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Spartakist Nummer 213

Sommer 2016

Für Arbeitereinheit über europäische Grenzen hinweg!

Britische Trotzkisten erklären: Raus aus der EU!

Der nachfolgende Artikel erschien zuerst in Workers Hammer Nr. 234 (Frühjahr 2016), Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/Britain.

Als Organisation, die auf den revolutionären, proletarischen und internationalistischen Prinzipien des Marxismus aufbaut, begrüßt die Spartacist League/Britain die Gelegenheit, bei dem bevorstehenden Volksentscheid über eine weitere britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) zu einem schallenden Votum für „Austritt“ aufzurufen. Vor mehr als 40 Jahren erklärten wir in einem Artikel über den EU-Vorläufer, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG): „Einheit unter dem Kapitalismus ist nicht nur ein Mythos, der beim ersten ernsthaften Wirtschaftsabschwung zerbrechen wird, sondern richtet sich auch zwangsläufig gegen die Arbeiterklasse, da jede nationale Kapitalistenklasse versucht, durch ,Rationalisierungs‘-Politik ,wettbewerbsfähig‘ zu werden“ („Labor and the Common Market“ [Arbeiterschaft und die EWG], Workers Vanguard Nr. 15, Januar 1973).

Wer kann leugnen, dass genau dies in den Jahrzehnten seither geschah, vor allem während des globalen Finanzcrashs 2007/08? Drastisch sinkender Lebensstandard von arbeitenden Menschen, massive und steigende Arbeitslosenzahlen, tiefe Einschnitte bei den meisten grundlegenden Sozialleistungen für ältere Menschen, Erwerbsunfähige und die Armen sowie gleichzeitig Mästung der Bonzen der City of London – das ist das Gesicht dieser profitgierigen imperialistischen Union. Unter der EU wurde die monetaristische, gewerkschaftsfeindliche Politik – heute als „Neoliberalismus“ bezeichnet –, die in den 1980er-Jahren von Reagan in den USA und Thatcher in Britannien eingeführt wurde, auf die imperialistischen Länder des Kontinents übertragen. Das „Wirtschaftswunder“, das Deutschland erneut zur dominanten imperialistischen Macht in Europa machte, kam auf dem Rücken des deutschen Proletariats zustande, nicht zuletzt durch die massiven Lohn- und Sozialleistungskürzungen der Hartz-IV-„Reformen“, die vor mehr als einem Jahrzehnt durch den sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt wurden.

Die verheerenden Auswirkungen der von der EU aufgezwungenen Austerität auf schwächere kapitalistische Wirtschaften, verächtlich als „PIGS“ bezeichnet – Portugal, Irland, Griechenland und Spanien –, sind nur allzu gut bekannt. Das Bestreben, nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte 2007/08 die Kassen der Frankfurter, Pariser und Londoner Banken wieder zu füllen, führte zu Niedergang und Verarmung der griechischen Massen und zur anhaltenden Zerstörung des Grundgefüges der griechischen Gesellschaft. Soviel zu der grausamen Lüge, eine vom Imperialismus dominierte Einheit und eine gemeinsame Währung, der Euro, würden ein Zeitalter des Wohlstands einleiten! Unsere Genossen der Trotzkistischen Gruppe Griechenlands erklärten am 17. Juli 2015 in ihrem Aufruf zum dringenden Aufbau von Arbeiteraktionskomitees: „Die EU und ihre Währung, der Euro, sind eine tragische Falle, unter der die große Masse der griechischen Bevölkerung leidet. Die EU und der Euro müssen zurückgewiesen werden… Brecht mit den Kapitalisten und ihren Banken!“ (übersetzt in Spartakist Nr. 209, August 2015).

Zusammen mit dem Mythos vom EU-Wohlstand landete auch der Mythos von „offenen Grenzen“ auf dem Kehrichthaufen zerstobener Illusionen. Das Schengen-Abkommen wurde mit dem Versprechen passfreien Reisens innerhalb Europas angepriesen. In Wirklichkeit war es der Grundstein für die rassistische Festung Europa. Jede Woche werden dafür neue Beweise geliefert. Als Flüchtlinge vor imperialistischer wirtschaftlicher Verwüstung und Terrorbombardierungen im Nahen Osten, Afghanistan, Afrika und anderswo in großer Zahl an den nördlichen Küsten des Mittelmeeres ankamen, wurden in ganz Europa Grenzzäune und Kontrollpunkte errichtet.

