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Spartakist Nummer 165 |
Winter 2006/2007 |
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"Der Mann ohne Gesicht", den die NATO fürchtete
Markus Wolf—ein Nachruf
Korrektur im Anhang
Im Alter von 83 Jahren starb am 9. November Generaloberst a.D. Markus Wolf, der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage (HVA) und stellvertretende Minister für Staatssicherheit, im Schlaf. Fast 2000 Menschen kamen am 25. November zu seiner Beerdigung in Berlin. Auch Vertreter der Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands (SpAD) erwiesen ihm die letzte Ehre. In der ganzen gefährlichen Zeit des Kalten Krieges hatte er die DDR mutig und intelligent verteidigt. Davor haben wir Hochachtung. Wolfs Spionagedienst half auch den sowjetischen Verbündeten bei militärischen Interventionen im Ausland, zum Beispiel den Kubanern, die in Angola und Mosambik auf der Seite der Guerillakämpfer gegen die Streitkräfte des südafrikanischen Apartheid-Regimes kämpften. In diesem Kampf standen wir auf der gleichen Seite und auch in vielen anderen Kämpfen, wo die DDR gegen den Imperialismus und die kapitalistische Unterdrückung Solidarität erwies.
Wolf hatte sein Leben der Verteidigung des deformierten Arbeiterstaates DDR gewidmet. Doch gefangen in der stalinistischen Politik der Klassenzusammenarbeit behandelte Markus Wolf die politischen Fragen nicht auf der Grundlage vom marxistischen Verständnis der Unvereinbarkeit der Klasseninteressen von Arbeiterklasse und Bourgeoisie. Für ihn war es nicht die Frage, ob der Staat kapitalistisch oder proletarisch ist, ob er der Bourgeoisie oder dem Proletariat dient. Und so trug er dazu bei, das Klassenbewusstsein der ost- und westdeutschen Arbeiterklasse zu zerstören, und half mit seiner beträchtlichen politischen Autorität den Boden dafür zu bereiten, dass die DDR 1990 von Gorbatschow ausverkauft wurde. Er selbst war in den 80er-Jahren ein Vorkämpfer für ihn gewesen. In der Rückschau auf das, was er später den Verrat von Gorbatschow nannte, sagte er: Der Untergang der Sowjetunion und der DDR wäre ohne Gorbatschow wohl auch nicht vermieden worden, aber anders vorstellbar gewesen. Es hätte zum Beispiel in Deutschland eine längerfristig konzipierte Vereinigung von zwei gleichberechtigten Staaten geben können (Der Spiegel, 8. Juli 1996, Wir waren die Helden). Alle Schemen einer Konföderation mit dem westdeutschen Imperialismus waren nur eine andere Methode, der SED-Basis eine kapitalistische Wiedervereinigung schmackhaft zu machen. Einen dritten Weg, ein neutrales Deutschland jenseits von Imperialismus und Sozialismus war immer eine reaktionäre Utopie. Die Frage, die sich stellte, war entweder revolutionäre oder konterrevolutionäre Wiedervereinigung. Die Alternative einer revolutionären Wiedervereinigung durch proletarisch-politische Revolution in der DDR und eine sozialistische Arbeiterrevolution zur Enteignung der Kapitalistenklasse in Westdeutschland hat Wolf abgelehnt. Für diesen Weg, den Weg von Lenin und Trotzki, haben wir 1989/90 in Deutschland interveniert und kämpfen heute für neue Oktoberrevolutionen weltweit.
Markus Wolf wurde 1923 geboren, in dem Jahr, als der programmatische Kampf zwischen dem Internationalismus von Leo Trotzkis sich formierender Linker Opposition und dem Nationalismus der stalinistischen Bürokratie begann. Durch den Druck imperialistischer Umzingelung, die Dezimierung der Arbeiterklasse im Bürgerkrieg und die andauernde Isolation der Russischen Revolution konnte eine Bürokratie, geführt von Stalin, die politische Macht in einer politischen Konterrevolution 1923/24 an sich reißen. Dies wurde von Trotzki später als der sowjetische Thermidor bezeichnet. Während die stalinistische Bürokratie auf den proletarischen Eigentumsformen beruhte, aus denen sie ihre Privilegien zog, war sie nicht unwiderruflich deren Verteidigung verpflichtet. Stalins Theorie vom Sozialismus in einem Land brachte die national begrenzten Interessen der Kreml-Bürokratie zum Ausdruck. Mit ihr wurde die Kommunistische Internationale aus einem Instrument für die Weltrevolution in ein Hindernis für Arbeiterrevolutionen in anderen Ländern verwandelt.
