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Spartakist Nummer 169

Winter 2007/2008

80 Jahre nach Justizmord

Lehren des Kampfes für die Freiheit von Sacco und Vanzetti

Freiheit für Mumia und alle Opfer der Klassenjustiz!

Erster Teil

Folgender Artikel wurde übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 897, 31. August 2007.

Der 23. August war der Jahrestag der Hinrichtung der anarchistischen Arbeiter Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti 1927 in Massachusetts. Die beiden wurden im Mai 1920, auf dem Höhepunkt der immigrantenfeindlichen Kommunistenhysterie im Gefolge der Russischen Revolution von 1917 verhaftet und im Jahr darauf aufgrund abgekarteter Anklagen wegen Mordes und Raubes verurteilt. Sacco, Facharbeiter in einer Schuhfabrik, und Vanzetti, der seinen Lebensunterhalt als Fischverkäufer verdiente, wurden herausgegriffen, weil sie italienische Einwanderer waren und ihr Leben dem Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse verschrieben hatten.

Durch ihre Hinrichtung gelangten Sacco und Vanzetti auf die lange Liste von Kämpfern der Arbeiterklasse, die von den „demokratischen“ Herrschern des amerikanischen Kapitalismus der barbarischen Todesstrafe unterworfen oder im Gefängnis begraben wurden: die Haymarket-Märtyrer, im Jahr 1887 hingerichtete Gewerkschaftsorganisatoren und Anarchisten; Joe Hill, ein aufgrund einer abgekarteten Mordanklage verurteilter und 1915 von einem Exekutionskommando in Utah hingerichteter Aktivist der Industrial Workers of the World (IWW); Tom Mooney und Warren Billings, ebenfalls auf Grund abgekarteter Mordanklagen verurteilt wegen einer Bombenexplosion auf einer „Preparedness“-Kundgebung 1916 in San Francisco, die für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, einen interimperialistischen Krieg, die Werbetrommel rührte. (Mooney und Billings wurden 1939 aus dem Gefängnis entlassen.) Bis zu ihrem letzten Atemzug blieben Sacco und Vanzetti ungebrochen. Als ihn die Wärter auf dem elektrischen Stuhl festschnallten, rief Sacco aus: „Viva l’anarchia“. Augenblicke später wandte sich Vanzetti an den Aufseher und erklärte: „Ich bin aller Verbrechen unschuldig, nicht nur dieses, sondern aller, wirklich aller. Ich bin ein unschuldiger Mann.“ Er wurde Minuten darauf auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.

Die Geschichte von Sacco und Vanzetti ist auch die des militanten Kampfes um ihr Leben und ihre Freiheit, geführt von der mit der frühen Communist Party (CP) verbundenen International Labor Defense (ILD). Als US-Tochterorganisation der von der Kommunistischen Internationale gegründeten Internationalen Roten Hilfe (IRH) leistete die ILD Pionierarbeit klassenkämpferischer Verteidigung durch Mobilisierung der Arbeiter für Sacco und Vanzetti überall in den USA, zusammen mit den internationalen Anstrengungen der IRH.

Nach den Hinrichtungen zog der ILD-Sekretär James P. Cannon, ein Führer der frühen CP und später des amerikanischen Trotzkismus, die Lehren aus diesen Kampf in einem Artikel im Labor Defender (Oktober 1927), der Zeitung der ILD, unter dem Titel „A Living Monument to Sacco and Vanzetti“ [Ein lebendiges Monument für Sacco und Vanzetti]. Cannon schrieb: „Mit diesem Akt eines hinterlistigen Mordes zeigt die herrschende Klasse Amerikas der Welt ihr wahres Gesicht. Die Maske der ,Demokratie‘ ist abgeworfen.“ Cannon appellierte an die Arbeitersolidarität und betonte, dass sich die ILD „bemüht hat, den Kampf für sie [Sacco und Vanzetti] mit der allgemeinen Verteidigung der zahlreichen Gefangenen der Arbeiterbewegung, die heute in den Gefängnissen sitzen, und mit dem umfassenderen Kampf der werktätigen Massen zur Befreiung vom Joch des Kapitalismus zu verbinden“.