Tories in Aufruhr

Das bestimmende Prinzip der EU war schon immer die Freizügigkeit des Kapitalflusses, nicht das Freizügigkeitsrecht von Menschen. Dennoch hat immigrantenfeindlicher Chauvinismus, insbesondere gegen Arbeiter, die aus den osteuropäischen Ländern nach Britannien kommen, die Debatte über einen Brexit [britischer Ausstieg aus der EU] bestimmt. Um die wachsende Unterstützung innerhalb seiner Konservativen Partei und ihrer Wählerbasis für die übel chauvinistische und immigrantenfeindliche UK Independence Party (UKIP – Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) von Nigel Farage einzudämmen, hat Tory-Premierminister David Cameron den Volksentscheid vom 23. Juni anberaumt – zum großen Verdruss seiner amerikanischen Seniorpartner und eines beträchtlichen Teils des britischen herrschenden Establishments. Im Endeffekt ist die Konservative Partei jetzt tiefer gespalten denn je, wie der Kabinettsrücktritt des offenen Brexit-Befürworters Iain Duncan Smith zeigte. Duncan Smiths Behauptung, er sei aus Protest gegen Kürzungen der Invalidenrente zurückgetreten, klingt hohl aus dem Munde eines Mannes, der die „Schlafzimmer-Steuer“ [auf angeblich leerstehende Schlafzimmer in Sozialwohnungen] einführte und der für brutale „Sozialleistungsreformen“ verantwortlich ist.

Sowohl das Pro- als auch das Anti-EU-Lager in der Tory-Partei peitschen immigrantenfeindlichen Chauvinismus hoch. Die UKIP und Camerons Kontrahenten bei den Konservativen wollen strengere Grenzkontrollen ohne die Einmischung der EU, während Cameron das Gespenst von „Migrantendschungeln“ in Südostengland heraufbeschwört für den Fall, dass Britannien die EU verlässt. Derweil verkündet der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, Frankreich werde für Finanziers aus London, die sich für einen Umzug nach Paris entscheiden, „einen roten Teppich ausrollen“. Dies sagt eine Menge darüber aus, wie die hochtrabende „Freizügigkeit“ der EU gemeint ist: Parasitären Finanziers wird ein Zufluchtsort geboten, verzweifelten Immigranten aber die Hölle. Die organisierte Arbeiterklasse muss für die Verteidigung der Immigranten gegen rassistische Reaktion mobil machen und fordern: Volle Staatsbürgerrechte für alle, die es nach Britannien schaffen! Keine Abschiebungen!

Jahrelang war Jeremy Corbyn [Vorsitzender der Labour Party seit September 2015] Gegner der althergebrachten Unterstützung von Labour für die EU. Jetzt aber hakt sich Corbyn bei Cameron unter und ruft zu einem „Bleiben“-Votum auf. Corbyn hebt seine Vision eines „sozialen Europas“ hervor und lehnt die Sozialleistungsbeschränkungen für Immigranten ab, die Cameron im Februar aushandelte. Vor allem aus letzterem Grund wird gegen Corbyn gehetzt von Seiten der Schurkengalerie der Blair-Anhänger [des rechten Labour-Flügels] – Neil Kinnock, Margaret Beckett, Hilary Benn, David Blunkett, Jack Straw – in der parteiübergreifenden Kampagne „Britain Stronger in Europe“ [Britannien ist stärker in Europa]. Doch die Quintessenz ist, wie der EU-freundliche Guardian (16. Februar) feststellte, dass Labour unter Corbyn womöglich entscheidend ist, um ein „Bleiben“-Votum zu erreichen. Der Leitartikel des Guardian merkt an: „Corbyn ist instinktmäßig euroskeptischer als seine Partei“, und kommentiert, es sei Corbyns „Verdienst und nützt Labour“, dass er sich dafür entschied, die Pro-EU-Linie zu unterstützen. Das ist so ziemlich das Einzige, wofür Corbyn seit seiner Wahlkampagne zum Vorsitzenden vom Guardian gelobt wurde.

