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Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 25

Frühjahr 2006

Empire, Multitude und „Tod des Kommunismus“

Senile Ergüsse des Postmarxismus

ÜBERSETZT AUS SPARTACIST, ENGLISCHE AUSGABE NR. 59, FRÜHJAHR 2006

Seit den Demonstrationen vom November 1999 in der „Schlacht von Seattle“ gegen die Welthandelsorganisation (WTO) ist „Antiglobalisierung“ in aller Munde. Kurz da-nach erschien Empire (Harvard University Press, Cambridge [Massachusetts], 2000; deutsche Ausgabe: Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2003). Das Buch machte seine Autoren, den jungen amerikanischen Akademiker Michael Hardt und dessen Mentor, den altgedienten italienischen neulinken Intellektuellen Antonio Negri, zu selbst ernannten Mediensprechern für Antiglobalisierungs-Aktivisten. Viele Leute reden über dieses schwer lesbare, oft ganz und gar unverständliche Werk, das mit obskurem postmodernistischem Jargon und Sätzen, die über ganze Absätze gehen, überladen ist; doch nur wenige haben es gelesen. Aber das Versprechen, einer aus völlig ungleichen Teilen zusammengezimmerten Protestbewegung etwas theoretische Geschlossenheit zu verleihen, machte Empire und den Nachfolger Multitude — Krieg und Demokratie im Empire (Campus Verlag, 2004) zum Brennpunkt einer weiterreichenden Debatte über Globalisierung, Klassen und gesellschaftliche Veränderungen in der nachsowjetischen Ära.

In Empire und Multitude boten Hardt und Negri eine Synthese der Ideen einer Schicht „postmarxistischer“ Intellektueller, wonach sich im Laufe der letzten paar Jahrzehnte Struktur und Funktionsweise des Weltkapitalismus grundlegend geändert hätten. In der gegenwärtigen „postindustriellen“, „informationellen“ Wirtschaft stelle nach Hardt und Negri das Industrieproletariat nicht mehr die einzige revolutionäre soziale Kraft dar, wie es der traditionelle Marxismus lehrt. Transnationale Unternehmen und Banken hätten eine vollständige Globalisierung der Produktion bewirkt. Ein virtuelles Netz globaler Verknüpfungen, das „Empire“, habe Staaten und andere Formen zentral organisierter Macht abgelöst. Ihr Fazit:

„Die gegenwärtige Neuzusammensetzung der gesellschaftlichen Klassen, die Hegemonie der immateriellen Arbeit, die Entscheidungsstrukturen, die auf netzwerkförmigen Organisationen beruhen — all das verändert die Bedingungen revolutionärer Prozesse radikal. Die traditionelle moderne Vorstellung der Insurrektion beispielsweise, die sich in zahlreichen Episoden von der Pariser Commune bis zur Oktoberrevolution entwickelte, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bewegung vom Aufstand der Massen zur Bildung politischer Avantgarden übergeht, vom Bürgerkrieg zur Einsetzung einer Revolutionsregierung, von der Errichtung von Organisationen der Gegenmacht zur Eroberung der Staatsmacht und vom offenen konstituierenden Prozess zur Etablierung der Diktatur des Proletariats. Eine solche Abfolge revolutionären Handelns ist heute unvorstellbar.“

Multitude

Hardt und Negri erheben den Anspruch, Marx auf den neuesten Stand zu bringen, aber sie werfen den programmatischen Kern des Marxismus über Bord: die proletarische Revolution zum Sturz des kapitalistischen Systems. Sie verwerfen die Lehren, die aus der Pariser Kommune 1871, dem ersten proletarischen Aufstand, herausgearbeitet wurden, sowie die darauf folgende Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung. Klassenkrieg und proletarische Macht verspotten sie: „All diese Fragen haben ausgedient, sind veraltet und verbraucht“ (ebd.). Aber weit davon entfernt, was Neues zu bieten, tischen Hardt und Negri einen Brei von anarchoidem Lifestyle-Radikalismus und utopischem Reformismus auf, der an den „Gegenkultur“-Trend der Neuen Linken in den 60er-Jahren erinnert: „Wie wir an verschiedenen Stellen in diesem Buch ausführen werden, sind Widerstand, Exodus, die Aushöhlung der Macht des Feindes und die Errichtung einer neuen Gesellschaft durch die Multitude ein und derselbe Prozess“ (ebd.).

Die quälende Öde von Empire und Multitude fängt Tony Judt ganz gut in seiner Buchbesprechung „Dreams of Empire“ [Träume vom Empire] ein. Negri, schreibt er, hat seit den 70er-Jahren „nichts gelernt und nichts vergessen“:

„Dies ist Globalisierung für politisch Minderbemittelte. Anstelle des langweiligen alten Klassenkampfes gibt es nunmehr die unersättliche imperiale Vernetzung, die jetzt einem selbst geschaffenen Herausforderer gegenübersteht, nämlich der dezentralisierten vielköpfigen Allgemeinheit: Alien versus Predator... Solange die amerikanische Linke Multitude liest, kann [US-Vizepräsident] Dick Cheney ruhig schlafen.“

New York Review of Books, 4. November 2004

Nach den fast 900 Seiten gewundener Prosa von Empire und Multitude geben Hardt und Negri zu: „Ein philosophisches Buch wie das vorliegende ist jedoch nicht der richtige Ort, um darüber zu befinden, ob die Zeit der revolutionären politischen Entscheidung schon gekommen ist oder nicht“, um dann hinzuzufügen: „Ein Buch wie dieses ist auch nicht der Ort, um die Frage ,Was tun?‘ zu beantworten“ (Multitude). Dieses unverblümte Eingeständnis eines bornierten Nichtwissertums widerspiegelt die oft gepriesene Vielfalt der so genannten „Bewegung der Bewegungen“, einer Bewegung von „einem Nein und einer Million Jas“.

Als Marxisten und Leninisten wissen wir allerdings, was zu tun ist. Wir kämpfen für neue Oktoberrevolutionen: für den Sturz des kapitalistischen Systems durch das Proletariat, verbündet mit anderen Teilen der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Der weltweite Sieg des Proletariats würde ungeahnten Reichtum in den Dienst menschlicher Bedürfnisse stellen und die Basis schaffen, um die Klassen zu beseitigen, die soziale Ungleichheit der Geschlechter aufzuheben und die gesellschaftliche Funktion von Rasse, Nation und ethnischer Herkunft gänzlich abzuschaffen. Zum ersten Mal wird die Menschheit die Zügel der Geschichte in die Hand nehmen und ihre eigene Schöpfung, die Gesellschaft, meistern, und das Ergebnis wird eine Befreiung des menschlichen Potenzials auslösen, von der man bis heute nicht mal träumen konnte.

Ende der 30er-Jahre, nach dem Sieg des Faschismus in Deutschland und der Niederlage der Spanischen Revolution, bemerkte der marxistische Revolutionär Leo Trotzki: „Wie immer in Zeiten des Niedergangs und der Reaktion tauchen überall Quacksalber und Scharlatane auf. Sie wollen den gesamten Gang des revolutionären Denkens revidieren“ (Übergangsprogramm, 1938). Der Sieg der kapitalistischen Konterrevolution in der Sowjetunion und in Osteuropa Anfang der 90er-Jahre hat eine neue Generation ideologischer Quacksalber und Scharlatane aufblühen lassen. Hardt und Negri gehen mit ihren ideologischen Waren bei jungen Linken hausieren, denen jedwede Vorstellung von der revolutionären Kapazität des Proletariats fehlt und die daher die subjektive Sichtweise akzeptieren, wonach eine neue Welt nicht dadurch geschaffen wird, dass man die materielle Realität der Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißt, sondern indem man die Vorstellungen in den Köpfen der Menschen verändert.

Deshalb ist es notwendig, die grundlegenden Prämissen des historischen Materialismus und die entsprechenden programmatischen Prinzipien des Marxismus wieder geltend zu machen. Dabei erinnern wir an Friedrich Engels’ beispielhafte Polemik gegen einen Scharlatan seiner Zeit, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1877/78). Engels arbeitete eng mit Marx zusammen bei der Verfassung dieses Werks, das allgemein als Anti-Dühring bekannt ist (Teile daraus wurden später in gekürzter Form als Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft [1882] veröffentlicht). Engels machte sich über Dühring lustig, weil der sich durch „vorlaute Pseudowissenschaft“ und „höheres Blech“ auszeichnet, und sprach ihn der „Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn“ schuldig. Aber er nahm auch Dührings Argumente und dessen idealistische philosophische Sichtweise methodisch auseinander und schuf dabei eine machtvolle Darlegung der materialistischen Geschichtsauffassung.

Für eine materialistische Auffassung der Klassengesellschaft

Hardt und Negri streuen Sand in die Augen junger linker Aktivisten, die über die unzähligen Greuel des kapitalistischen Weltsystems empört sind — das Elend der Massen im „globalen Süden“, rassistischen Terror, imperialistischen Krieg —, indem sie obskure, Verwirrung stiftende und nachweisbar falsche „theoretische“ Rechtfertigungen für weit verbreitete antikommunistische Vorurteile liefern. Sie trösten das hauptsächlich kleinbürgerliche Antiglobalisierungsmilieu, indem sie glauben machen, dieses sei selbst eine Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung, und leugnen damit, dass subjektive Revolutionäre sich mit der sozialen Macht des Proletariats verbünden müssen. Sie verunstalten präzise marxistische Begriffe wie „Klasse“ und werben für eine „antikapitalistische“ Bewegung, in deren Mittelpunkt das Weltsozialforum steht, das von kapitalistischen Stiftungen und sogar kapitalistischen Regierungen finanziert wird und sich auf diese stützt. Nirgendwo machen sie den Versuch, die Realität zu analysieren oder harte Fakten vorzulegen, um ihre impressionistischen Behauptungen zu untermauern.

Man beachte den Kontrast zwischen der sorgfältig recherchierten historischen und statistischen Dokumentation, wie man sie in Marx’ Kapital oder Lenins Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus findet, und der Art und Weise, wie Hardt und Negri wirtschaftliche und politische Theorien ausspinnen, die der Leser wie eine Religion auf Treu und Glauben akzeptieren muss. In einer Buchbesprechung von Multitude erwähnt Tom Nairn, langjähriger Mitarbeiter der New Left Review, wie Hardt und Negri sowohl den Marxismus als auch den kapitalistischen Neoliberalismus ablehnen zu Gunsten einer im Wesentlichen spirituellen Herangehensweise. Hinsichtlich der Fixiertheit der Autoren auf den im 17. Jahrhundert lebenden holländischen Philosophen Baruch Spinoza, einen Vorboten des Aufklärungsrationalismus des 18. Jahrhunderts, kommentiert Nairn: „Vielen Lesern wird ein derartiges Vertrauen in eine Sichtweise seltsam vorkommen, die nicht nur David Hume und Adam Smith, sondern auch Darwin, Freud, Marx und Durkheim zeitlich vorangeht, also aus einem Zeitalter stammt, als noch niemand von Genen und der Struktur der menschlichen DNA auch nur träumte“ („Make for the Boondocks“ [Auf zum Hinterwäldlertum], London Review of Books, 5. Mai 2005). In einem erst kürzlich erschienenen postmarxistischen Diskurs argumentiert Malcolm Bull, der u. a. Cicero, Aristoteles und Thomas Hobbes zitiert, dass Hardt und Negri den armen Spinoza falsch auslegen, dessen Konzept von „Multitudo“ (Vielzahl) in jedem Fall keinen Rahmen für eine Diskussion moderner Politik biete („The Limits of Multitude“ [Die Grenzen der Multitude], New Left Review, September/Oktober 2005).

Hardt und Negri verkörpern eine besonders bei der linken Intelligenz ausgeprägte, tiefgehende Rückentwicklung des politischen Bewusstseins, die wir mehrfach beschrieben haben; diese bereitete den endgültigen Umsturz der Oktoberrevolution und den imperialistischen Triumphalismus über den angeblichen „Tod des Kommunismus“ vor und wurde ihrerseits durch diese Ereignisse vertieft. Wir leben fürwahr in einer Ära, wo aufgeblasene Pseudowissenschaft Oberwasser hat und zunehmend einflussreiche christlich-fundamentalistische Kräfte in den Korridoren der Macht des mächtigsten Staates der Welt versuchen, uns den biblischen Schöpfungsmythos als das Nonplusultra der „Wissenschaft“ aufzuschwätzen.

