele von ihnen in den nächsten Monaten ihre Arbeit und es gibt ständig Angriffe auf das Abtreibungsrecht. In Osteuropa ist die Situation für die arbeitenden Massen sogar noch schlimmer.

Gleichzeitig wird zunehmender rassistischer Terror benutzt, um die Arbeiterklasse zu spalten. Es gibt unzählige Abschiebungen von Immigranten und Flüchtlingen, selbst von in Deutschland geborenen Jugendlichen. Es gibt ein Anwachsen der Faschisten und faschistischen Mord und Terror. Der rassistische Staatsterror und der Terror der extralegalen faschistischen Banden wird genährt von der rassistischen antimuslimischen Kampagne nach dem 11. September 2001.

Seit wir 1999 diese Veranstaltung zum damals 10. Jahrestag des Mauerfalls machten, hat die damalige SPD/Grünen-Regierung scharfe Angriffe auf die arbeitende und arme Bevölkerung geführt: Hartz IV, Angriffe im Gesundheitswesen, die Bundeswehr schickten sie auf den Balkan und später nach Afghanistan. Der Berliner „rot-rote“ Senat von SPD und Linkspartei hat die Tarifverträge im öffentlichen Dienst zerschlagen, die BVG-Arbeiter aufgespalten. All diese Angriffe führte er, um die Mittel zur Sanierung der Berliner Landesbank auszupressen – ganz so, wie es die „schwarz-rote“ CDU/SPD-Bundesregierung bei der Finanzkrise vor einem Jahr national gemacht hat. Ungeachtet dessen hatte die Linkspartei die Frechheit, ein Wahlplakat bei der Bundestagswahl aufzuhängen: „Geld für Bildung – nicht für Banken!“

Hauptinstrument für die kapitalistische Konterrevolution in der DDR war die Sozialdemokratie, die wir deshalb trojanisches Pferd nannten. Zur gleichen Zeit war das Haupthindernis für den Kampf dagegen die herrschende SED, weil viele in der DDR die Illusion hatten, sie würde die DDR verteidigen. Die gesamte Pseudolinke, allen voran die Pseudotrotzkisten, unterstützte die kapitalistische Konterrevolution. Heute, wo der SPD-Kanzlerkandidat von 1990, Oskar Lafontaine, die Linkspartei führt, sind sie dort hineingekrochen, diese Partei ist ihnen jetzt sozialdemokratisch genug. Die Partei der internationalen sozialistischen Revolution wird geschaffen im unnachgiebigen Kampf gegen diese konterrevolutionären Scharlatane. Dieser Weg wird nicht leicht sein. Unsere pseudolinken Opponenten tragen eine große Verantwortung für den ideologischen Niedergang, der sich auf das internationale Proletariat auswirkt. Dazu zitiere ich hier unsere Internationale Grundsatzerklärung von 1998:

„Zwar beeinflusst das ideologische Klima vom ,Tod des Kommunismus‘ das Bewusstsein des Proletariats, doch in vielen Ländern auf der Welt liefert scharfer Klassenkampf die objektive Grundlage für die Wiederbelebung des Marxismus als Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus und der proletarischen Revolution. Es ist nicht der Kommunismus, sondern seine Parodie, der Stalinismus, der sich als Sackgasse erwiesen hat.

Trotzkis Feststellung im Übergangsprogramm von 1938: ,Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet‘, wurde vor dem gegenwärtigen riesigen Rückschritt im proletarischen Bewusstsein aufgestellt. Die Wirklichkeit dieser nachsowjetischen Periode fügt zu Trotzkis Beobachtung eine neue Dimension hinzu. Nur auf eine einzige Art und Weise kann dieser Rückschritt überwunden und die Arbeiterklasse zu einer Klasse für sich werden, das heißt für die sozialistische Revolution kämpfen: Eine internationale leninistisch-trotzkistische Partei muss wieder geschmiedet werden als Führung der Arbeiterklasse. Der Marxismus muss erneut die Loyalität des Proletariats gewinnen.“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 20, Sommer 1998)

Und das ist der Grund unserer Existenz. Unser Banner ist unbefleckt. Wenn wir sagen, wir sind die Partei der Russischen Revolution, wollen wir damit sagen: Wir haben die Kontinuität des bolschewistischen Programms von Lenin aufrechterhalten und streben danach, es in den Klassenkämpfen anzuwenden. Unsere Aufgabe ist es, die Vierte Internationale wiederzuschmieden, die Weltpartei der sozialistischen Revolution.

Spartakist Nr. 181

Spartakist Nr. 181

Januar 2010

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Vor 20 Jahren: Vorrevolutionäre Situation in der DDR

1989/90--der Kampf für ein rotes Rätedeutschland und gegen die Konterrevolution

Wir sind die Partei der Russischen Revolution!

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Aus den Archiven des Marxismus

Martin Widelin

Ermordeter trotzkistischer Führer im deutschen Untergrund des Zweiten Weltkriegs

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Verteidigt Simon Singh! Verteidigt wissenschaftliche Medizin!

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Korrektur

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Die Ursprünge der Spartakusowska Grupa Polski

Für den Kommunismus von Lenin, Luxemburg und Liebknecht!

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Münster: Weg mit den Anklagen gegen Frauenrechtsdemonstranten!

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Spartakist-Jugend

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Für das Selbstbestimmungsrecht der Basken!

Freiheit für die baskischen Nationalisten der ETA!