Die irischen kapitalistischen Herrscher haben der Arbeiterklasse die von der EU diktierte erdrückende Austerität aufgezwungen. In Schottland steht die bürgerlich-nationalistische SNP für die Aufrechterhaltung von Schottlands Mitgliedschaft in EU und NATO. Diese Nachwuchsimperialisten im Wartestand sind auch der britischen Monarchie verpflichtet, dem Eckpfeiler des reaktionären „Vereinigten Königreichs“, das Nordirland beansprucht und auf englischer Oberherrschaft über Schottland und Wales basiert. Als Marxisten fordern wir das Recht auf Selbstbestimmung für Schottland und Wales und kämpfen für eine freiwillige Föderation von Arbeiterrepubliken auf den Britischen Inseln.

Die American Connection

Die britische Wirtschaft ist über den Volksentscheid gespalten, und ihr ungewisser Ausgang verursachte einen Kurseinbruch des britischen Pfunds. Viele Produzenten, deren Exporte auf Kontinentaleuropa ausgerichtet sind, würden Britannien lieber in der EU sehen. Doch was für die britische Wirtschaft wirklich zählt, ist nicht die Fertigung, sondern das Finanzkapital. Aber auch in der City of London sind die Meinungen geteilt. Hedgefonds neigen zum Brexit, um EU-Bestimmungen wie etwa der Kappung von Boni der Bankiers zu entgehen. Im Gegensatz dazu bevorzugen die großen Investmentbanken einen Verbleib in der EU. Die Investmentbanken sind die dicken Fische der City und sie sind vorwiegend amerikanisch oder auch deutsch oder schweizerisch. Zwar rühmt sich Britannien einiger eigener großer Investmentbanken, dennoch funktioniert die City nach dem sogenannten „Wimbledon-Modell“ – London richtet eine Weltmeisterschaft aus, man geht aber nicht davon aus, dass es einen Favoriten stellt.

Das Übergewicht des Finanzparasitentums in Britannien war schon Ende des 19. Jahrhunderts offensichtlich. 1916 stellte der bolschewistische Führer W. I. Lenin „das außergewöhnliche Anwachsen der Klasse oder, richtiger, der Schicht der Rentner, d. h. Personen, die vom ,Kuponschneiden‘ leben“ in Britannien fest, deren Einnahmen „im ,handelstüchtigsten‘ Lande der Welt fünfmal so groß wie die Einnahmen aus dem Außenhandel“ waren (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus). Die Tendenz, die Lenin beschrieb, trat nach dem Zweiten Weltkrieg noch deutlicher hervor. Und in den 1980er-Jahren – nicht zufällig nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1984/85 – leitete Margaret Thatcher die Deregulierung des Finanzsektors, was zu einer enormen Zunahme des Reichtums der City-Bankiers führte.

Insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste sich der britische Imperialismus mit der Rolle eines Juniorpartners der USA zufrieden geben – wie auf dramatische Weise durch die Suezkrise von 1956 veranschaulicht wurde. Wirtschaftlich gesehen betrifft das die Rolle der City of London im Verhältnis zur Wall Street. Auf militärischer Ebene bedeutet die „Sonderbeziehung“, dass Britanniens Streitkräfte so gut wie jede US-Militäroperation mitmachen, darunter die Verwüstung Afghanistans, des Iraks und anderer Teile des Nahen Ostens. Und innerhalb der EU fungiert Britannien in mancher Hinsicht als Fürsprecher der Interessen der USA.

So kann Washington seinen Ärger über die Cameron-Regierung, die einen britischen EU-Austritt riskiert, kaum verhehlen. In einer Diskussion des US-Senats im Februar warnte Damon Wilson, ehemaliger Direktor des Nationalen Sicherheitsrats für europäische Angelegenheiten unter dem Republikaner George W. Bush, dass ein britischer Austritt die USA „einer entscheidenden Stimme bei der Gestaltung nicht nur der EU-Politik, sondern auch der Zukunft Europas“ berauben würde. Barack Obama plant im April Britannien für ein „großes öffentliches Händereichen“ zu besuchen, um die Wählerstimmen zugunsten eines Verbleibs in der EU anzukurbeln.