Die meisten jungen Linken sind heute der Meinung, dass nicht nur der proletarische Sozialismus, sondern jede Form einer programmatisch definierten revolutionären Strategie von der Tagesordnung verschwunden sei. Ein Großteil der pseudomarxistischen Linken verleugnet jegliches auch nur nominelle Festhalten am marxistischen Ziel der Diktatur des Proletariats — die Ersetzung der kapitalistischen Klassenherrschaft durch die revolutionäre Herrschaft der Arbeiterklasse. In einer kurzen Polemik gegen den postmodernen Idealismus mit dem Titel „In Defense of History“ [In Verteidigung der Geschichte] kommentierte der Historiker Eric Hobsbawm:

„Die meisten Intellektuellen, einschließlich der Historiker, die sich seit etwa 1880 für den Marxismus entschieden, haben das deshalb getan, weil sie die Welt in Verbindung mit den Arbeiter- und sozialistischen Bewegungen verändern wollten. Diese Motivation blieb bis zu den 1970er-Jahren stark, als eine massive politische und ideologische Reaktion gegen den Marxismus einsetzte. Deren wesentliche Auswirkung besteht darin, die Überzeugung zu unterminieren, dass geschichtliche Analyse imstande ist, den Erfolg einer besonderen Organisierungsweise der menschlichen Gesellschaft vorherzusagen und zu unterstützen.“

—Guardian [London], 15. Januar 2005

Der Marxismus holte den Kampf für eine egalitäre Gesellschaft aus dem Reich eines spirituellen oder philosophischen Ideals heraus und verankerte ihn in einer wissenschaftlichen, materialistischen Analyse der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. „Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise“, schrieb Engels im Anti-Dühring. Armut, Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg haben ihren Ursprung nicht in schlechten Ideen, Gier, Machtgier oder anderen vermuteten Charakterzügen einer angeblich unveränderlichen „menschlichen Natur“.

Der Verlauf der menschlichen Geschichte wird von einem andauernden Kampf geprägt, sich genug Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu verschaffen, um für das Überleben und die Fortpflanzung zu sorgen. Viele tausend Jahre lang lebten Menschen in kleinen Verwandtschaftsgruppen und teilten das, was sie durch Jagen und Sammeln zusammenbekamen, auf der Basis eines groben Kommunismus der Verteilung. Die Erfindung der Landwirtschaft ermöglichte die Produktion eines Überschusses über das hinaus, was für das unmittelbare Überleben notwendig war, eröffnete den Weg zur weiteren Entwicklung der Produktionsmittel und warf die Frage auf, wem der Überschuss gehören sollte und wie. Die Entwicklung des Privateigentums und die Teilung der Gesellschaft in Klassen brachten auch den Aufstieg der Familie, der hauptsächlichen Institution für die Unterdrückung der Frauen (und Jugendlichen): Mittels der Familie wurde der privat angeeignete Reichtum an die nächste Generation weitergegeben. Die ganze Geschichte ist seitdem die Geschichte von Klassenkämpfen: „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848).

Kapitalismus, Imperialismus und der Nationalstaat

Der Kapitalismus war historisch fortschrittlich, da er die Produktivkräfte der Gesellschaft enorm steigerte — so sehr, dass es zum ersten Mal eine materielle Basis dafür gab, sich ein vollständiges Ende des Mangels und der Teilung in Klassen vorzustellen: „Erst die durch die große Industrie erreichte ungeheure Steigerung der Produktivkräfte erlaubt, die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft — theoretischen wie praktischen — zu beteiligen“ (Anti-Dühring).

Gleichzeitig wurde das private Eigentum an den Produktionsmitteln immer mehr zu einer Barriere für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte. Engels erklärte:

„Mit andern Worten: es kommt daher, daß sowohl die von der modernen kapitalistischen Produktionsweise erzeugten Produktivkräfte wie auch das von ihr geschaffne System der Güterverteilung in brennenden Widerspruch geraten sind mit jener Produktionsweise selbst, und zwar in solchem Grad, daß eine Umwälzung der Produktions- und Verteilungsweise stattfinden muß, die alle Klassenunterschiede beseitigt, falls nicht die ganze moderne Gesellschaft untergehn soll. In dieser handgreiflichen, materiellen Tatsache, die sich den Köpfen der ausgebeuteten Proletarier mit unwiderstehlicher Notwendigkeit in mehr oder weniger klarer Gestalt aufdrängt — in ihr, nicht aber in den Vorstellungen dieses oder jenes Stubenhockers von Recht und Unrecht, begründet sich die Siegesgewißheit des modernen Sozialismus.“

—ebd.

Das Aufkommen des modernen Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts markierte den Beginn einer Epoche des weltweiten kapitalistischen Niedergangs. Das System der Nationalstaaten, das als Schmiede für den Aufstieg einer modernen Kapitalistenklasse zur Macht gedient hatte, kam immer schärfer in Konflikt mit den Bedürfnissen der internationalen Wirtschaftsordnung, die der Kapitalismus selbst hervorgebracht hatte. Die kapitalistischen Großmächte, die durch blutige imperiale Eroberung die Welt untereinander aufgeteilt hatten, starteten eine Reihe von Kriegen zu ihrer Neuaufteilung, weil sie ihren Kolonialbesitz und ihre Einflusssphären auf Kosten ihrer Rivalen ausweiten wollten.

Auf die blutige Barbarei des Ersten Weltkriegs — von Trotzki als eine „rasende Zerstörung der menschlichen Kultur“ beschrieben (Terrorismus und Kommunismus, 1920) — folgten gerade mal zwei Jahrzehnte des „Friedens“, bevor die imperialistischen Mächte einen zweiten Weltbrand entfachten. Im Zweiten Weltkrieg kam es zum Inbegriff der kapitalistischen Barbarei, zum Nazi-Holocaust an dem europäischen Judentum — der erst endete, als die sowjetische Rote Armee das von den Nazis besetzte Osteuropa befreite — und zur Einäscherung von etwa 200000 japanischen Zivilisten durch amerikanische Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. In einem zukünftigen interimperialistischen Krieg werden alle Seiten wahrscheinlich Atomwaffen einsetzen, was die gesamte Menschheit mit Vernichtung bedroht.

Bezeichnend für das moderne imperialistische System ist, dass eine Handvoll fortgeschrittener kapitalistischer Staaten in Nordamerika, Europa und Japan die geknechteten kolonialen und halbkolonialen Massen in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbeutet und unterdrückt; dadurch wird die umfassende sozialökonomische und kulturelle Modernisierung der riesigen Mehrheit der Menschheit verhindert. Um eine gerechte, egalitäre und harmonische Gesellschaft ins Leben zu rufen, muss der weltweite ökonomische Mangel durch eine international geplante sozialistische Wirtschaft überwunden werden. Doch viele Grüne und Anarchisten halten großangelegte Technologien für ein Übel an sich (obwohl nur wenige auf moderne Medizin, Kommunikation und Verkehrsmittel zu verzichten bereit wären zu Gunsten eines täglichen Kampfes ums nackte Überleben). Was Hardt und Negri betrifft, so „widerlegen“ sie den marxistischen Materialismus, indem sie den Mangel einfach hinwegzaubern:

„Die Vorstellung von einem zugrunde liegenden Krieg aller gegen alle nämlich beruht auf einer Ökonomie des Privateigentums und der knappen Ressourcen. Materielles Eigentum wie etwa Land oder Wasser oder ein Auto kann sich nicht an zwei Orten zugleich befinden: Die Tatsache, dass ich es habe und benutze, macht es unmöglich, dass du es ebenfalls besitzt und benutzt. Immaterielles Eigentum hingegen wie etwa eine Idee oder ein Bild oder eine Kommunikationsform ist unbegrenzt reproduzierbar... Einige Ressourcen bleiben auch heute knapp, viele andere aber, und hier ganz besonders die neuesten Elemente der Ökonomie, operieren nicht mit einer Logik der Knappheit.“

Multitude

Unsere bahnbrechenden postmarxistischen Professoren sind weder sehr originell noch sehr radikal. Charles Leadbeater, ein Bewunderer von Tony Blairs Labourregierung in Britannien und deren hoch gelobter freiberuflicher Berater, hatte zwei Jahre vor Empire geschrieben:

„Den ökonomischen Wert der Umwandlung von Wissen kann man am besten deutlich machen, wenn man sich vorstellt, wie man zu Hause mit Nahrungsmitteln wirtschaftet. Stellt euch vor, die Welt sei aufgeteilt in Schokoladenkuchen und Schokoladenkuchenrezepte... Wir können alle das gleiche Schokoladenkuchenrezept benutzen, gleichzeitig, ohne dass irgendjemand schlechter dabei wegkommt. Mit einem Stück Kuchen ist das ganz anders.“

—Leadbeater, Living on Thin Air: The New Economy [Von reiner Luft leben: Die New Economy] (Penguin Books, London, 1999)

Kurz vor der Französischen Revolution von 1789 soll die Königin Marie Antoinette, als man ihr erzählte, dass die armen Leute von Paris kein Brot haben, geantwortet haben: „Sollen sie doch Kuchen essen.“ Leadbeater übertrumpft Marie Antoinette noch. Den verarmten Massen des „globalen Südens“ sagt er: Sollen sie doch Kuchenrezepte essen! Wie Engels über Herrn Dühring schrieb: „Mit solcher Leichtigkeit setzt die lebendige Kraft des wirklichkeitsphilosophischen Hokuspokus über die unpassierbarsten Hindernisse hinweg“ (Anti-Dühring).

Die Reaktion auf den Hurrikan Katrina zeigte anschaulich, wie die „Logik des Mangels“ selbst das reichste kapitalistische Land der Welt weiterhin beherrscht. Die Verachtung, die die korrupte amerikanische herrschende Klasse den Schwarzen und Armen von New Orleans entgegenbringt — die auf Gedeih und Verderb den Wassermassen überlassen wurden, weil ihnen die Mittel fehlten, der Stadt zu entfliehen —, entsetzte Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt.

Hardts und Negris begrifflich verworrene Ausschweifungen kann man nicht ernster nehmen als computer-generierte Special Effects in Hollywood-Filmen wie Matrix. In der Welt der virtuellen Realität von Empire schwätzen Hardt und Negri von „Weltbürgerschaft“ und einem universellen sozialen Lohn. Diesen einzuführen, selbst wenn er auch nur dem gesetzlichen Mindestlohn der USA von 5,15 Dollar pro Stunde entspräche, würde einen jährlichen Kostenaufwand verlangen, der höher wäre als das gegenwärtige (2004) Bruttoeinkommen der gesamten Welt. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre ein enormer Sprung der menschlichen Produktivität nötig, ganz zu schweigen von einer Umwälzung des Produktions- und Verteilungssystems. Aber Hardt und Negri lehnen die Perspektive einer internationalen Planwirtschaft ab und leugnen sogar, dass materieller Mangel weiterhin ein Grundproblem der Menschheit darstellt.

Der Rote Oktober, die Sowjetunion und ihr Schicksal

Sowohl Pseudolinke als auch offene Rechte sehen in dem so genannten „Scheitern des sowjetischen Experiments“ einen unwiderlegbaren Beweis dafür, dass jeder Versuch, den Kapitalismus durch ein „hegemonisches System“ bzw. einen „hierarchischen Sozialismus“ zu ersetzen, dazu verdammt sei, unter dem Gewicht seiner notwendigerweise „totalitären“ Ziele zusammenzubrechen. Hardt und Negri plappern die allgemeinen Weisheiten der imperialistischen Ideologen und den Müll der Schmierblätter über den Zusammenbruch der Sowjetunion nach: „Der Widerstand gegen die bürokratische Diktatur trieb die Krise an“ (Empire). Und was ist mit der Zeit danach? Hardt und Negri verlieren nicht das leiseste Wort über den katastrophalen und historisch beispiellosen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch des nachsowjetischen Russlands, der Ukraine und anderer ehemaliger Sowjetrepubliken. Für diese selbst ernannten Wahrsager der Zukunft ist die Verelendung eines Großteils der Bevölkerung Osteuropas und der früheren UdSSR ganz und gar belanglos.

Die Oktoberrevolution erfüllte die Lehren von Marx und Engels mit Fleisch und Blut. Die Arbeiter, die die verarmten Bauernmassen anführten, eroberten die Staatsmacht und ersetzten die Klassendiktatur des Kapitals durch eine Diktatur des Proletariats — ein notwendiger Schritt in Richtung einer globalen, klassenlosen, egalitären Gesellschaft, in der das Unterdrückungsinstrument Staat vollkommen abstirbt. Eine Regierung, die auf demokratisch gewählten Arbeiter- und Bauernräten (Sowjets) basierte, enteignete die Kapitalisten und Großgrundbesitzer, brach ihren Widerstand und machte sich daran, eine Planwirtschaft zu errichten, die nicht auf Profit, sondern auf den Bedürfnissen der Gesellschaft basierte. Trotz unvorstellbarer Armut und Rückständigkeit nahm Sowjetrussland eine Vorreiterrolle ein in allen Bereichen sozialer Befreiung (siehe „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“, Seite 64).