Sechs Jahre zuvor waren Lenin und Trotzki gemeinsam die Führer der Russischen Revolution vom Oktober 1917, deren Sieg durch die Führung einer egalitären demokratisch-zentralistischen Partei erreicht wurde, die auf der Basis von Arbeiter- und Soldatenräten die Macht eroberte. Diese Revolution war eine Inspiration für Arbeiter und Intellektuelle auf der ganzen Welt, und die Familie Wolf gehörte dazu. Wolfs Vater war der jüdische kommunistische Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, bekannt vor allem durch sein Drama gegen Antisemitismus Professor Mamlock, das er auf der Ile de Bréhat vor der bretonischen Küste schrieb, wo sich die Familie Wolf auf ihrer Flucht vor den Faschisten wieder vereinte. Die Familie Wolf gehörte zu den Juden, die das Glück hatten zu entkommen; sie waren Kommunisten und entschieden sich, in die Sowjetunion auszuwandern. Als Markus Wolf nach Deutschland zurückkehrte, wurde ihm bitter bewusst, wie vollständig wir Kommunisten und die anderen Gegner Hitlers versagt hatten, dieses Gemetzel zu verhindern.
In der Sowjetunion studierte Markus Flugzeugbau und besuchte die Komintern-Schule, wo er ausgebildet wurde, um am aktiven Kampf gegen den Hitler-Faschismus teilzunehmen, also illegale Parteiarbeit zu leisten (Der Spiegel, 8. Juli 1996, Wir waren die Helden), aber auch um die Arbeiterinteressen einem Block mit der Bourgeoisie, der Volksfront, unterzuordnen. Diese wurde zuerst im Spanischen Bürgerkrieg zum Dogma der Stalinisten, wo die revolutionären Bestrebungen der Massen der Einheit der Volksfrontregierung geopfert wurden. Dies führte zum Sieg des faschistischen Generals Franco. Wolfs Vater hatte sich freiwillig als Arzt bei den Internationalen Brigaden gemeldet; er wollte der stalinistischen Säuberungswelle entgehen, mit der auch die Emigranten in der Sowjetunion überzogen wurden: Ich warte nicht, bis man mich verhaftet (Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg). Nachdem der deutsche Imperialismus die UdSSR überfallen hatte, strebte der Kreml ein Bündnis mit den imperialistischen Westmächten an.
Die Alliierten-Führer der USA und des Britischen Empire hofften, die Sowjetunion und die Nazis würden sich gegenseitig ausbluten und damit den kapitalistischen Alliierten den Weg frei machen zur Aufteilung eines geschlagenen Europas. Die Entschlossenheit der sowjetischen Völker triumphierte trotz Stalins Heimtücke, aber der Sieg über die Nazis kostete vier blutige Kriegsjahre und das Leben von mehr als 26 Millionen sowjetischen Einwohnern. Wir Trotzkisten standen auf Seiten des degenerierten Arbeiterstaats Sowjetunion in seinem Krieg gegen den deutschen Imperialismus, aber im Gegensatz zu den Stalinisten unterstützten wir nicht die westlichen Imperialisten. Der Zweite Weltkrieg zwischen den imperialistischen Großmächten war wie der Erste Weltkrieg ein imperialistischer Krieg um die Neuaufteilung der Welt und kein Krieg der Demokratie gegen den Faschismus.
Die Brüder Wolf kehrten 1945 als Sieger nach Deutschland zurück. Als Offizier der Roten Armee wurde Konrad Wolf Stadtkommandant von Bernau (bei Berlin), in der Stadt, aus der seine Familie geflohen war. Er hatte auch an der Befreiung Berlins teilgenommen (was er in seinem Film Ich war neunzehn schilderte). Markus war als Journalist ein Berichterstatter beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg. Er gehörte zu denen, die dabei halfen, in der Sowjetischen Besatzungszone die Grundlagen einer Administration unter Walter Ulbricht aufzubauen. Die Perspektive des Sozialismus weckte große Hoffnungen. Juden, Kommunisten und antifaschistisch gesinnte Arbeiter gingen ins sowjetisch kontrollierte Ostdeutschland, die Faschisten und Kollaborateure dagegen flohen in den Westen, um amerikanischen Schutz zu erhalten.