NATO, EU und Kalter Krieg

Der Vorläufer der EU, die EWG, entstand als wirtschaftliches Anhängsel der NATO, der von den USA dominierten gegen die Sowjetunion gerichteten Militärallianz. Deren Zielsetzung war in den Worten des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay, „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“. Heute behauptet die bürgerliche Mythologie, die EU, ein Produkt des imperialistischen Kalten Krieges, habe eine Wiederholung des Zweiten Weltkriegs verhindert. Inmitten einer Eurokrise erklärte Angela Merkel: „Niemand sollte glauben, dass ein weiteres halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand in Europa selbstverständlich ist. Es ist es nicht.“ (Regierungserklärung vom 26. Oktober 2011)

Es war die Sowjetunion, die dem Krieg in Europa ein Ende setzte und den Kontinent vom Dritten Reich der Nazis befreite, auf Kosten von 27 Millionen Toten auf sowjetischer Seite. Außerdem entriss der Sieg der Roten Armee einen Großteil Mittel- und Osteuropas der kapitalistischen Ausbeutung. Vor diesem Hintergrund gewährten die kapitalistischen Herrscher in Westeuropa ein System von Sozialleistungen, das als „Sozialstaat“ bekannt wurde.

Die Sowjetunion, Ergebnis der Oktoberrevolution von 1917, blieb trotz der Degenerierung unter der Herrschaft einer Bürokratenkaste unter J.W. Stalin ein Arbeiterstaat – basierend auf der Enteignung der Kapitalisten und der Kollektivierung der Produktionsmittel. Wir kämpften bis zum bitteren Ende für die bedingungslose militärische Verteidigung der Sowjetunion und der ihr nachgebildeten bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten Mittel- und Osteuropas. Das war verbunden mit der Perspektive einer proletarisch-politischen Revolution, um die stalinistische Bürokratie zu stürzen und die UdSSR auf den internationalistischen Weg von Lenins und Trotzkis Bolschewiki zurückzuführen. Wir Trotzkisten kämpften als einzige für die Erhaltung und Ausweitung der revolutionären Errungenschaften der Arbeiterklasse, jede andere Tendenz auf der Welt kapitulierte vor dem ideologischen Druck des Antikommunismus.

Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion 1991/92 führte zur Verelendung der arbeitenden Massen überall in den ehemaligen Sowjetrepubliken und entfesselte eine ganze Reihe von gegenseitigen Massakern. Da die Sowjetunion als Gegengewicht zum US-Imperialismus nicht mehr existierte, fühlte sich dieser dazu ermutigt, die Geknechteten und Unterdrückten auf der ganzen Welt, vom Balkan bis zum Nahen Osten, rücksichtslos mit Füßen zu treten. Die kapitalistische Konterrevolution ermutigte auch die imperialistischen herrschenden Klassen Europas, die mit dem „Sozialstaat“ der Nachkriegszeit verbundenen Sozialleistungen anzugreifen.

Nach der kapitalistischen Konterrevolution, die die Grundlage für ein wiedererstarkendes, wiedervereinigtes Deutschland legte, wurde die NATO hauptsächlich zum Instrument für die USA, mit dem diese ihre militärische Dominanz in Europa geltend machen will. Wir schrieben 1992, zur Zeit des Maastricht-Vertrags, der die EU begründete:

„Vor zweieinhalb Jahren endete die Nachkriegszeit, als die zerfallende sowjetische Bürokratie unter Gorbatschow Ostdeutschland aufgab und damit den Sieg der Roten Armee über das Dritte Reich der Nazis rückgängig machte…

Westdeutschland wurde aus einem Kalte-Kriegs-Verbündeten des amerikanischen Imperialismus in ein aggressives Viertes Reich verwandelt, das die Vorherrschaft in Europa anstrebt.“ („Bankiers des Vierten Reichs zünden das Euro-Chaos“, Spartakist Nr. 98, Oktober 1992)

Um den deutschen Imperialismus mit seinen Ambitionen an der Kandare zu halten, bestand Washington darauf, dass Deutschland nach seiner Annexion des ehemaligen ostdeutschen deformierten Arbeiterstaats DDR Mitglied der NATO bleibt. Nachdem der wiedervereinigte deutsche Imperialismus die Abspaltung Kroatiens und Sloweniens eingefädelt und dadurch das blutige Auseinanderbrechen des deformierten Arbeiterstaats Jugoslawiens herbeigeführt hatte, setzten die USA im Gegenzug eine NATO-Militärintervention in Bosnien in Gang. Die USA begannen auch mit der Ausweitung der NATO auf Osteuropa, unter anderem durch Förderung und Finanzierung verschiedener „farbiger Revolutionen“ in ehemals zur Sowjetunion gehörenden oder mit ihr verbündeten Ländern. Diese Operationen führten zu dem faschistisch verseuchten Putsch in der Ukraine vor zwei Jahren.