Das Ergreifen und Behalten der Staatsmacht durch die Arbeiter — in einem rückständigen Land, wo sie im Vergleich zur Bauernschaft eine kleine Minderheit darstellten und zudem im Großen und Ganzen selber nur ein oder zwei Generationen von ihrer bäuerlichen Herkunft entfernt waren — liefert einen schlagenden Beweis für die Rolle des Proletariats als einziger Kraft, die in unserer Epoche die soziale Revolution durchführen kann. Diese Analyse hatte Trotzki in Ergebnisse und Perspektiven (1906) als Teil seiner Theorie der permanenten Revolution ausgearbeitet. Danach konnten die noch ausstehenden demokratischen Aufgaben im rückständigen zaristischen Russland, etwa die Land- und nationale Frage, nur im Kontext der proletarischen Macht gelöst werden; Voraussetzung für den Erfolg der permanenten Revolution waren aber siegreiche proletarische Revolutionen in den Industriemächten Westeuropas. Die Masse von Russlands Arbeitern, nicht nur die bolschewistischen Führer, sahen in der Oktoberrevolution den Beginn der sozialistischen Weltrevolution. Das rote Russland trug dazu bei, Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt zu revolutionärem Bewusstsein zu beflügeln. Tatsächlich erfasste nach dem Ersten Weltkrieg revolutionärer Aufruhr einen Großteil Europas, besonders Deutschland. Aber in keinem weiteren Land konnte die Arbeiterklasse die Macht ergreifen. Dieser Ausgang ist hauptsächlich auf die konterrevolutionäre Politik der sozialdemokratischen Irreführer der Arbeiter zurückzuführen sowie auf das Fehlen von im Proletariat verankerten Avantgardeparteien wie der bolschewistischen Partei, die Lenin im zaristischen Russland aufgebaut hatte.

Nach sieben Jahren imperialistischem Krieg und Bürgerkrieg war Sowjetrussland international isoliert und ökonomisch am Boden zerstört, sein Proletariat physisch dezimiert und politisch erschöpft. Seine riesige Bauernschaft, besonders die Schichten, denen es etwas besser ging, begann in dieser Situation ihre eigenen kleinbürgerlichen Klasseninteressen zu behaupten. (Eine ausführlichere Diskussion dieses Aspekts befindet sich im Artikel „Kronstadt 1921: Bolschewismus gegen Konterrevolution“, Seite 8.) Diese Bedingungen begünstigten das Wachstum einer bürokratischen Schicht im Regierungsapparat des Sowjetstaates und in der herrschenden Kommunistischen Partei. Nach dem Scheitern einer weiteren revolutionären Gelegenheit in Deutschland 1923 und der daraus resultierenden weit verbreiteten Demoralisierung ergriff die Bürokratie die Gelegenheit, ihre politische Kontrolle durchzusetzen. Zwar blieben die sozialen Grundlagen, die der Rote Oktober geschaffen hatte, weiter bestehen, aber diese politische Konterrevolution bedeutete eine qualitative Verwandlung, auf welche Weise und für welche Zwecke die Sowjetunion regiert wurde.

Die Bürokratie stand dem Kampf für sozialistische Revolutionen in den kapitalistischen Ländern zunehmend feindlich gegenüber. Ende 1924 verkündete Stalin das lächerliche Dogma, dass Sozialismus in der Sowjetunion alleine aufgebaut werden könne, wenn man nur die Imperialisten von einem militärischen Angriff abhalten könne. Beim Streben nach „friedlicher Koexistenz“ wurden Kommunistische Parteien auf der ganzen Welt in Werkzeuge der sowjetischen Diplomatie verwandelt. Als Führer der Linken Opposition (LO) kämpfte Trotzki sowohl in der sowjetischen Kommunistischen Partei als auch in der Kommunistischen Internationale gegen die bürokratische Degenerierung der Russischen Revolution. Die LO kämpfte für die Aufrechterhaltung des internationalistischen Programms, für die Ausweitung der Errungenschaften der Russischen Revolution auf andere Länder — das Programm, das in den frühen Jahren der Revolution Triebfeder des sowjetischen Staates und der Partei war.

Wegen der vom Bürgerkrieg verursachten ökonomischen Zerstörung und der extremen Rückständigkeit der Landwirtschaft war 1921 das bolschewistische Regime gezwungen, einen beschränkten privaten Markt für Getreide und Verbrauchsgüter zuzulassen. Der LO war es klar, dass die Schicht von besser gestellten Bauern (Kulaken) and Kleinhändlern eine potenzielle Gefahr für das vergesellschaftete Eigentum darstellte, welches die Grundlage des Arbeiterstaats bildete. Während die wachsende bürokratische Kaste gegenüber den Kulaken immer versöhnlerischer auftrat, befürwortete die LO eine Besteuerung des landwirtschaftlichen Überschusses, um finanziell die geplante industrielle Entwicklung zu unterstützen, sowie eine Politik materieller Anreize für die ärmeren Bauern, damit diese ihr Land freiwillig kollektivierten. Als die Kulaken 1928 durch systematisches Horten des Getreides die Preise hochtrieben und die Städte auszuhungern drohten, war die Bürokratie gezwungen, Teile des Programms der LO, wenn auch in deformierter Form, umzusetzen. In typisch brutaler und bürokratischer Weise setzte Stalin die Zwangskollektivierung der Bauernschaft durch. Diese Wende stoppte die unmittelbare Gefahr einer kapitalistischen Restauration in der UdSSR. Die damit einhergehende Politik der geplanten industriellen Entwicklung strotzte zwar von gewaltigen bürokratischen Verzerrungen und von Misswirtschaft, versetzte aber die Sowjetunion in die Lage, eine moderne Industriegesellschaft aufzubauen, in der die Arbeiterklasse Zugang zu Medizin, Wissenschaft, Bildung und Kultur hatte.

Nicht der Marxismus hat in der Sowjetunion versagt, sondern die stalinistische Perversion, die in den Dogmen „Sozialismus in einem Land“ und „friedliche Koexistenz“ ihren Ausdruck fand. Trotzki bestand darauf, dass die Sowjetunion trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge nicht auf historisch lange Sicht überleben könnte in einer Welt, die von kapitalistisch-imperialistischen Staaten dominiert wird. Zentrale Planung kann nur unter einem Regime der Sowjetdemokratie effektiv funktionieren, das die notwendige Beteiligung der Arbeiter selbst an der Regulierung und Durchführung des Plans vorsieht. Dennoch gilt, was Trotzki in seiner scharfsinnigen Analyse des Stalinismus schrieb:

„Der Sozialismus hat sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des ,Kapitals‘ bewiesen, sondern in einer Wirtschaftsarena, die ein Sechstel der Erdoberfläche ausmacht, — nicht in der Sprache der Dialektik, sondern in der Sprache des Eisens, des Zements und der Elektrizität. Selbst wenn die UdSSR infolge innerer Schwierigkeiten, äußerer Schläge und der Fehler der Führung zusammenbräche — was, wie wir fest hoffen, nicht eintreten wird —, so bliebe doch als ein Pfand der Zukunft die unauslöschliche Tatsache bestehen, dass allein dank der proletarischen Revolution ein zurückgebliebenes Land in weniger als zwei Jahrzehnten historisch beispiellose Erfolge erzielte.“

Verratene Revolution (1936)

Während der 30er-Jahre expandierte die kollektivierte sowjetische Wirtschaft schnell, sogar als gleichzeitig die kapitalistische Welt in der Wirtschaftskrise steckte. Der Wiederaufbau nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg brachte die Sowjetunion technologisch so weit voran, dass sie Ende der 50er-Jahre einen Menschen ins All schicken konnte. Zwischen 1960 und 1980 wurde ein massives Bauvorhaben in Angriff genommen, um jeder städtischen Familie eine Wohnung mit niedriger Miete zu verschaffen. Dies wurde als ein Recht angesehen, das zur sowjetischen Staatsbürgerschaft gehörte — ebenso wie das Recht auf einen Arbeitsplatz, öffentlich zugängliche Ausbildung und kostenlose Gesundheitsversorgung. Das waren historische Errungenschaften der Planwirtschaft, trotz der schrecklichen bürokratischen Unkosten durch die stalinistische Misswirtschaft, die quer durch die ganze Gesellschaft eine graue Eintönigkeit erzeugte, von der schlampigen Qualität von Verbrauchsgütern bis zur Erstickung des intellektuellen Lebens.

Und heute? In den ersten sechs Jahren nach der Konterrevolution fiel das Bruttoinlandsprodukt im nachsowjetischen Russland um 80 Prozent. Die Reallöhne sackten ähnlich ab. Zu ihrem bloßen Überleben waren viele Stadtbewohner gezwungen, in kleinen Gartenparzellen zwischen den Häusern Gemüse anzubauen. Heute sind Millionen Menschen in Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken fast am Verhungern, und die Obdachlosigkeit ist allgegenwärtig.

Hardt, Negri und andere Anbeter vollendeter Tatsachen verkünden, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei unvermeidlich gewesen. Tatsache ist aber: Bei einem Sieg des revolutionär-internationalistischen Programms hätte alles ganz anders ausgehen können. In den Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution gab es zahlreiche Gelegenheiten für proletarische Revolutionen in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, die die Isolierung des ersten Arbeiterstaats der Welt durchbrochen, den Würgegriff der nationalistischen Bürokratie zerschmettert und das revolutionäre Bewusstsein des sowjetischen Proletariats wieder belebt hätten. Trotzki und die Linke Opposition führten einen hartnäckigen Kampf zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften sowohl gegen äußere als auch gegen innere Bedrohungen. Sie kämpften für den Sturz des Stalinismus und für die Wiederherstellung des bolschewistischen Internationalismus und der Sowjetdemokratie in der Sowjetunion. Allein die Internationale Kommunistische Liga, bewaffnet mit unserem trotzkistischen Programm der proletarisch-politischen Revolution, intervenierte 1989–92 zuerst in Ostdeutschland und dann in der Sowjetunion für den Sturz der zerfallenden stalinistischen Bürokratie und deren Ersetzung durch eine auf Arbeiterräten basierende Regierung.

Trotz der Zerstörung der UdSSR lebt etwa ein Viertel der Weltbevölkerung immer noch in Ländern, die nicht unter direkter Herrschaft der kapitalistischen Ausbeuter stehen — die verbliebenen deformierten Arbeiterstaaten Kuba, Vietnam, Nordkorea und vor allem China, das bevölkerungsreichste Land der Welt. Aber China ist Empire und Multitude kaum einer Erwähnung wert, geschweige denn eines Hinweises, dass dies eine Gesellschaft ist, in der es irgendetwas zu verteidigen gäbe. Auch hier folgen Hardt und Negri den imperialistischen Herrschern aufs Wort, die — nachgeäfft von den antikommunistischen Gewerkschafts- und sozialdemokratischen Irreführern — China als ein gigantisches Lager der „Sklavenarbeit“ darstellen. Das zeigte sich deutlich bei den Protesten 1999 in Seattle, wo Hardt, Negri und andere Antiglobalisierungs-Ideologen niedliche Bilder von „Teamsters and turtles united“ bejubelten [Transportarbeiter und Schildkröten vereint — letztere waren als Meeresschildkröten verkleidete Tierschützer], mit denen in Wirklichkeit nur eine finstere Kampagne der amerikanischen AFL-CIO-Gewerkschaftsbürokratie, Washington zu härteren Maßnahmen gegen China zu bewegen, abgedeckt wurde.

Im Gegensatz dazu kämpft die IKL für die bedingungslose militärische Verteidigung Chinas gegen Imperialismus und kapitalistische Konterrevolution. China ist heute immer noch, was es seit der Revolution 1949 war: ein Arbeiterstaat unter bürokratischem Regime, dessen Struktur der der ehemaligen Sowjetunion ähnlich ist. Obwohl dem ausländischen wie auch dem einheimischen Kapitalismus bereits größere Einbrüche gelungen sind, bleiben die zentralen Elemente der Wirtschaft kollektiviert. In einer Zeit, in der fast alle fortgeschrittenen kapitalistischen Länder finanzpolitische Sparmaßnahmen praktizieren, hat Chinas Regierung gigantische Infrastruktur-Projekte wie den Bau von Dämmen und Kanälen gestartet. Das Staatseigentum am Bankensystem hat China bis heute vor den unbeständigen Bewegungen von kurzfristigem Spekulationskapital geschützt, das periodisch in der Wirtschaft neokolonialer kapitalistischer Länder in Ostasien und auch in Lateinamerika verheerende Schäden anrichtet.