Stalins Plan bestand zuerst darin, die Sowjetische Besatzungszone als Trumpfkarte für Verhandlungen über ein neutrales vereinigtes Deutschland nach dem österreichischen Vorbild zu benutzen. Dieser Plan wurde im Kreml unter Gorbatschow wieder als Geist zum Leben erweckt. Aber 1948, angesichts des feindlichen imperialistischen Drucks durch den Marshall-Plan und die Geburt des antisowjetischen NATO-Bündnisses, führte der Kreml in den von der Roten Armee besetzten Gebieten (bis auf Österreich) strikt kontrollierte soziale Revolutionen durch. Die DDR und die anderen Volksdemokratien, die aus diesen gesellschaftlichen Umwälzungen hervorgingen, waren deformierte Arbeiterstaaten nach dem Modell des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion, das ein Ergebnis der bürokratischen Degeneration der Oktoberrevolution war.
Als Spionagechef baute Markus Wolf eine Truppe auf, deren Effizienz respektiert werden musste, sogar von den Imperialisten. Es gab schätzungsweise 4000 Agenten allein in Westdeutschland. Wolf war der Mann ohne Gesicht, weil die imperialistischen Nachrichtendienste kein Foto von ihm hatten. In den höchsten Kreisen von Industrie, Militär, Politik und Finanzen hatte er Agenten, die auch Zugang zu Überwachungseinrichtungen der NATO-Verbündeten in Westdeutschland und zur NATO selbst hatten. Er schleuste sogar Günter Guillaume unter Willy Brandts engste Vertraute. Guillaumes Enttarnung 1974 führte zu Brandts Rücktritt, der damals Kanzler war. Wolf bedauerte dies, weil ihm Brandts Entspannungspolitik gefiel. 1996 verteidigte er die Spionage: Aber die Informationen, die Guillaume neben vielen anderen geliefert hat, haben wesentlich geholfen, dass die DDR, aber auch Moskau, von der absolut feindlichen Haltung gegenüber der Sozialdemokratie abgerückt ist (Der Spiegel, 8. Juli 1996, Wir waren die Helden). Diese Erklärung zeigt in einem Atemzug seine standfeste Verteidigung der ehrenhaften Arbeit, die UdSSR und den Sowjetblock gegen die imperialistische Bedrohung zu verteidigen, und gleichzeitig seine völligen Illusionen in den guten Willen der Sozialdemokratie und in die Entspannungspolitik, die eine Variante von der Volksfrontpolitik der utopischen friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus war. So sagte er später in seinem Schlusswort vor Gericht: Aber für den Frieden war und ist kein Preis zu hoch. Doch ein dauerhafter Frieden ist nur möglich durch den Sturz des Kapitalismus weltweit und das erfordert einen Kampf gegen die Sozialdemokratie, die dem Kapitalismus verpflichtet ist. Die Illusion in einen Frieden ohne Revolution beseelte sein Lebenswerk und zerstörte es letzten Endes durch seine Unterstützung für Gorbatschow, der die DDR preis[gab] (Der Spiegel, 8. Juli 1996, Wir waren die Helden).
Wolf war in die stalinistische Bürokratie tief integriert und hasste sie aber auch. Durch seine Abmachungen mit seinem Boss Mielke, dem verhassten und gefürchteten Erzstalinisten an der Spitze der für die innere Sicherheit zuständigen Abteilung der Stasi, hatte Wolf freie Hand bei seiner Arbeit, kam aber nie ins Zentralkomitee ihrer Partei, der SED. Wolf legte die Politik nicht fest und stand auch nicht über ihr, aber seine Arbeit war nicht bloß gegen die Imperialisten gerichtet, sondern er lieferte auch Informationen, die den Stalinisten dabei halfen, echte revolutionäre Aufstände der Arbeiterklasse zu unterdrücken.