Was den französischen Imperialismus anbelangt, so unterstützte er die deutsche Wiedervereinigung unter der Bedingung, dass Deutschland eine gemeinsame europäische Währung akzeptiert, mit dem Ziel, die Macht der D-Mark einzudämmen. Auf Betreiben von Jacques Delors von der Sozialistischen Partei Frankreichs wurde im Maastricht-Vertrag, der den Rahmen der heutigen EU schuf, eine Einheitswährung festgeschrieben. Der Euro schwächte die Macht des deutschen Imperialismus keineswegs, sondern stärkte sie sogar, auch gegenüber seinem französischen Rivalen.

Dennoch blieben interimperialistische Rivalitäten seit dem Fall der Sowjetunion weitgehend eingedämmt angesichts der überproportionalen militärischen Stärke der USA, die in dieser Hinsicht ihre imperialistischen Hauptrivalen Deutschland und Japan um ein Vielfaches übertreffen. Gleichzeitig steht die militärische Stärke der USA in einem krassen Missverhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft.

Hinter der Fassade der europäisch-amerikanischen Einheit gegen Putins kapitalistisches Russland brodeln interimperialistische Rivalitäten. London widerstrebt es, die reichen russischen Oligarchen, für die die City of London ein Auslandsbankzentrum und Spielplatz ist, vor den Kopf zu stoßen. Der französischen Regierung widerstrebte es, lukrative Waffenverkäufe an das Putin-Regime zu stornieren. Und der deutsche Imperialismus ist von Russland als Handelspartner und Energielieferant abhängig. Ein wichtiges Anliegen der US-Imperialisten ist heute die Verhinderung einer deutsch-russischen Allianz. Deutschlands militärische Macht verblasst vor der der USA – obwohl sich das angesichts von Deutschlands industrieller Basis schnell ändern könnte. Doch Deutschlands wirtschaftliche Fähigkeiten in Verbindung mit Russlands beträchtlicher militärischer Ausrüstung, vieles davon ein Erbe von der ehemaligen Sowjetunion, könnten ein zukünftiges Gegengewicht zu den USA darstellen.

Kautskys „Ultraimperialismus“ in neuem Gewand

Inmitten des wachsenden Chaos, in dem die EU steckt, würde ein britischer Austritt diesem imperialistisch dominierten Konglomerat einen echten Schlag versetzen, es weiter destabilisieren und in ganz Europa günstigere Bedingungen für die Kämpfe der Arbeiterklasse schaffen – auch gegen eine geschwächte und diskreditierte Tory-Regierung in Britannien. Doch da Labour und die Gewerkschaftsbürokratie – wie auch die Sozialdemokraten und verräterischen Gewerkschaftsführer in ganz Europa – nicht gegen die EU mobilisieren, überlassen sie die Oppositionsrolle offen immigrantenfeindlichen Reaktionären und Faschisten.

Als Anfang der 1970er-Jahre etwa 70 Prozent der britischen Bevölkerung gegen einen EWG-Beitritt waren, sprachen sich auch die Labour-Linke und der TUC [Gewerkschaftsdachverband] dagegen aus, wenn auch vom Standpunkt eines „Little-England“-Nationalismus und eines Protektionismus zur „Rettung britischer Arbeitsplätze“. Protektionismus liefert einen Deckmantel für die Absage an Klassenkampf zugunsten von Klassenzusammenarbeit und verbreitet bösartigen fremdenfeindlichen Chauvinismus. Solchen erbärmlichen Appellen an die „eigene“ Regierung setzen Marxisten Klassenkampf der Gewerkschaften gegen Fabrikschließungen und für die Aufteilung der Arbeit auf alle Hände bei vollem Lohnausgleich entgegen.