Insoweit die Beijinger Bürokraten die riesigen „Freihandelszonen“ für chinesisches Überseekapital und ausländisches Kapital kontrollieren, sind sie in gewissem Sinne zu Arbeitsvermittlern für die Imperialisten geworden. Aber die kapitalistischen Mächte werden nicht ruhen, bis China völlig unter der Knute des imperialistischen Weltmarkts steht. Die USA haben in Zentralasien Militärstützpunkte aufgebaut, um China mit amerikanischen Militäreinrichtungen zu umzingeln, und sie haben kürzlich mit Japan einen Pakt geschlossen zur Verteidigung der vor dem Festland liegenden kapitalistischen Bastion Taiwan. Früher oder später werden die explosiven sozialen Spannungen in der chinesischen Gesellschaft die herrschende Bürokratie zerschmettern. Dann stellt sich knallhart die Frage: proletarisch-politische Revolution, die den Weg zum Sozialismus eröffnet, oder kapitalistische Versklavung und imperialistische Unterjochung. Für arbeitende Menschen und linke Jugendliche auf der ganzen Welt steht bei diesem Kampf viel auf dem Spiel. Eine kapitalistische Konterrevolution hätte verheerende Auswirkungen für die chinesischen Arbeiter, Frauen und die arme Bevölkerung auf dem Land, und sie würde die Kapitalisten international ermutigen, noch brutalere Angriffe auf Arbeiter, Landarbeiter, Frauen, Minderheiten und Immigranten zu starten. Dies würde auch die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten verschärfen, besonders zwischen den USA und Japan, und zu weiteren imperialistischen militärischen Abenteuern gegen die halbkolonialen Länder auf dem ganzen Erdball führen.

„New-Economy”-Schwachsinn und kleinbürgerliche Arroganz

Es war ein gewaltiger Schritt vorwärts, als Marx und Engels erkannten, dass Klassenkampf der Weg zur revolutionären Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft und das Proletariat die revolutionäre Klasse der modernen Epoche ist. Als sie sich 1847 dem Bund der Gerechten anschlossen, wurde dieser zum Bund der Kommunisten und seine Losung änderte sich von „Alle Menschen sind Brüder“ zu „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Hardt und Negri gehen den umgekehrten Weg, sie lehnen Klassenkampf ab und lösen die Arbeiterklasse in eine angeblich klassenlose „Bevölkerung“ auf.

Kernpunkt der Argumente von Empire und Multitude ist die Behauptung, dass das Proletariat eingegangen sei in die „Multitude“, ein amorpher Begriff, der fast jeden auf dem Planeten umfasst — Industriearbeiter und Kleinbauern, Ingenieur und Hauswart, obdachlosen Bettler und Konzernmanager, Gefangenen und Gefängniswärter. Heute ist die Arbeiterbewegung schwächer als zu irgendeiner Zeit seit den 20er-Jahren, zumindest in den USA, und so sehen die meisten jungen linken Aktivisten die Arbeiterklasse als irrelevant an oder höchstens als einfach eines unter vielen Opfern der Unterdrückung. Hardt und Negri tischen eine „Theorie“ auf, um diesen Impressionismus unter den Intellektuellen mit Universitätsbildung, zu denen sie sprechen und die sie glorifizieren, zu rechtfertigen und zu verstärken. Das ist nichts Neues. Der Wegbereiter des amerikanischen Trotzkismus James P. Cannon hat das in einer Rede von 1966 gut ausgedrückt (obwohl die von ihm gegründete Socialist Workers Party schon in den frühen 60er-Jahren eine revolutionäre Perspektive aufgegeben hatte):

Es gibt jetzt ein neues Phänomen in der amerikanischen radikalen Bewegung, das, so höre ich, ,Die Neue Linke‘ genannt wird. Das ist ein Auffangbecken für eine Ansammlung von Leuten, die sagen, die heutige Situation gefiele ihnen nicht und man sollte etwas dagegen tun — jedoch dürfen wir von den Erfahrungen der Vergangenheit überhaupt nichts übernehmen — nichts von der ,Alten Linken‘, und keine einzige ihrer Vorstellungen oder Traditionen taugt irgendetwas...

Wir haben eine eindeutige Orientierung, während die Neue Linke sagt, die Arbeiterklasse sei tot. In den 20er-Jahren haben Klugschwätzer die Arbeiterklasse abgeschrieben. Es gab einen langen Wirtschaftsaufschwung in den 20er-Jahren. Die Arbeiter errangen nicht nur keine Siege, sie verloren an Boden. Die Gewerkschaften verloren tatsächlich Mitglieder. In all den grundlegenden Industrien, wo ihr jetzt große florierende Industriegewerkschaften seht — die Autoarbeiter, Luftfahrt, Stahl, Gummi, Elektroindustrie, Transport, Seeschifffahrt —, existierten die Gewerkschaften nicht, nur ein paar Sprenkel hier und dort... Ein halb-revolutionärer Aufstand Mitte der 30er-Jahre war nötig, um das aufzubrechen und wirkliche Gewerkschaften zu errichten.“

—Cannon, „Reasons for the Survival of the SWP and for Its New Vitality in the 1960s“
[Gründe für das Überleben der SWP und ihre neue Vitalität in den 60er-Jahren],
6. September 1966, abgedruckt in Spartacist, englische Ausgabe Nr. 38/39, Sommer 1986

Erst der französische Generalstreik vom Mai 1968 ermöglichte es einer Schicht westeuropäischer und nordamerikanischer Linker, vom neulinken Blödsinn über das Ableben der Arbeiterklasse zu brechen. Die Ansätze einer Arbeiterrevolution in Frankreich bekräftigten im wirklichen Leben das marxistische Verständnis vom revolutionären Potenzial des Proletariats. Sie entlarvten die Scharlatanerie einer früheren Generation von „postmarxistischen“ Ideologen und legten die Basis dafür, neue Schichten von Jugendlichen zum revolutionären Marxismus zu gewinnen.

Trotz vielfältiger Veränderungen in der Industrietechnik und der Weltwirtschaft bleibt das Proletariat zentral für eine revolutionäre Perspektive heute — weil es weiterhin seine Kernrolle im Produktionsprozess behält. Aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse zieht der Kapitalist seinen Profit. Die Kapitalisten, die die Arbeiter in großen Fabriken und großen Ballungszentren konzentrieren, haben dadurch das Werkzeug ihrer eigenen Zerstörung als ausbeutende Klasse geschaffen. Außerdem muss das Proletariat, um sich weltweit vom Joch des Kapitalismus zu befreien, jegliche Ausbeutung abschaffen, was zu einer Gesellschaft führt, in der es keine Klassenunterschiede mehr gibt.

Zwischen den beiden Hauptklassen in der kapitalistischen Gesellschaft, dem Proletariat und der Bourgeoisie, steht die Kleinbourgeoisie. Weder in Empire noch in Multitude wird die soziale Rolle dieser heterogenen Schicht erwähnt — die von verarmten Bauern, kleinen Ladenbesitzern und Filialleitern von Fast-Food-Ketten bis zu den akademisch gebildeten Kadern des kapitalistischen Systems in Regierung, Technik und Kultur sowie ehrgeizigen Bankiers an der Wall Street reicht —, geschweige denn eingehend behandelt. Die Kleinbourgeoisie steht in keiner eindeutigen Beziehung zu den Produktionsmitteln der Großindustrie im Kapitalismus und besitzt daher keine eigenständige soziale Macht; folglich kann die Kleinbourgeoisie, auch wenn sie (oder Teile von ihr) von einem politischen Extrem zum anderen schwanken kann, keine unabhängige Rolle im Klassenkampf spielen.

Die soziale Rolle der Kleinbourgeoisie wiederum bestimmt ihre soziale Weltsicht. Arbeiter können ihre wirtschaftlichen Bedingungen nur durch gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistischen Bosse und deren Staat verbessern, wogegen Mitglieder von Firmen- oder Regierungsbürokratien versuchen, ihr Einkommen zu erhöhen und ihren Sozialstatus durch individuelle Konkurrenz untereinander zu verbessern. Ein Angestellter, der für Kredite zuständig ist, strebt danach, Leiter der Bankfiliale zu werden. Der Bankfilialleiter strebt danach, Bankregionalleiter zu werden, und so weiter.

Hardt und Negri legitimieren kleinbürgerlichen Elitismus und Verachtung für die Arbeiterklasse durch die Vorstellung, es gäbe eine angeblich postindustrielle, informationsbasierte Wirtschaft, in der nicht mehr das Proletariat, sondern die kleinbürgerliche Intelligenz die entscheidende Rolle spiele. Sie behaupten, der Kapitalismus sei übergegangen von „der Herrschaft der Industrie zur beherrschenden Stellung von Dienstleistungen und Information, [dies] kann man als Prozess ökonomischer Postmodernisierung oder besser Informatisierung bezeichnen“ (Empire [Hervorhebung im Original]). Erst beschwören sie in Bezug auf den „männlichen Fabrikarbeiter der Massenproduktion“ das Bild eines ungebildeten Malochers samt Sechserpack Bier herauf, um dann zu behaupten: „Heute ist diese Arbeiterklasse aus dem Blick verschwunden“ (ebd.). In der Fortsetzung zu Empire lassen Hardt und Negri diese absurde Behauptung fallen zu Gunsten eines genauso falschen Arguments:

„Ganz im Gegenteil bleibt die landwirtschaftliche Arbeit wie seit Jahrhunderten quantitativ vorherrschend und auch die Industriearbeit hat zahlenmäßig nicht abgenommen. Immaterielle Arbeit ist global gesehen in der Minderheit und zudem in wenigen dominanten Regionen der Erde konzentriert. Unsere These lautet entsprechend, dass immaterielle Arbeit qualitativ hegemonial geworden ist...“ [Hervorhebung im Original]

Multitude

Hardts und Negris Vision der immateriellen Realität liest sich wie ein besonders hirnverbrannter Leitartikel aus dem Magazin Wired und klingt wie ein Silicon-Valley-Kapitalist, der darauf aus ist, eine neue Runde von Risikokapitalanlegern für die allerneueste „nächste große“ Website an Land zu ziehen. In ähnlicher Weise begeistert sich Charles Leadbeater, dieser Reklamefritze im Dienste von Blair, wortgewandt: „Unsere Kinder werden nicht in dunklen Fabriken schuften, in Zechen einfahren oder in Textilfabriken ersticken müssen, um auf Rohmaterialien einzuhauen und daraus Fertigwaren herzustellen. Sie werden ihren Lebensunterhalt durch ihre Kreativität, ihren Einfallsreichtum und ihre Vorstellungskraft verdienen“ (Living on Thin Air).

Und wiederum: nichts Neues. 1964 heißt es in einer Erklärung, die von einer Gruppe linksliberaler Lichtgestalten unterzeichnet worden war — unter ihnen James Boggs, Todd Gitlin, Michael Harrington, Tom Hayden, Gunnar Myrdal und Linus Pauling:

„Eine neue Ära der Produktion hat begonnen. Ihre Organisationsprinzipien unterscheiden sich von denen der industriellen Ära ebenso sehr, wie sich die der industriellen Ära von denen der landwirtschaftlichen unterschieden haben. Die kybernetische Revolution entstand durch die Kombination des Computers und der automatisierten, sich selbst regulierenden Maschine. Das Ergebnis ist ein System fast unbegrenzter Produktionskapazität, das immer weniger menschliche Arbeitskraft benötigt...

Die kybernetische Revolution bietet eine Existenz, die qualitativ reicher ist sowohl an demokratischen als auch an materiellen Werten.“

—„The Triple Revolution“ [Die dreifache Revolution], International Socialist Review, Sommer 1964

Abgesehen von seiner Klarheit könnte dieses Zitat ebenso gut aus Empire oder Multitude stammen.

Zentrale Rolle des Proletariats und revolutionäres Bewusstsein

Nur Intellektuelle, die keine Ahnung haben vom täglichen Arbeitsleben in der wirklichen Welt, können den Mythos einer neuen vernetzten Welt erfinden und verbreiten, in der jeder als selbständiger Produzent hinter einem Touchscreen sitzt. Doch irgendjemand produziert die Klamotten, die unsere postmodernen Denker tragen, die Autos, die sie fahren, die Computer, mit denen sie auf dem Informations-Superhighway entlang sausen, und den elektrischen Strom, mit dem diese Computer (und viele andere Dinge) betrieben werden. Computer können wohl das Inventar bei Transportoperationen kontrollieren, die Frachtcontainer müssen aber immer noch von Hafenarbeitern auf und von Schiffen verladen und von LKW-Fahrern und Eisenbahnarbeitern transportiert werden. Außerdem werden Kapitalisten, wenn es mehr Profit bringt, zum Beispiel bei Niedriglohnjobs in der Bekleidungsindustrie, bereitwillig von automatisierten, kapitalintensiven Methoden zu arbeitsintensiven Ausbeuterbetrieben zurückgehen, die nicht viel anders aussehen als vor einem Jahrhundert. Proletarische Arbeit ist weiterhin monoton, körperlich anstrengend und oft gefährlich. 2003 war zum Beispiel die Verletzungsrate in amerikanischen Autofabriken etwa 15-mal höher als in Büros von Finanzinstituten und Versicherungen.