Für Trotzkisten waren die Aufstände in Osteuropa nach Stalins Tod 1953 ein Modell für eine proletarische politische Revolution zum Sturz der stalinistischen Bürokratie sowie zur Wiederherstellung der Herrschaft von Arbeiterdemokratie und zu ihrer Ausweitung nach Westen. Die Arbeiter, die Ulbrichts Büros umstellten, riefen im Sprechchor: Nicht ihr, wir sind die wahren Kommunisten! Eine Massenversammlung von 15 000 Metallarbeitern in Ostberlin forderte eine Metallarbeiterregierung, und Arbeiter in Halle begrüßten einen Zug aus dem Westen mit dem Banner Räumt ihr den Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus!
Wolf wurde für kurze Zeit zusammen mit anderen Verdächtigen von sowjetischen Kontrollposten verhaftet, wo er in Ruhe über die wahren Machtverhältnisse in Deutschland nachdenken konnte (Spionagechef im geheimen Krieg) und so miterlebte, was die weniger Privilegierten erfahren durften. Angesichts der Ereignisse wurde Wolf durchaus klar, dass das von unserer Führung in die Welt gesetzte Gerede vom ,faschistischen Abenteuer und vom ,konterrevolutionären Putsch reine Schutzbehauptungen waren. Nachdem der Kreml es geschafft hatte, den Aufstand durch das Auffahren seiner Panzer zu beenden, bestand Wolfs Aufgabe darin, herauszufinden, inwiefern der Westen bei den Unruhen die Finger im Spiel haben mochte
Dieses Material benötigte unsere politische Führung, um die Verantwortung für den 17. uni einem äußeren Gegner in die Schuhe schieben zu können. Als 1956 die Arbeiter in Ungarn Arbeiterräte organisierten, wurde Wolf aufgetragen, Informationen über eine mögliche Reaktion der NATO auf eine sowjetische Intervention zur Unterdrückung des Aufstandes zu sammeln. Er antwortete: Die NATO wird nicht intervenieren (Memoirs of a Spymaster), und der Kreml ertränkte die proletarisch-politische Revolution in Blut. Der Prager Frühling 1968 rief enorme Sympathie in der DDR hervor, insbesondere in den pazifistischen intellektuellen Kreisen, zu denen die Familie Wolf gehörte. Er wurde für Wolf zum Modell, als sich in Reaktion auf Gorbatschows Glasnost und Perestroika die Dissidenten zu rühren begannen.
Bei der Beerdigung von Markus Wolf erzählte Manfred Wekwerth, nach dem Tod von Konrad Wolf 1982 dessen Nachfolger als Präsident der Akademie der Künste in der DDR, eine aufschlussreiche Geschichte. 1985 hatte die DDR noch keine Videotechnik. Also organisierten die Verantwortlichen für die Theater und die Künste eine Beschaffungsaktion, um diese Technik mit Hilfe eines Diplomatenpasses über die Grenze zu holen. Sie hatten das Videostudio schon vier Jahre lang benutzt, als Klaus Freymuth verhaftet und wegen illegaler Einführung und Verwendung von Videotechnik verhaftet wurde. In seiner Not rief Wekwerth Markus Wolf an und bat ihn um Hilfe, diese schwerwiegenden Anklagen zu entschärfen. Wolf belehrte ihn förmlich über die Gültigkeit von Gesetzen und bot ihm dann ein persönliches Gespräch an. Die Anklagen müssten nicht verkleinert, sondern verschärft werden, und zwar ausgeweitet auf alle in Frage kommenden berühmten und beliebten Personen, einschließlich seines eigenen bereits verstorbenen Bruders, des weltberühmten Filmregisseurs Konrad Wolf. Wekwerth legte zur Verblüffung des Staatsanwalts dieses Geständnis ab, und am Ende brauchte Freymuth nur die Zollgebühren nachzuzahlen.
Im Jahr 1986 trat Wolf von seinem Posten zurück. Laut Gerüchten gab es persönliche Differenzen, vermutlich mit Mielke. Wolf ging in den Ruhestand, um zu schreiben. Er hatte politische Ambitionen, die von Gorbatschows Politik inspiriert wurden. In diesem Zusammenhang erschien er den pro-sozialistischen Antistalinisten in der DDR als Hoffnungsträger.