Allerdings war von der TUC-Bürokratie kein Mucks zu hören, als Britannien nach dem Volkentscheid von 1975 der EWG beitrat. Nachdem die britischen Gewerkschaftschefs den heldenhaften Bergarbeiterstreik von 1984/85 verraten hatten, dessen Sieg den gewerkschaftsfeindlichen Ansturm hätte abwenden und Klassenkampf in ganz Europa anspornen können, fanden sie einen willkommenen Vorwand, um selbst ihre formelle Gegnerschaft zum europäischen Kapitalistenklub aufzugeben. Ihre „Bekehrung“ geschah durch Jacques Delors, der dem TUC beibrachte, mit der „sozialen Dimension“ des imperialistischen Handelsblocks hausieren zu gehen. Eine auf dem jüngsten TUC-Kongress im vergangenen September angenommene Erklärung besagte: „Im Laufe der Jahre hat sich der Kongress konsequent für die Unterstützung einer Europäischen Union ausgesprochen, die wirtschaftlichen Erfolg auf der Grundlage von sozialer Gerechtigkeit, Bürger- und Menschenrechten, Gleichheit für alle und Rechten am Arbeitsplatz bietet.“ „Soziale Gerechtigkeit“ und „Rechte“, die in der EU angeblich verankert sind – und die sie zweifellos nicht bietet –, sind ein billiger, fadenscheiniger Vorwand für Privatisierungen, Kürzungen von Sozialleistungen und Entlassungen sowie die allgemeine Politik, öffentliche Dienstleistungen dem Markt zugänglich zu machen und dabei für die Arbeiter in ganz Europa die Löhne zu drücken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.

Sowohl die Socialist Party des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) von Peter Taaffe als auch die Socialist Workers Party (SWP) des verstorbenen Tony Cliff, die sich normalerweise im Orbit der Labour Party tummeln, haben sich im Namen von Anti-Austerität für ein „Austritts“-Votum ausgesprochen. Beide Gruppen verweisen auf die verheerenden Angriffe der EU auf die griechische Bevölkerung. Doch ihre Opposition in Worten wird von ihrem politischen Handeln Lügen gestraft. Beide Gruppen feierten den ersten Wahlsieg von Syriza, die pro-EU ist, im Januar 2015. Die Syriza-Regierung führte dann die EU-Austeritätsdiktate durch. Unterdessen ist die Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC), dominiert von der Socialist Party und unterstützt von der SWP, gegen eine EU-Mitgliedschaft – unter dem Vorbehalt, dass sie „für diejenigen in unserer Koalition, die diesen Standpunkt nicht unterstützen, das Recht, öffentlich für die eigene Position zu mobilisieren, voll respektiert“.

Eine (kaum noch) reformistische Gruppe, die mit an vorderster Front im Kampf für die EU steht, ist die Alliance for Workers’ Liberty (AWL). Die AWL führt eine Kampagne unter der Losung „Bleibt drinnen und kämpft für ein Arbeitereuropa“ und wirbt für eine Reihe von Modellanträgen für die Mobilisierung von Gewerkschaftsortsgruppen, der Labour Party und anderer Organisationen gegen den Austritt. Eine AWL-Erklärung mit dem Titel „Die beschränkte Einheit der Europäischen Union ist in Gefahr“ geißelt Camerons Volksentscheid, er gefährde das „Gefüge“ der europäischen Einheit noch mehr (Solidarity, 27. Januar). In der Erklärung wird weiter argumentiert:

„Selbst unter dem Kapitalismus ist die freiwillige europäische Einheit besser als hohe Barrieren zwischen den Ländern. Es ist ein Fortschritt im Vergleich zu Jahrhunderten sich befehdender Eliten, von Kriegen und Nationalismus. Auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene ist Europa die rationale Arena, um die Wirtschaft der europäischen Länder zu entwickeln und damit zu beginnen, die Bedingungen für Menschen aus der Arbeiterklasse in ganz Europa und darüber hinaus nach oben anzugleichen, die Industrie- und Agrarproduktion so zu organisieren, dass sie der gesamten Menschheit zugute kommt, und auch die Umwelt zu schützen, auf die wir alle angewiesen sind.“

Dieser Lobgesang auf die Einheit eines kapitalistischen Europas würde sogar jenem Renegaten des Marxismus, Karl Kautsky, die Schamesröte ins Gesicht treiben, der 1914, am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkriegs, die Möglichkeit eines „friedlichen“ Kapitalismus auf Grundlage supranationaler Monopole postulierte: „Ob es nicht möglich sei, dass die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte. Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar“ (zitiert in Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916). Lenin arbeitete in seiner Schrift ein marxistisches Verständnis des Imperialismus heraus, eine nachhaltige Polemik gegen Kautskys Anheizen von Illusionen.