Wie man am Untergang des ehemaligen industriellen Kernlands der USA, der so genannten „Rostschüssel“ [rust bowl], sehen kann, haben in der Wirtschaft der USA und weltweit gewiss wichtige Veränderungen stattgefunden. Das Kapital ist ständig auf der Suche nach der höchsten Profitrate und dementsprechend nach den niedrigsten Produktionskosten, sowohl innerhalb als auch außerhalb nationaler Grenzen (insoweit es keine größeren protektionistischen Barrieren gibt). Seit Ende der 70er-Jahre hat das US-Kapital zunehmend Produktionsstätten in den nicht gewerkschaftlich organisierten Süden der USA, dann nach Mexiko und jetzt sogar in Niedriglohnländer Asiens verlegt. Diese Verlagerung erfolgte durch Direktinvestitionen, Subunternehmen, Outsourcing und ähnliche Mechanismen — eine Entwicklung, die durch den internationalen Rückzug und anschließenden Zusammenbruch der Sowjetmacht erheblich beschleunigt wurde. Gleichzeitig öffneten die vom Beijinger stalinistischen Regime durchgeführten „Marktreformen“ in China das Tor zu umfangreichen Investitionen durch westliches, japanisches und chinesisches Offshore-Kapital, hauptsächlich in der Leichtindustrie. Bei einer geschätzten Zahl von mindestens 160 Millionen Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie sowie auch der Bauwirtschaft, Energieversorgung, Rohstoffindustrie, Telekommunikation und dem Transportwesen ist die Arbeiterklasse Chinas zu einem äußerst wichtigen Bestandteil des weltweiten Industrieproletariats geworden.

1970 waren 33 Prozent der außerhalb der Landwirtschaft eingesetzten Arbeitskräfte in den USA im produzierenden Sektor beschäftigt (verarbeitende Industrie, Bau und Bergbau) und weitere sechs Prozent im Transportwesen und in Versorgungsbetrieben (U.S. Department of Commerce, Statistical Abstract of the United States: 1971). Schon 2003 war der Anteil der im Güter produzierenden Sektor arbeitenden Werktätigen auf 20 Prozent gefallen, fünf Prozent waren im Transportwesen und in Versorgungsbetrieben beschäftigt (Statistical Abstract of the United States: 2004–2005). Gleichzeitig stieg der Anteil der Arbeitskräfte in den USA, die im Groß- und Einzelhandel, bei Banken, Wachschutz, Versicherungen, Maklerbüros usw. beschäftigt waren, auf etwa 22 Prozent.

Aber das ist weit davon entfernt, die „Hegemonie immaterieller Arbeit“ zu beweisen, nicht einmal in den „dominanten Regionen der Erde“. (Hardt und Negri könnten nicht krasser sein bei ihrer Anbiederung an die relativ privilegierte, universitär gebildete Kleinbourgeoisie der „Ersten Welt“; sie nehmen nicht mal Notiz vom Proletariat in China und Teilen der halbkolonialen Dritten Welt.) Die Vorstellung einer durch Informationstechnologie revolutionierten „neuen Wirtschaft“ ist heute ebenso ein Mythos wie in den 60er-Jahren. Der Einsatz von Brieftauben zur schnellen Übermittlung von Nachrichten in der Zeit vor Einführung des Telegrafen Anfang der 1880er-Jahre verschaffte der Familie Rothschild beim Aufbau eines europaweiten Bankenimperiums einen enormen Vorsprung vor ihren Konkurrenten. Aber dies war kaum der Vorbote einer ökonomischen Revolution. Noch bevor der Internet-Boom der 90er-Jahre platzte, bemerkte ein Wirtschaftswissenschaftler:

„Bei den meisten ursprünglichen Anwendungen von Großrechnern und Personalcomputern kam es inzwischen zu einem raschen Einbruch der Erträge. Das Internet wird zu einem großen Teil dafür genutzt, eine Art von Unterhaltung oder Informationssammlung durch eine andere zu ersetzen.“

—Robert J. Gordon, „Does the ,New Economy‘ Measure Up to the Great Inventions of the Past?“ [Kann sich die „New Economy“ mit den großen Erfindungen der Vergangenheit messen?], Journal of Economic Perspectives, Herbst 2000

Und der Dienstleistungssektor dominiert auch nicht über die Industrie. Die konventionelle Aufteilung der Wirtschaft in einen Güter produzierenden und einen Dienstleistungssektor verschleiert die Tatsache, dass ersterer Vorrang vor letzterem hat. Ohne Gebäude kann es keine Immobilienfirmen oder Gebäudeversicherungen geben. Ohne Autos kann es keine Autohändler und Autoversicherungen geben. Und Fast-Food-Restaurants sind eigentlich die Endphase der Nahrungsmittelindustrie: Arbeiter bei McDonald’s und ähnlichen Schnellimbissen verwandeln gefrorene Fleischklopse und gefrorene Pommes in (halbwegs) essbare Nahrung. Außerdem ist ein riesiger Teil des Dienstleistungssektors direkt in den Produktionsprozess integriert. Eine der seltenen quantitativen Untersuchungen darüber in den 80er-Jahren zeigte, dass schätzungsweise 25 Prozent des gesamten US-Bruttoinlandsprodukts aus „Dienstleistungen“ bestand (z. B. Buchhaltung, Anwälte, Werbung, Gebäudeversicherungen, Krankenversicherung der Beschäftigten), die von Produktionsfirmen gekauft und in den Marktpreis ihrer Produkte eingerechnet wurden (Stephen S. Cohen und John Zysman, Manufacturing Matters: The Myth of the Post-Industrial Economy [Produktion ist doch wichtig: der Mythos einer postindustriellen Ökonomie], Basic Books, New York, 1987).

Hardt und Negri verweisen auf „Produktionsteams“ à la Toyota in einigen Autofabriken und auf weit verzweigte weltweite Geschäfte, die auf „Just-in-time“-Lagerhaltung und -Produktionsstrategie basieren, und verbreiten grandiose Behauptungen über eine grundsätzliche Verschiebung in der Industrie weg vom „Fordismus“ und „Taylorismus“ — d. h. von der Fließbandproduktion in großen, konzentrierten Fabriken — hin zu „postfordistischen“ Methoden. Insoweit Hersteller ihre Produktionsstätten weltweit ausgeweitet haben, unterstreicht dies die Notwendigkeit internationaler Arbeitersolidarität — aber damit sind Arbeiterkämpfe bestimmt nicht passé. 1998 brachte eine Arbeitsniederlegung von mehreren Tausend Arbeitern gegen drohende Entlassungen in einem Stanzwerk von General Motors in Flint, Michigan, praktisch das gesamte GM-Imperium in den USA, Kanada und Mexiko schnell zum Stillstand. GM versuchte den Streik zu brechen und transportierte die Stanzformen aus Flint zu einer seiner kanadischen Produktionsstätten. Aber die kanadischen Autoarbeiter weigerten sich, sie anzurühren — ein machtvolles Beispiel für internationale Arbeitersolidarität. Der Streik dauerte fast zwei Monate und kostete GM 12 Milliarden Dollar an Verkaufserlösen und 3 Milliarden Dollar an Profiten. Für den damals größten Industriekonzern der Welt war dies die teuerste Arbeitsniederlegung seiner Geschichte.

Wie der GM-Streik recht dramatisch zeigte, entstammt die gegenwärtige Knierutscherei der Arbeiterbewegung nicht etwa strukturellen Veränderungen im Kapitalismus, sondern der prokapitalistischen Politik der bürokratischen Gewerkschafts-Irreführer. Als GM schon auf den Knien war, trieb die Bürokratie der United Auto Workers die Streikenden zur Arbeit zurück auf der Basis eines Kompromisses, der nichts regelte. Wir schrieben damals:

„Einfach dadurch, dass sie ihre Arbeitskraft verweigerten, demonstrierten die GM-Arbeiter die potenzielle Macht der Arbeiterklasse, die auf ihrer Stärke, Organisation und Disziplin beruht und — was ausschlaggebend ist — darauf, dass es die Arbeiter sind, die in der kapitalistischen Gesellschaft die Räder des Profits am Laufen halten. Aber der Flint-Streik zeigte auch, wie die Macht der Arbeiterbewegung geschwächt und unterminiert wird durch die Gewerkschaftsbürokratie, die predigt, dass Arbeiter und ihre kapitalistischen Ausbeuter identische Interessen haben...

Damit die organisierte Arbeiterbewegung in dem gegen sie geführten Krieg sich behaupten und die Oberhand gewinnen kann, braucht sie eine Führung, die versteht, dass die Interessen von Arbeit und Kapital entgegengesetzt sind, dass jede ernsthafte Mobilisierung von Gewerkschaftsmacht die Kapitalisten bedroht und die Arbeiterklasse direkt in eine Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat bringen wird, egal ob die Regierung von den Republikanern oder den Demokraten gestellt wird, und dass die Arbeiterklasse deshalb wachsam ihre — organisatorische und politische — Unabhängigkeit von der Bourgeoisie, deren Staat und deren politischen Parteien verteidigen muss.“

—„For a Class-Struggle Fight Against GM Job Slashing!“ [Für Klassenkampf gegen die GM-Arbeitsplatzvernichtung!], Workers Vanguard Nr. 696, 11. September 1998

Die bürokratischen Irreführer der Gewerkschaften und der Labour-, sozialdemokratischen und anderen reformistischen Parteien außerhalb der USA stellen eine kleinbürgerliche Schicht innerhalb der Arbeiterbewegung dar, die der amerikanische Marxist Daniel De Leon treffend als „Arbeiterleutnants des Kapitals“ charakterisierte. Sie behaupten, für die Arbeiterklasse zu sprechen, stehen aber tatsächlich loyal zum kapitalistischen System und werden für ihre Dienste gebührend bezahlt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts glaubten Marx und seine Anhänger, der Einfluss des Reformismus — ein Programm der Kollaboration mit der Bourgeoisie und des stückchenweisen Reformierens des Kapitalismus — sei in der Unreife der Arbeiterklasse begründet. Folglich sollten solche gefährlichen Illusionen im Zuge der ansteigenden Größe und Stärke des Proletariats überwunden werden. Doch beim Anbruch der imperialistischen Epoche wurde Lenin klar, dass sich die Situation grundlegend geändert hatte. Inzwischen existierte eine starke objektive Basi dafür, mit den Superprofiten, die aus der Ausbeutung der kolonialen Welt stammten, einen kleinen Teil der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern aufzukaufen. Kern des Leninismus ist das Verständnis, dass eine Partei, die wirklich die Interessen der Arbeiterklasse repräsentiert, den John Sweeneys, Tony Blairs und Gerhard Schröders politisch und organisatorisch entgegengestellt werden muss.

Damit die Arbeiterklasse von einer Klasse an sich — definiert einfach durch ihr objektives Verhältnis zu den Produktionsmitteln — zu einer Klasse für sich werden kann, die sich ihrer historischen Aufgabe, die kapitalistische Ordnung zu stürzen, völlig bewusst ist, braucht man eine revolutionäre Führung. Fehlt diese, wird das Bewusstsein der Arbeiter in unterschiedlichem Ausmaß bestimmt durch bürgerliche (und vorbürgerliche) Ideologie — Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Religion, Illusionen in parlamentarischen Reformismus usw. —, was dazu führt, dass die Arbeiter die kapitalistische Gesellschaft für unveränderlich und unvergänglich halten. Die Bourgeoisie hat nicht nur enormen Reichtum und die Kontrolle über die Informationsmedien in ihrer Hand, sondern auch einen riesigen Unterdrückungsapparat — Armee, Polizei usw. —, der auf höchster Ebene zentralisiert ist. Um sich gegen diese Macht zu behaupten und sie zu besiegen, braucht man eine Gegenmacht, die mindestens so organisiert und zentralisiert ist. Als die Bourgeoisie gegen Ende der Feudalepoche eine aufsteigende Klasse war, errang sie allmählich eine wachsende gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorherrschaft durch die Zunahme ihres Eigentums und Reichtums relativ zu dem des Landadels. Doch das Proletariat ist keine besitzende Klasse und ist daher nicht in der Lage, im Rahmen des Kapitalismus die Institutionen einer neuen Gesellschaft aufzubauen. In seinem Kampf um die Staatsmacht muss sich das Proletariat ausschließlich auf seine Organisation und sein Bewusstsein verlassen, dessen höchster Ausdruck der Aufbau einer demokratisch-zentralistischen Avantgardepartei ist, über deren Führung, Taktik und Strategie durch volle interne Demokratie entschieden wird, um dann auf der Basis eines eisernen Zentralismus umgesetzt zu werden.