Mit seiner eigenen Mini-Kampagne für Glasnost wollte Wolf eine Alternative zur immer unpopuläreren SED-Führung schaffen. Während das Neue Forum sich unter dem Deckmantel der Kirche organisierte und als andere pro-sozialistische Dissidenten an der Universität Zuflucht suchten, operierte Wolf im Zusammenhang der Kunst. Er schrieb sein autobiografisches Buch Die Troika, in dem er Themen behandelt wie die Moskauer Prozesse, das Verschwinden guter Freunde, die Ermordung führender Offiziere der Roten Armee und den Prozess gegen Kamenjew und Sinowjew (mit dessen Familie die Wolfs gut befreundet waren). In Theatern und Kulturzentren überall in der DDR veranstaltete er Lesungen vor einem Publikum von jeweils 30 bis 100 Leuten. Die daraus sich ergebenden offenen Diskussionen brachten eine Konzeption von Kommunismus zum Vorschein, die in einem scharfen Gegensatz zum Honecker-Regime stand und zu Recht als eine offene Kritik an diesem gesehen wurde. Einmal machte ein junger Journalist der offiziellen SED-Zeitung Neues Deutschland die Bemerkung: Genosse Wolf, sind Sie sich dessen bewusst, dass ich in meiner Zeitung unmöglich über diese Diskussion berichten kann? Darauf erwiderte Wolf: Nun, dann erwarten Sie nicht von mir, dass ich dazu einen Kommentar abgebe.
Wolfs Perspektive bestand darin, dass er eine antistalinistische Erneuerung innerhalb der allgemein diskreditierten stalinistischen SED anstrebte. Er versuchte die Intelligenz zu mobilisieren und durch sie die Parteikader. Aber notwendig war eine neue egalitäre leninistische Partei, um die Arbeiter für die Verteidigung ihres Staates und die Ausweitung der Errungenschaften der DDR und der Sowjetunion zu mobilisieren.
Als im Sommer 1989 die tödliche Krise des ostdeutschen Stalinismus einsetzte und Massen von DDR-Bürgern das Land verließen, versuchte Honecker vergeblich, die sowjetischen und DDR-Truppen bei der Niederschlagung einer Welle von Massenprotesten einzubeziehen, und wurde am 18. Oktober zum Rücktritt gezwungen. Am 4. November gab es eine Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz fürs Rede- und Versammlungsrecht, zu der die Künstler mobilisierten, die an Wolfs Lesungen teilgenommen hatten. Genossen verkauften unsere trotzkistische Zeitung Spartakist, die sie über die Grenze geschafft hatten, unter anderem für die Verteidigung der DDR und mit dem Aufruf zur politischen Revolution zum Sturz der stalinistischen Bürokratie. Und sie machten Fotos von der Flut von Losungen, zu denen auch solche gehörten wie Für kommunistische Ideale Keine Privilegien, Für eine deutsche Räte-Republik! Bildet Räte! und Für eine neue kommunistische Partei, aber auch einige für Wiedervereinigung. Als Wolf aufgefordert wurde zu reden, sprach er nicht über seine antistalinistische Kritik aus den Troika-Lesungen, sondern beanspruchte für die SED die führende Rolle als Kraft der sozialistischen Erneuerung und warnte vor einer pauschalen Verurteilung der Stasi. Dies führte zu gespaltenen Reaktionen der Demoteilnehmer.
Die Ereignisse überschlugen sich bereits, und drei Tage später reichte jeder Minister der Regierung seinen Rücktritt ein. Zwei Tage später öffnete die neue Regierung die Berliner Mauer. Die Mauer war 1961 als eine bürokratische Maßnahme zur Verteidigung der kollektivierten Wirtschaft gegen den imperialistischen Druck errichtet worden, besonders gegen die Massenabwanderung von Facharbeitern und Freiberuflern in den Westen. Auf dieser Grundlage verteidigten wir die Mauer. Doch was schließlich die Mauer zum Einsturz brachte, war nicht imperialistischer Revanchismus, sondern der gesellschaftliche Kampf der ostdeutschen Massen. So schrieben wir in Für ein rotes Rätedeutschland! (Spartakist Nr. 64, 8. Dezember 1989): Heute kann die Öffnung der Mauer als Sprungbrett dienen zur revolutionären Einheit und zum gemeinsamen Kampf der Arbeitermassen im kapitalistischen Westen und im ostdeutschen deformierten Arbeiterstaat.