Lenin zeigte, dass der Imperialismus keine bewusst gewählte Politik ist, sondern vielmehr das unausweichliche Endstadium des Kapitalismus, in dem die Konkurrenz des freien Marktes zur Vorherrschaft des Monopolkapitalismus führt und das Industriekapital im Finanzkapital aufgeht. Eine unumgängliche Begleiterscheinung von Aufstieg und Dominanz des Finanzkapitals war das Anwachsen des Militarismus, da die Großmächte aufgrund sich ändernder Kräfteverhältnisse um die Kontrolle über Kolonien und Ausbeutungssphären wetteiferten, was letztendlich zum Krieg führen muss. Lenin zog den Schluss:

„Der objektive, d. h. wirkliche soziale Sinn seiner [Kautskys] ,Theorie‘ ist einzig und allein der: eine höchst reaktionäre Vertröstung der Massen auf die Möglichkeit eines dauernden Friedens im Kapitalismus, indem man die Aufmerksamkeit von den akuten Widersprüchen und akuten Problemen der Gegenwart ablenkt auf die verlogenen Perspektiven irgendeines angeblich neuen künftigen ,Ultraimperialismus‘.“

Die Krisen, die die EU heute erschüttern, zeigen erneut den Widerspruch zwischen dem vom Kapitalismus geschaffenen internationalen Weltmarkt und dem Nationalstaat, durch den der Kapitalismus entstand und sich entwickelte. Der Nationalstaat wurde zu einem Hindernis für die Entfaltung der Produktivkräfte. Aber dieses Hindernis kann nicht durch eine Art übernationaler kapitalistischer Institution überwunden werden. Die grundlegende Prämisse des Kapitalismus ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen kapitalistischen Konzernen – von denen jeder zum Schutz seiner Investitionen letztlich auf die militärische Macht seines eigenen kapitalistischen Staates angewiesen ist – um die höchste Rendite, d. h. maximale Ausbeutung der Arbeiterklasse im eigenen Land und im Ausland zu erreichen. Die mächtigeren Länder werden unausweichlich die schwächeren Länder dominieren und wollen den größeren Teil der Beute bekommen. Zweck der EU ist es, das zu erleichtern.

Dass diese instabile imperialistische Allianz so lange gehalten hat, haben vor allem die Labour-Leute und die Sozialdemokraten und ihre Komplizen in der Gewerkschaftsbürokratie zu verantworten. Sie haben die Arbeiter nicht nur dazu gedrängt, die EU politisch zu unterstützen, sondern haben auch den imperialistischen Bourgeoisien dadurch geholfen, dass sie sich weigerten, die Art von Klassenkampf zu führen, mit der sie die gewerkschaftsfeindlichen und Austeritätsmaßnahmen der Kapitalisten hätten vereiteln können. Die Internationale Kommunistische Liga kämpft für die Schmiedung internationalistischer proletarischer Avantgardeparteien nach dem Vorbild von Lenins Bolschewiki, um neue Oktoberrevolutionen in Britannien und rund um die Welt anzuführen. Was wir vor mehr als 40 Jahren in „Labor and the Common Market“ schrieben, gilt auch heute noch für die EU:

„Nur die Einheit auf sozialistischer Grundlage, herbeigeführt durch eine proletarische Revolution und die Enteignung der riesigen Monopole, kann eine rationale weltweite Wirtschaftsentwicklung ohne Ausbeutung begründen. Die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa können nur auf der Grundlage des rigorosesten Kampfes gegen die kapitalistische EWG und gegen alles, wofür sie steht, geschaffen werden. Und nur unter der gemeinsamen Kontrolle der Arbeiter selbst kann die Produktivkraft Europas in den Dienst der arbeitenden Menschen der gesamten Welt gestellt werden.“

 

Spartakist Nr. 213

Spartakist Nr. 213

Sommer 2016

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