Alter Reformismus im postmodernen Jargon

Hardt und Negri leugnen, dass das Proletariat unter leninistischer Führung die treibende Kraft einer revolutionären Veränderung ist, und präsentieren stattdessen die kleinbürgerliche Intelligenz als die neue Avantgarde: „Netzwerkkämpfe bedürfen nun, und darin sind sie der postfordistischen Produktion ähnlich, nicht in gleicher Weise der Disziplin: Kreativität, Kommunikation und selbstorganisierte Kooperation sind ihre Haupttugenden... ,Das Volk‘ gilt nicht länger als die Basis, die Eroberung der Macht in einem souveränen Staat ist nicht länger das Ziel. Die demokratischen Momente der Guerilla werden in der Netzwerkform verstärkt; die Organisation wird weniger Mittel und stattdessen selbst zu einem Zweck“ (Multitude).

Das erinnert an Eduard Bernsteins klassisch sozialdemokratischen Revisionismus. Bernstein war für die Herausgabe von Engels’ Schriften verantwortlich. In den zwei Jahren nach Engels’ Tod 1895 veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln mit unverblümt reformistischer Sichtweise und erklärte: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ,Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d.h. des sozialen Fortschritts, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts“ (Sozialdemokratische Lehrjahre — Entwicklungsgang eines Sozialisten, 1928).

Zwar verbreitete Bernstein die Illusion, der Sozialismus könnte durch einen allmählichen Reformprozess erreicht werden — die Illusion eines immer umfassenderen historischen Fortschritts, die durch das grauenhafte Blutbad des Ersten Weltkriegs in tausend Stücke gerissen wurde —, doch immerhin erwartete er die Umgestaltung der Gesellschaft durch die organisierte Arbeiterklasse. Hardt und Negri dagegen raten kleinbürgerlichen Jugendlichen, sie könnten die Welt verändern, ohne soziale Macht zu haben oder nach ihr zu verlangen.

Sie tönen von einer „neuen Militanz“ der nachsowjetischen Ära, die „nicht einfach die Organisationsformeln der alten revolutionären Arbeiterklasse wiederholt... Diese Militanz verwandelt Widerstand in Gegenmacht und Rebellion in ein Projekt der Liebe“ (Empire). Eine andere Ikone des Postmarxismus, John Holloway, argumentiert explizit: „Der Untergang der Sowjetunion bedeutete nicht nur eine Enttäuschung für Millionen; er führte auch zur Befreiung des revolutionären Gedankens, zur Befreiung von dem Gedanken, die Revolution mit der Eroberung der Macht gleichzusetzen“ (Change the World Without Taking Power [Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen], Pluto Press, London, 2002).

Hardt und Negri propagieren kleinbürgerliche Projekte wie „Desertion“, „Aussteigen“ und die Errichtung autonomer „Gebiete“ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Zu letzteren gehören die „Gegenkultur“-Kommunen der 70er-Jahre in den USA und — Negris besonderer Stolz und Freude — die häufig vom Staat finanzierten „autonomen“ sozialen Zentren in Italien, die nach den Kämpfen der 60er- und 70er-Jahre eingerichtet wurden. Basisorganisationen im Wohnviertel und andere Formen von „horizontalem“ Aktivismus; Fenster bei Starbucks einschmeißen oder Zäune vor Versammlungen der Weltbank niederreißen; Schlupfwinkel „befreiter Gebiete“ schaffen, die durch die stillschweigende Duldung des Staates existieren: Solche Aktivitäten mögen moralisch befriedigend sein und mögen sogar gelegentlich den kapitalistischen Herrschern Unannehmlichkeiten bereiten. Aber nichts davon bringt uns auch nur einen Millimeter dem Ziel näher, die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung zu Grabe zu tragen; dafür ist es notwendig, dass die Arbeiter die Macht ergreifen und ausüben.

Im Grunde predigen Hardt und Negri die eigentlich religiöse Vorstellung, dass politische Aktivisten die Welt durch moralisches Beispiel verändern könnten, indem sie im Spiegel bestehender „nicht-hierarchischer“ Organisationsformen zeigen, wie eine neue Welt des Friedens, der Liebe und der Demokratie aussehen werde. Ein populäres Vorbild dafür sind die mexikanischen Zapatistas, die ihre Basis in der Bauernschaft haben; sie werden von vielen jugendlichen linken Radikalen in Westeuropa und den USA verehrt. Holloways Buch ist den Zapatistas gewidmet. Ähnlich begeistern sich Hardt und Negri: „Das Ziel der Zapatisten war es niemals, den Staat zu besiegen und souveräne Macht zu beanspruchen; vielmehr geht es darum, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (Multitude).

Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) entstand Anfang der 90er-Jahre als eine Guerillabewegung mit einer Basis unter den verarmten indianischen Kleinbauern im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Als 1994 das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft trat, führte die EZLN einen kurzzeitigen Aufstand der verzweifelten Bauern an, die wussten, dass sie als Ergebnis dieser „Freihandels“-Vergewaltigung Mexikos durch die Imperialisten tiefer verelendet und von ihrem Land vertrieben werden würden. Aber obwohl Subcomandante Marcos mühelos den postmodernen Jargon und Internet-Kommuniqués beherrscht, sind die Zapatistas nichts Neues. Sie sind einfach eine gegenwärtige Verkörperung des traditionellen lateinamerikanischen populistischen Nationalismus, eine Bewegung unter Führung von klassenmäßig entwurzelten Intellektuellen mit einer gewissen Basis unter der Bauernschaft.

Selbst innerhalb der Grenzen von Chiapas haben die Zapatistas die Welt nicht groß verändert. Ungeachtet der kurzen Zeitspanne, als die EZLN einen bewaffneten Kampf führte, ist Chiapas weiterhin ein Polizeistaat mit 70 000 Regierungssoldaten, zu denen noch die privaten paramilitärischen Killer der Großgrundbesitzer hinzukommen. Die Wirtschaft in den von der EZLN kontrollierten Gebieten ist immer noch im Wesentlichen eine Landwirtschaft am Rande des Existenzminimums, die an die traditionellen ejidos (Gemeindeland) erinnert, allerdings ohne die mageren staatlichen Subventionen, die eine Zeitlang an die ejidos gezahlt wurden. Zwar gibt es in den „caracoles“, den befreiten Dschungelgebieten, „selbstverwaltete“ Schulen und sogar ein Internet-Café für die Bevölkerung, aber die medizinische Versorgung ist unzureichend, es werden nach wie vor oft relativ unwirksame Kräuter-Arzneien eingesetzt. Die soziale und politische Führung ist patriarchalisch, sie liegt zum Großteil in den Händen der Dorfältesten. Außerdem wird sich selbst diese verarmte Autonomie nicht auf lange Sicht halten können inmitten einer kapitalistischen Welt, wo im Interesse eines erweiterten Zugangs zu Rohstoffen, Märkten und Produktion die Jagd nach Profiten unvermeidlich zur Vernichtung früherer Gesellschaftsformen führt.

Uralte Märchen über kapitalistische „Demokratie”...

Multitude trägt den Untertitel „Krieg und Demokratie im Empire“. Zumindest Negri ist völlig vertraut mit der marxistischen Lehre, dass heutige parlamentarische Regierungen die tatsächliche politische Vorherrschaft der Bourgeoisie darstellen. Aber mit eklatanter Unehrlichkeit spricht das Buch die marxistische Position zu dieser entscheidenden Frage überhaupt nicht an, weder um sie zu widerlegen noch um sie zu stützen. Ständig wird „Demokratie“ in Multitude wahllos angepriesen als das A und O des politischen Aktivismus, aber fast nirgendwo wird darauf eingegangen, wie sich diese in konkreten Institutionen niederschlägt. Gegen Ende von Multitude lassen Hardt und Negri die Katze aus dem Sack, indem sie sich für den Vorschlag eines „globalen Parlaments“ begeistern:

„Stellen wir uns zum Beispiel vor, man würde die weltweite Wahlbevölkerung von etwa vier Milliarden Menschen (wenn man von den über sechs Milliarden Menschen, die auf dieser Erde leben, alle noch nicht Wahlberechtigten abzieht) in 400 Wahlkreise mit jeweils etwa 10 Millionen Wahlberechtigten einteilen. Die Nordamerikaner würden somit etwa 20 Vertreter wählen, ebenso die Europäer und die Indonesier, während die Chinesen und die Inder auf etwa 100 bzw. 80 Repräsentanten kämen.“

Man stelle sich also vor, die Wall Street und das Pentagon würden Reichtum und Macht mit Indien und Indonesien teilen, weil es eine demokratische Abstimmung gibt! Hardts und Negris fantastischer Vorschlag, den US-Kongress oder die britische „Mutter aller Parlamente“ auf internationaler Ebene nachzubilden, unterstreicht nicht nur ihre bürgerlich-demokratische Sichtweise, sondern auch den irrealen, hirnverbrannten Utopismus ihres gesamten Anti-Empire-Projekts.

Durch bürgerliche Wahlpolitik wird die Arbeiterklasse politisch in atomisierte Einzelpersonen aufgelöst. Die Bourgeoisie kann das Wahlvolk durch ihre Kontrolle über die Medien, das Bildungssystem und die anderen Institutionen der öffentlichen Meinungsbildung manipulieren. In allen kapitalistischen „Demokratien“ werden Regierungsvertreter, die gewählten und die nicht gewählten, von den Banken und Großkonzernen gekauft und bezahlt. Wie Lenin in seiner klassischen Polemik gegen den deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky erklärte:

„Auf Schritt und Tritt stoßen die geknechteten Massen auch im demokratischsten bürgerlichen Staat auf den schreienden Widerspruch zwischen der von der ,Demokratie‘ der Kapitalisten verkündeten formalen Gleichheit und den Tausenden tatsächlicher Begrenzungen und Manipulationen, durch die die Proletarier zu Lohnsklaven gemacht werden...

In der bürgerlichen Demokratie werden die Massen von den Kapitalisten mit tausenderlei Kniffen, die um so raffinierter und wirksamer sind, je entwickelter die ,reine‘ Demokratie ist, von der Teilnahme an der Regierung, von der Ausnutzung der Versammlungs- und Pressefreiheit usw. abgehalten... Die Teilnahme am bürgerlichen Parlament (das in der bürgerlichen Demokratie nie über die wichtigen Fragen entscheidet: diese Fragen werden von der Börse, von den Banken entschieden) ist den werktätigen Massen durch tausenderlei Hindernisse versperrt, und die Arbeiter wissen und empfinden, sehen und fühlen ausgezeichnet, daß das bürgerliche Parlament eine ihnen fremde Einrichtung ist“ [Hervorhebung im Original].

Die proletarische Revolution und der
Renegat Kautsky
(1918)

Ein Musterbeispiel in dieser Hinsicht ist der Ausgang des mutigen jahrzehntelangen Kampfes gegen das Apartheid-Regime Südafrikas mit seiner abscheulichen Rassentrennung und seinem nackten Polizeistaatsterror. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC) versicherte den kampfbereiten Massen, dass eine schwarze Mehrheitsherrschaft eine radikale Umverteilung des Einkommens und Reichtums der wohlhabenden weißen Elite auf die verelendeten nichtweißen Arbeiter mit sich bringen würde. Aber gerade das passierte nicht, als der ANC nach den Wahlen 1994 die weißen Rassisten an der Regierungsmacht ablöste. Stattdessen schaffte es eine kleine schwarze Elite, abzusahnen und in die von den Weißen dominierte herrschende Klasse aufzusteigen, während sich die ökonomischen Bedingungen für die schwarzen Arbeiter, die Armen in den Städten und die Landarbeiter tatsächlich in bedeutender Hinsicht verschlechterten.