Wolf hielt die Maueröffnung für das Ende. Seine Perspektive war nun Schadensbegrenzung, die Illusion von einer sanfteren Wiedervereinigung. Wolf wurde Teil eines Führungskomitees, das im Dezember 1989 einen Sonderparteitag organisieren sollte. Wie Wolf in seinem Buch In eigenem Auftrag schreibt, legte Wolfgang Berghofer Anfang Dezember die Situation so dar: Der Druck der Bevölkerung werde bis zum Parteitag weiter wachsen, von der Regierung sei nichts zu sehen, der Staatsapparat beginne zu zerbröckeln, die Fluchtwelle wachse weiter an, Streiks würden zur Realität. Die Demos blieben und Gewalt werde zur unmittelbaren Gefahr. Die Partei sei kaum mehr zu retten, der Sozialismus vielleicht; es gehe im Grunde genommen nur noch um das Land! Weiter erinnert sich Wolf: Divergierende Meinungen zu Grundfragen der Macht, der Wirtschaft, zu den zu erhaltenden sozialistischen Werten, der Rolle und Lage der Partei waren aufeinandergeprallt. Sozialismus, den wir anstrebten, war ohne Eigenstaatlichkeit nicht denkbar. Die Regierung Modrow verwendete den Begriff der Vertragsgemeinschaft mit der BRD, und innerhalb dieses Kreises argumentierte Gysi schon zu diesem Zeitpunkt für den Aufruf zu einer kapitalistischen Wiedervereinigung. Sein Argument war, wie Wolf berichtet: Die Wiedervereinigung sei schließlich einmal auch unser Ziel gewesen, und es gebe noch immer die eine deutsche Nation. Das war ein Echo von Stalins Nachkriegspolitik für ein bündnisfreies kapitalistisches Deutschland. Auf ihrem Kongress, der am 21./22. Dezember 1989 stattfand, fügte die SED dann Partei des demokratischen Sozialismus zu ihrem Namen hinzu und Gregor Gysi wurde Vorsitzender.
In der zum zweiten Teil des Parteitags verteilten Spartakist-Erklärung wurde Spartakist-Sprecherin Renate Dahlhaus zitiert, die eine Zeugin der Ereignisse war:
Die Frage von Avantgarde, die die Interessen der Arbeiterklasse gegen die Strömungen der Sozialdemokratie organisiert, oder des stalinistischen Ausverkaufs ist eine der wichtigsten Sachen. Deshalb sagen wir: für eine leninistisch-egalitäre Partei. Gysi behauptet, dass die Alternative zum Stalinismus Sozialdemokratie ist zurück zu Kautsky, zu Ebert und Noske, zu den Bluthunden der Revolution 1918/19. Und das bedeutet, die DDR an die westdeutschen Bankiers preiszugeben. (Spartakist-Arbeiterpressekorrespondenz Nr. 7, 5. Dezember 1989, An den SED-Parteitag: Weder Stalin noch Kautsky!)
Der Höhepunkt in der Periode der politischen Revolution war die Treptower Kundgebung am 3. Januar 1990, die von den Spartakisten initiiert und von der SED-PDS aufgegriffen wurde. Das war eine prosowjetische Pro-DDR-Demonstration von 250 000 Menschen gegen die faschistische Schändung der Grabstätte von Rotarmisten, die bei der Befreiung Berlins vom Hitler-Faschismus im Mai 1945 gefallen waren. Hier wurde in Reden, auf Papier und auf Bannern das trotzkistische Programm der politischen Revolution zur Verteidigung der DDR durch Arbeiter- und Soldatenräte und für ein rotes Rätedeutschland als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa klipp und klar dem stalinistischen Programm von Kapitulation und Konterrevolution entgegengestellt. Treptow gab zum ersten Mal die Möglichkeit des organisierten Arbeiterwiderstands gegen kapitalistische Wiedervereinigung durch die Arbeiterbasis der SED-PDS (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 15, Frühjahr 1993).