Die Großkapitalisten und Großgrundbesitzer werden keine ernsthafte Bedrohung ihrer Profite oder ihres Eigentums dulden, solange die Macht ihnen nicht aus den Händen gerissen wird. Gegenteilige Illusionen werden durch die parlamentarische Demokratie geschürt, die besonders in den reicheren Industrieländern die Diktatur des Kapitals teilweise verhüllt. Und selbst dort werden hoch geschätzte „unveräußerliche“ Rechte — abgesehen von dem Recht auf Eigentum — außer Kraft gesetzt, wann immer sich die Bourgeoisie bedroht fühlt. Trotzki beschrieb das treffend in seiner polemischen Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen Kautsky:

„Die kapitalistische Bourgeoisie kalkuliert: ,Solange in meinen Händen der Grund und Boden, die Fabriken, Werke, Banken sind, solange ich die Zeitungen, Universitäten und Schulen beherrsche, solange — und dies ist die Hauptsache — in meinen Händen die Leitung der Armee liegt, solange wird der Apparat der Demokratie, wie ihr ihn auch umbauen mögt, meinem Willen untertan bleiben...‘

Darauf antwortet das revolutionäre Proletariat: ,Folglich müssen als erste Bedingung zur Rettung, den Händen der Bourgeoisie die Werkzeuge der Herrschaft entrissen werden. Aussichtslos ist der Gedanke, friedlich zur Macht zu gelangen, solange sich in den Händen der Bourgeoisie alle Werkzeuge der Herrschaft befinden. Doppelt aussichtslos ist der Gedanke, auf dem Wege zur Macht zu gelangen, den die Bourgeoisie selbst weist und den sie zu gleicher Zeit versperrt, — auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie.‘“

Terrorismus und Kommunismus

...und über „progressiven” Imperialismus

Eine Revolution, „ohne die Macht zu ergreifen“, ist keine Revolution, sondern bestenfalls eine oberflächliche Reform, die das bestehende System unter den alten Machthabern intakt lässt. Hinter dem modischen Gerede von „Horizontalismus“ und „Bündnissen“ als angeblichen Alternativen zum Kampf für eine leninistische Partei und für die proletarische Staatsmacht steckt in Wirklichkeit eine ganz alte, ausgeleierte und abgedroschene Vorstellung: dass Armut, Unterdrückung und Krieg dadurch beendet werden könnten, dass man Menschen guten Willens von allen Klassen zusammenbringt gegen eine kleine, gierige, neoliberale kriegshetzerische Elite.

In Empire behaupteten Hardt und Negri, dass das, „was vormals Konflikte und Konkurrenz unterschiedlicher imperialistischer Mächte waren, in wesentlicher Hinsicht ersetzt wurde: durch eine Art einzige Macht, die alle überdeterminiert, ihnen eine gemeinsame Richtung und ein gemeinsames Recht gibt, das entschieden postkolonial und postimperialistisch ist.“ Hier wiederholen sie plump die bei Antiglobalisierungs-Ideologen weit verbreitete Ansicht, wonach das System von Nationalstaaten ersetzt worden sei durch „transnationale“ Unternehmen und supranationale Institutionen wie IWF, WTO und Weltbank. In einer Spartacist-Broschüre von 1999 widerlegten wir solche Vorstellungen ausführlich und zeigten, dass sie viel gemein haben mit Kautskys Theorie des „Ultraimperialismus“, die als Rechtfertigung dafür diente, dass er zur Zeit des Ersten Weltkriegs die internationale proletarische Revolution für überflüssig erklärte. Ausgehend von den Polemiken gegen Kautsky in Lenins Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916) argumentierten wir, dass „transnationale“ Unternehmen und Banken weiterhin von der Militärmacht ihres jeweiligen Nationalstaats abhängig sind, um ihre ausländischen Investitionen zu schützen und auszuweiten:

„So genannte Eigentumsrechte — ob in Form von Darlehen, direkten Investitionen oder Handelsvereinbarungen — sind einfach nur ein Stück Papier, wenn nicht eine militärische Kraft hinter ihnen steht...

Die Spitzenmanager von Exxon wissen verdammt genau, dass ihnen die Ölfelder im Persischen Golf ohne US-Armee, Navy und Air Force nicht sehr lange gehören würden.“

Imperialism, the „Global Economy“ and Labor Reformism [Imperialismus, „globale Wirtschaft“ und Reformismus in der Arbeiterbewegung]

Hardt und Negri behaupteten: „In diesem glatten Raum des Empire gibt es keinen Ort der Macht — sie ist zugleich überall und nirgends“ (Empire [Hervorhebung im Original]). Das soll man heute mal der Bevölkerung von Bagdad erklären, dass sie angeblich in einer postkolonialen und postimperialistischen Ordnung lebe, wo es keinen Ort der Macht gibt! George W. Bush verschmähte die postmodernen Spitzfindigkeiten aus Empire, zog stattdessen die altmodische Machtpolitik „Amerika über alles“ vor und startete 2003 praktisch im Alleingang (abgesehen von Britannien unter Blair) die Invasion des Irak. An die Stelle der Antiglobalisierungs-Proteste traten nun viel größere Antikriegs-Demonstrationen, die von ihren reformistischen Organisatoren hauptsächlich gegen die Politik der Bush-Regierung ausgerichtet wurden. Hardt und Negri machten diesen Wandel ebenfalls durch und sagen jetzt in Multitude, anders als in Empire, es gäbe „eine unilaterale oder ,monarchische‘ Gestaltung der globalen Ordnung, die auf einem militärischen, politischen und ökonomischen Diktat der USA beruht“. Dementsprechend befürworten sie „Allianzen“ zwischen den „Multitudes“ und den in Europa herrschenden „Aristokratien“ gegen den amerikanischen imperialen „Monarchen“ (Multitude).

Die idiotische Behauptung von Hardt/Negri, wonach es keinen „Ort der Macht“ gibt, soll in Wirklichkeit besagen, dass es keinen Raum für die Revolution gibt. Die reale Welt besteht aus kapitalistischen Staaten, die nicht neutral, gütig oder unbedeutend sind und die man nicht umgehen, reformieren oder dazu bringen kann, den Interessen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu dienen. Der bürgerliche Staat ist ein Instrument der organisierten Gewalt, das die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch das Kapital durchsetzen soll. Er muss im Verlauf einer grundlegenden sozialistischen Revolution zerschlagen und durch die Klassenherrschaft der Arbeiter ersetzt werden.

„Multitude“ kontra „Empire“ ist nur die aktuellste Verkörperung der politisch bankrotten Vorstellung, „das Volk“ könne gegen „Monopole“ vereint werden (bzw. gegen den Krieg, den Faschismus und so weiter bis zum Gehtnichtmehr). Was Hardt und Negri vorschlagen, ist ein klassisches Beispiel für das, was Marxisten Klassenkollaboration nennen: die Unterordnung der Linken und Arbeiterbewegung unter einen „progressiven“ Flügel der bürgerlichen Herrscher, um Reformen des bestehenden Systems zu erreichen. Ein derartiges Vertrauen in Repräsentanten der feindlichen Klasse — lange von den Stalinisten als „Volksfront“ propagiert — hat den Arbeitern und Unterdrückten nur Verderben gebracht.

In der Praxis degeneriert der scheinheilige Anti-Macht-Idealismus von Hardt, Negri & Co. zur schmierigen Politik eines Kapitalismus des „kleineren Übels“. So unterstützten sowohl der amerikanische Lehnstuhl-Anarchist Noam Chomsky wie auch die kanadische Antiglobalisierungs-Publizistin Naomi Klein (die Multitude „inspirierend“ fand) bei den Wahlen in den USA 2004 den Demokraten John Kerry, als angeblich akzeptableren Vollstrecker der Demokratie des globalen Ausbeuterbetriebs, des „Kriegs gegen den Terror“ und des amerikanischen Imperiums. Negri seinerseits unterstützt die angeblich weniger böswilligen europäischen Imperialisten gegen die USA. Das scheint eines der wenigen Konzepte in seinen Büchern zu sein, das Negri tatsächlich umzusetzen versuchte. Anfang 2005 schloss er sich der Kampagne für eine Verfassung der Europäischen Union an — eine Staatengruppe, an deren Spitze ein Konsortium imperialistischer Mächte steht, die die Löhne und Sozialleistungen der Arbeiter in Europa nach unten treiben und die Tore der Festung Europa gegen nichtweiße Immigranten und Asylsuchende fest zu verriegeln sucht.

Dann gibt es das Weltsozialforum (WSF), das die stark besuchten Versammlungen gegen „Neoliberalismus“ organisiert hat, die während der letzten Jahre in Brasilien und anderen Ländern stattfanden. In einem Vorwort zu einer Sammlung von WSF-Dokumenten behaupten Hardt und Negri, das WSF schaffe „eine Gelegenheit, in jedem Land und international die Linke wiederherzustellen“, und könne sogar den „Beginn der Demokratie der Multitude“ verheißen (Another World Is Possible [Eine andere Welt ist möglich], hrsg. von Ponniah und Fisher, Zed Books, London, 2003). Das WSF wurde nach den Protesten in Seattle zur Entschärfung der Straßenkonfrontationen geschaffen, um damit den Antiglobalisierungs-Aktivisten ein angeblich außerparlamentarisches Milieu zu bieten. Das WSF und dessen regionale Ableger sind ein kristallklarer Ausdruck von Klassenkollaboration: Sie ketten Arbeiter und vorgebliche Linke an bürgerliche und kleinbürgerliche Organisationen auf der Grundlage eines bürgerlichen Programms und unter der direkten Schirmherrschaft kapitalistischer Institutionen, Politiker und Regierungen. Das WSF in Porto Alegre 2005 zum Beispiel erhielt 2,5 Millionen Dollar Finanzhilfe von Brasiliens Bundesregierung, die gegenwärtig für die IWF-Austerität wütende Angriffe gegen die Arbeiter und die Armen durchführt, und noch dazu über 2 Millionen Dollar von NGOs [Nicht-Regierungs-Organisationen] wie der Ford Foundation, seit langem Kofferträger für CIA-Gelder. (Für eine ausführliche Darstellung siehe „Sozialforen — ein Schwindel“, Spartakist Nr. 159, Sommer 2005.)

Das erste Europäische Sozialforum (ESF), das 2002 in Florenz stattfand, bekam starke Finanzspritzen von den örtlichen und regionalen Regierungen. Auch Negris Anhänger bei den italienischen „weißen Overalls“, bzw. Disobedienti, rührten dafür stark die Werbetrommel. Zu den Ankündigungen, die zur Vorbereitung dieser Veranstaltung herausgegeben wurden, gehörte auch ein schamloser Appell an die imperialistischen Herrscher Europas, sich dem damals drohenden Krieg gegen den Irak zu widersetzen: „Wir fordern alle Staats- und Regierungschefs Europas auf: Sprechen Sie sich öffentlich gegen diesen Krieg aus, unabhängig davon, ob die UNO ihn am Ende billigt oder nicht! Fordern Sie von George W. Bush, auf seine Kriegspläne zu verzichten!“ (Liberazione, 13. September 2002). Diese groteske Erklärung des pazifistischen Chauvinismus, die die Schlächter von Auschwitz und Algerien als gutmütiger und progressiver darstellt als ihre amerikanischen Rivalen, kann nur dazu führen, die Kontrolle der europäischen Kapitalisten über „ihre“ arbeitenden Massen zu verstärken. Natürlich ist das voll auf einer Linie mit Hardts und Negris Aufruf, sich mit den europäischen „Aristokratien“ gegen den amerikanischen „Monarchen“ zu verbünden.

Pseudomarxistische Gruppen wie das Vereinigte Sekretariat (VS), die britische Socialist Workers Party (SWP) und Workers Power (WP) haben teilweise recht ausführliche Kritiken von Empire und Multitude veröffentlicht und darin verschiedene Ungereimtheiten und Idiotien von Hardt und Negri auseinander genommen, besonders auf akademischem Niveau. Aber in der realen Welt haben diese Gruppen mit den postmarxistischen Scharlatanen einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Sie verwischen die Klassenlinie, um „die Bewegung aufzubauen“, und verbreiten auch den Mythos, es könne einen „progressiven“, „sozialen“ Kapitalismus geben. SWP, WP und die französische Flaggschiff-Sektion des VS sind allesamt führend beteiligt am Aufbau der volksfrontlerischen Sozialforen. Sie alle unterzeichneten den Appell an die imperialistischen Herrscher Europas, der zur Zeit des ESF in Florenz herausgegeben wurde.

Ungeachtet ihrer jeweiligen formal-analytischen Position zur früheren Sowjetunion haben sich alle diese Gruppen mit den Kräften der kapitalistischen Reaktion verbündet gegen die Errungenschaften der Arbeiterrevolution von 1917, und heute begrüßen sie es alle einstimmig, dass die UdSSR tot und begraben ist. Was China anbelangt, so behaupten sie fälschlich, dass es schon kapitalistisch sei, damit sie der Verteidigung des bürokratisch deformierten Arbeiterstaats gegen Imperialismus und Konterrevolution aus dem Weg gehen können. Wie Hardt und Negri lehnen diese Gruppen in der Praxis die grundlegende Lehre der Oktoberrevolution ab: die Notwendigkeit, dem Proletariat seine revolutionären Aufgaben bewusst zu machen, eine Avantgardepartei zu schmieden und den kapitalistischen Staat zu stürzen, um den Weg zum Sozialismus zu eröffnen.

Alex Callinicos von der SWP, ein prominenter Redner auf allen Sozialforums-Bühnen, hat eine langatmige Broschüre geschrieben, An Anti-Capitalist Manifesto (Polity Press, Cambridge, England, 2003), in der es ihm tatsächlich gelingt, jegliche Diskussion über Sowjets, Arbeiterrevolution, die revolutionäre Partei oder die positive Bedeutung der Russischen Revolution zu vermeiden. Die viel kleinere Gruppe Workers Power und ihre Liga für die 5. Internationale (L5I) greifen in einer L5I-Broschüre mit dem Titel Anti-Capitalism: Summit Sieges & Social Forums [Antikapitalismus: Gipfeltreffen-Belagerungen & Sozialforen] (2005) mit radikaler klingender Rhetorik das „reformistische Minimalprogramm“ von Empire an und treten für eine „demokratischere“ und „revolutionärere“ Organisierung der von den Sozialforen repräsentierten „antikapitalistischen Bewegung“ ein. Aber damit rufen sie bloß dazu auf, zu Straßendemonstrationen wie in Seattle zurückzukehren:

„Fünf Jahre lang hat unsere Bewegung die Gipfeltreffen der Reichen und Mächtigen belagert...

Sie muss auf die Straße zurückkehren und durch direkte Massenaktionen ihre Absicht zeigen; eine Welt ohne Klassen, Unterdrückung, Rassismus, Krieg und Imperialismus aufzubauen.“

„Direkte Aktion“, die auf der in den Sozialforen verkörperten Volksfrontpolitik basiert, ist einfach nur Klassenkollaboration mit einer militanten Fassade. Doch genau auf der Basis einer solchen klassenübergreifenden Einheit schlägt die L5I vor, nicht nur eine „Bewegung“, sondern auch eine „revolutionäre“ Partei aufzubauen: „Die antikapitalistische Bewegung, die Arbeiterbewegung, die Bewegungen der rassisch und national Unterdrückten, Jugendliche, Frauen, alle müssen zusammengebracht werden, um eine neue Internationale zu schaffen — eine Weltpartei der sozialistischen Revolution“ (ebd.).

Trotzki verurteilte die Volksfront als das größte Verbrechen gegen das Proletariat. Heutzutage vorzuschlagen, dass eine revolutionäre und proletarische Partei im Bündnis mit anderen Klassen aufgebaut werden soll, ist eine Parodie hoch zwei. Insofern die heutigen Pseudomarxisten gegen Hardt und Negri und die Anarchisten argumentieren, es sei nötig, den „neoliberalen“ Kapitalisten „die Macht zu entreißen“, sehen sie als das Vorbild in Wirklichkeit nicht Lenins Bolschewiki, sondern prokapitalistische Sozialdemokraten und sogar offen bürgerliche Kräfte. Das Vereinigte Sekretariat zum Beispiel unterstützte den „antifaschistischen“ französischen Präsidenten Jacques Chirac bei seiner Wiederwahl 2002, und ein VS-„Genosse“ sitzt als Minister in Brasiliens kapitalistischer Regierung.

Ein besonderer Held dieser Vereine ist der populistische starke Mann Venezuelas, Hugo Chávez, dessen Rede beim WSF 2005, wo er einen vagen „Sozialismus“ befürwortete, von Tausenden bejubelt wurde. Dank eines Profit-Regens aufgrund hoher Ölpreise hat Chávez einige soziale Reformen durchgeführt und posiert als „Antiimperialist“ im Hinterhof der USA. Aber Chávez ist ein bürgerlicher Nationalist, der in Venezuela für den Kapitalismus regiert. Auch wenn die Neocons der Bush-Regierung 2002 einen Militärputsch gegen ihn unterstützten, erkennen rationalere Repräsentanten des Imperialismus, dass man ihm den Schutz ihrer Investitionen anvertrauen kann, während er durch populistische Demagogie die unzufriedenen Massen für sich einnimmt. Doch in einer ausführlichen Polemik ihres theoretischen Journals gegen Empire preist die britische VS-Sektion Chávez als ein Beispiel dafür, „die Schlacht um die Macht zu gewinnen“, und behauptet: „Chávez und seine Unterstützer haben politische Organisierungsarbeit unter den Massen betrieben und ihnen geholfen, ihre Eigenaktivitäten zu verstärken“ (Socialist Outlook, Winter 2003).

Noch plumper, gibt die L5I einem Kapitel ihrer schmeichlerischen Antikapitalismus-Broschüre den Titel „Hugo Chávez: ein neuer Führer für die antikapitalistische Bewegung?“. Zwar tadelt sie Chávez für seinen „Widerwillen“, Elemente des venezolanischen Staates zu zerschlagen, die „den Fortschritt behindern“, aber sie stellt ihn im Vergleich zu den Zapatistas positiv dar: „Chávez zeigt zumindest, dass wirkliche Reformen nicht durch Bitten erreicht werden können, was den mexikanischen Bauern herzlich wenige Ergebnisse gebracht hat, sondern vielmehr durch das Bestreben, die Macht zu ergreifen.“ Was für eine falsche „Wahl“ die L5I da anbietet: Arbeiter und radikale Jugendliche sollen entweder den Holzweg gehen und die „Welt verändern“, ohne die Macht zu erobern, oder gar „die Macht ergreifen“ mittels bürgerlicher Politiker, die den kapitalistischen Staat verwalten! Das ist der Inbegriff von sozialdemokratischem Reformismus — die Vorstellung, dass der bürgerliche Staat nicht auf dem Amboss der proletarischen Revolution zerschlagen werden muss, sondern so reformiert werden kann, dass er als Instrument der gesellschaftlichen Umwälzung dienen kann. In scharfem Gegensatz zu den Pseudomarxisten, die Hardt, Negri et al. nachäffen und die globale Klassenkollaboration propagieren, kämpft die Internationale Kommunistische Liga dafür, eine revolutionäre internationale Partei zu schmieden, deren Grundlage die Klassenopposition gegen die bürgerlichen Herrscher eines jeden Landes ist.

Vorwärts zu einer kommunistischen Zukunft!

Hardt und Negri werfen mit dem Wort „Freiheit“ fast so viel um sich wie George Bush. Freiheit ist kein übersinnlicher absoluter Wert, zu dem Menschen ganz natürlich hingezogen werden; es geht immer um Freiheit von irgendeinem bestimmten Zwang oder um die Freiheit, etwas Bestimmtes tun zu können. Die Handlungen der Menschen haben ihre Grenzen in materieller Notwendigkeit und den Naturgesetzen. Durch wissenschaftliche Untersuchungen, technologische Innovationen und gesellschaftliche Umwälzungen erlangen Menschen zunehmend größeres Wissen und größere Kontrolle über die Bedingungen ihrer Existenz. Aber was ist „Freiheit“ im Abstrakten? Wie Marx und Engels schrieben: „Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf. Fällt aber der Schacher, so fällt auch der freie Schacher“ (Manifest der Kommunistischen Partei).

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Freiheit als Synonym für liberale Demokratie benutzt. Passend dazu hat ein Abschnitt von Multitude die Überschrift: „Zurück ins 18. Jahrhundert!“ Insbesondere huldigen Hardt und Negri der politischen Weisheit von James Madison, dem Hauptautor der amerikanischen Verfassung:

„Die Zerstörung der Souveränität muss einhergehen mit der Bildung neuer demokratischer institutioneller Strukturen, die auf den bestehenden Voraussetzungen basieren. Die Schriften von James Madison in den Federalist Papers liefern die Methode eines solchen konstitutionellen Projekts, der es — bestimmt vom Pessimismus des Willens — darum geht, ein System von checks and balances, Rechten und Garantien zu schaffen.“

Multitude

James Madison war, ebenso wie sein politischer Mentor Thomas Jefferson, Eigentümer einer Plantage in Virginia, auf der schwarze Sklaven als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, die persönliches Eigentum des Plantagenbesitzers waren (eine biografische Tatsache, die Hardt und Negri offensichtlich für zu unbedeutend und daher nicht erwähnenswert hielten). Jefferson und Madison bestanden darauf, dass selbst freie weiße männliche Staatsbürger der neuen amerikanischen Republik sich erst durch Eigentum für das Wahlrecht qualifizieren konnten (eine weitere Tatsache, die Hardt und Negri ignorieren). Die Vision des bürgerlichen Denkens im 18. Jahrhundert war selbst dort, wo es seinen radikalsten und egalitärsten Ausdruck fand (Rousseau), eine auf ökonomisch unabhängigen Kleineigentümern — Bauern, Handwerkern, Ladenbesitzern — basierende Gesellschaft.

Der klassische Liberalismus war der ideologische Ausdruck der aufsteigenden Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die Fesseln der spätfeudalen Ordnung. Trotzki fasste die Sichtweise dieser Doktrin zusammen, die für sich die Autorität von „Naturrecht“ in Anspruch nahm: „Das Individuum ist das Ziel an sich, alle Menschen haben das Recht, ihre Gedanken in Wort und Schrift zu äußern, ein jeder Mensch muss sich eines gleichen Wahlrechts erfreuen. Als Kampfbanner im Kampf gegen den Feudalismus waren die Forderungen der Demokratie von fortschrittlicher Bedeutung“ (Terrorismus und Kommunismus). Mit der anschließenden Entwicklung des Industriekapitalismus und daher auch des Proletariats wurde jedoch der liberale Individualismus und sein politischer Artverwandter, die „reine“ Demokratie, zu einer durchschlagenden ideologischen Waffe zur Unterdrückung der Klassengegensätze in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Doktrin, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und das gleiche Recht haben, das Schicksal der Nation zu bestimmen, maskierte die tatsächliche Diktatur des Kapitals über die ausgebeutete und besitzlose Klasse, die jetzt den Reichtum der Gesellschaft produzierte.

Hardts und Negris Aufruf, zum politischen Denken des 18. Jahrhunderts zurückzukehren, d. h. zu liberalem Individualismus und „reiner“ Demokratie, führt in der Praxis zu einer Kapitulation vor der Brutalität des imperialistischen Kapitalismus, dem natürlichen Nachfahren der bürgerlichen Republik des 18. Jahrhunderts. Dieser Aufruf ergibt sich logisch daraus, dass sie die revolutionäre Kapazität des internationalen Proletariats ablehnen: der einzigen fortschrittlichen Klasse in der heutigen Welt.

Nur das Proletariat hat sowohl die soziale Macht als auch das soziale Bedürfnis, die Gesellschaft zu reorganisieren, ökonomischen Mangel ebenso zu beseitigen wie die Deformationen des menschlichen Charakters, die bedingt sind durch materielle Not und den sich daraus ergebenden Konkurrenzkampf. Freiheit für die Unterdrückten aller Länder ist keine subjektive Absichtserklärung, sondern setzt notwendigerweise voraus, dass die materiellen Ketten der Armut, Ausbeutung und Unterdrückung gesprengt werden. Eine Revolution wird nicht einfach dadurch stattfinden, dass Arbeiter und andere Werktätige immer mehr die Kontrolle über die einzelnen Aspekte des Produktionsprozesses übernehmen. Das Proletariat muss stattdessen zu der Erkenntnis kommen, dass die zerstörerische Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise die gesamte Menschheit in die Barbarei oder die atomare Vernichtung mitreißen wird, wenn der Kapitalismus nicht zuvor gestürzt wird. Dem Proletariat muss klar werden, dass die gesellschaftliche Kontrolle der Produktion das Zerschlagen des kapitalistischen Staatsapparats mit seinen Bullen, Gerichten, Armeen und Gefängnissen und die Errichtung eines Arbeiterstaats an seiner Stelle voraussetzt. Kurz gesagt erfordert dies eine proletarische Revolution.

Erst diese kann die Grundlage schaffen für eine geplante, vergesellschaftete Wirtschaft im Weltmaßstab, die wesentliche Voraussetzung für die Befreiung der Menschen von Armut und Ungleichheit. Wie Engels in seiner machtvollen Bekräftigung der Grundlagen des marxistischen Materialismus schrieb:

„Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eignen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.

Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen und damit ihre Natur selbst zu ergründen, und so der zur Aktion berufenen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.“

Anti-Dühring

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 25

DSp Nr. 25

Frühjahr 2006

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Russische Archive: Anarchistische Lügen abermals widerlegt

Kronstadt 1921: Bolschewismus gegen Konterrevolution

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Empire, Multitude und „Tod des Kommunismus“

Senile Ergüsse des Postmarxismus

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Russische Revolution und Emanzipation der Frauen

(Frauen und Revolution)

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Briefwechsel mit Revolutionary History

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Für eine leninistische Partei in Griechenland!

Für eine Sozialistische Föderation des Balkans!

Gründung der Trotzkistischen Gruppe Griechenlands

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Elizabeth King Robertson, 1951–2005