Als Reaktion darauf eskalierte die westdeutsche Bourgeoisie ihren rabiat antikommunistischen Propagandafeldzug: Sie denunzierte die Schändung und die Kundgebung als einen Stasi-Trick und verlangte von der SED-PDS, die Trotzkisten zu unterdrücken, die es wagten, die SPD als das trojanische Pferd der Konterrevolution zu benennen. Gorbatschow erschrak über das Chaos, wie er es nannte, und gab grünes Licht für die kapitalistische Wiedervereinigung. Als der Kreml die DDR an den westdeutschen Kapitalismus ausverkaufte, passten sich die SED-Führer an den Verrat an und wurden die PDS. Dieser konterrevolutionäre Feldzug, der die Stasi zum Brennpunkt machte, traf Markus Wolf unmittelbar und persönlich. Er floh nach Moskau. So war er nicht in Berlin, als Modrow von seinen Diskussionen mit Gorbatschow zurückkehrte und erklärte: Deutschland soll wieder einig Vaterland, alle Bürger eine deutsche Nation werden.
Als Markus Wolf zurückkam, gab es die DDR nicht mehr zu verteidigen, sondern die Menschen, gegen die wegen ihrer Verteidigung der DDR eine Hexenjagd betrieben wurde, ihn eingeschlossen. Markus Wolf verteidigte sich und seine ehemaligen Kollegen auf ehrenvolle Weise mitten in einer wütenden antikommunistischen Hexenjagd. Vor einem Gericht der Siegerjustiz der BRD sagte er am ersten Tag des Prozesses:
Aus meiner Sicht könnte das Gericht noch heute sein Urteil sprechen. Die Anklage wirft mir vor, dass ich viele Jahre Leiter des Nachrichtendienstes der DDR, Hauptverwaltung A, war. Um das festzustellen, bedarf es keiner Beweise und Zeugen. Diese meine Tätigkeit ist unbestritten. (Der Spiegel, 5. Juli 1993, Ich liebe eine laute Sprache)
Wolf weigerte sich, zum imperialistischen Geheimdienst überzulaufen oder jemanden zu verpfeifen. Lieber ging er in Beugehaft, als vor Gericht gegen ehemalige DDR-Spione auszusagen (Zeit online, 9. November, Ein Mann mit vielen Gesichtern). Genau das sollte jeder Arbeiter, der jemals Streikposten gestanden hat, verstehen und respektieren. Die SpAD/IKL hat Markus Wolf und alle anderen, die zur Zielscheibe der antikommunistischen Hexenjagd gemacht wurden, verteidigt. Die Verteidigung der DDR war kein Verbrechen, ihr Ausverkauf war eines.
Aber es gab und gibt eine Alternative zur kapitalistischen Konterrevolution. Wir kämpften für die Rückkehr zum sozialistischen Weg von Lenin, Liebknecht, Luxemburg und Trotzki. Es ist interessant, sich die Worte des jüdischen Kommunisten Leopold Trepper anzuschauen, der im Untergrund des im Zweiten Weltkrieg von den Nazis besetzten Europas der Führer des sowjetischen Spionagenetzwerks Rote Kapelle war. In seinem Buch Die Wahrheit (1975), das er nach seiner Freilassung aus Stalins Gefängnissen schrieb, setzte er sich mit den Verrätereien des Stalinismus auseinander:
Mit Recht klagen die Trotzkisten heute jene an, die damals mit den Wölfen heulten und nach dem Henker riefen. Doch sollten sie nicht vergessen, dass sie uns gegenüber den ungeheuren Vorteil hatten, ein geschlossenes System zu vertreten, das geeignet war, den Stalinismus abzulösen, und an dem sie in der tiefen Not der verratenen Revolution Halt fanden. Sie ,gestanden nicht, denn sie wussten, dass ihr Geständnis weder der Partei noch dem Sozialismus nützte.
In untenstehender Box drucken wir aus dem Jahr 1995 einen Artikel von Markus Wolf ab, in dem er zu einer KfsV-Kundgebung für die Rettung des Lebens des in der Todeszelle sitzenden politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal aufruft. Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der Titelseite des Neuen Deutschland veröffentlicht.
Korrektur
Im Artikel „Markus Wolf – ein Nachruf“ (Spartakist Nr. 165, Winter 2006/2007) datierten wir den Kongress, auf dem die SED „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) ihrem Namen hinzufügte, auf den 21./22. Dezember 1989. Der Kongress fand tatsächlich am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 statt.
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