Das ist die Perspektive, auf die sich die Arbeit des Partisan Defense Committee [in Deutschland Komitee für soziale Verteidigung] ausrichtet – eine mit der Spartacist League/U.S. verbundene klassenkämpferische Organisation zur rechtlichen und sozialen Verteidigung. Die Arbeit der ILD liefert Kämpfern der Arbeiterklasse, Linken und radikalen Jugendlichen wichtige Lehren für die Kämpfe von heute, insbesondere für den Kampf um das Leben und die Freiheit von Mumia Abu-Jamal. Mumia, in seiner Jugend ein Sprecher der Black Panther Party, später ein preisgekrönter Journalist und Unterstützer der MOVE-Organisation, wurde aufgrund der falschen abgekarteten Anklage, am 9. Dezember 1981 den Polizeibeamten von Philadelphia Daniel Faulkner ermordet zu haben, zum Tode verurteilt, ausdrücklich aufgrund seiner politischen Ansichten. In Mumias Fall geht es um das rassistische und politische Komplott gegen einen Unschuldigen. Wie wir immer wieder betont haben, seit sich das PDC vor etwa 20 Jahren seines Falles annahm, ist der Weg zu seiner Freiheit, in den USA und international das Proletariat zu mobilisieren, dessen soziale Macht in seiner Masse, seiner Organisation und seiner Fähigkeit, die Produktion zum Stillstand zu bringen, liegt.

Die Ähnlichkeiten der Komplotte gegen Sacco und Vanzetti und gegen Mumia sind auffallend. Alle drei wurden für ihre politischen Ansichten und Aktivitäten bestraft. Sacco und Vanzetti gehörten zu den Anarchisten, die die US-Regierung zur Zielscheibe ihrer Repression ausersehen hatte; Mumia war im Fadenkreuz des FBI und der Bullen Philadelphias, seit er mit 15 Jahren Sprecher der Black Panthers war, und handelte sich auch ihren Hass ein wegen seiner späteren Verteidigung der MOVE-Organisation gegen brutale Polizeiangriffe. Beide Fälle waren gekennzeichnet von Manipulation der Geschworenen, Unterschlagung von Beweismaterial, Nötigung von Zeugen und gefälschten Ballistikgutachten, und bei den Prozessen hatten Richter den Vorsitz, die gegen die Angeklagten offen voreingenommen waren.

Im Jahre 1924 sagte Richter Webster Thayer, nachdem er einen Antrag auf einen neuen Prozess für Sacco und Vanzetti abgelehnt hatte, zu James Richardson, Professor am Dartmouth College: „Haben Sie gesehen, was ich neulich mit diesen anarchistischen Bastarden gemacht habe?“ (zitiert in Herbert Ehrmann, The Case That Will Not Die [Der nicht totzukriegende Fall], 1969). Während Mumias Prozess von 1982 hörte eine Gerichtsstenografin zufällig, wie sich Richter Albert Sabo brüstete: „Ich werde denen helfen, den N----r zu braten.“ In beiden Fällen legte letztendlich eine andere Person ein Geständnis ab und entlastete die Angeklagten von jeglicher Beteiligung, aber die Gerichte sahen die Geständnisse als gegenstandslos an. Und für Mumia wie auch für Sacco und Vanzetti mobilisierten weltweit Arbeiter und Unterdrückte, die in dem Kampf um deren Freiheit ihre eigenen Kämpfe sahen.

Von entscheidender Wichtigkeit ist, dass im Fall von Sacco und Vanzetti – wie auch in Mumias Fall heute – die Politik der klassenkämpferischen Verteidigung entgegengesetzt war zu Illusionen in die „Fairness“ der kapitalistischen Justiz, die bürgerliche Liberale, Gewerkschaftsirreführer und reformistische Linke säten. Bis zum Tage von Saccos und Vanzettis Hinrichtung führte die ILD für sie einen unermüdlichen Kampf um Einheit in der Aktion auf Grundlage des Klassenkampfes. Die ILD unterstützte die Ausnutzung jeglicher rechtlicher Mittel, die Sacco und Vanzetti zu Gebote standen. Doch Cannon bestand darauf, dass der Kampf für Sacco und Vanzetti vor den „Obersten Gerichtshof der Massen“ gebracht werden müsse. Bei jeder neuen Wende des Kampfes vor Gericht – Anträge auf einen neuen Prozess, Berufung vor dem höchsten Gericht von Massachusetts, Gnadengesuche oder Berufungen vor dem Obersten US-Gerichtshof – kämpfte die ILD gegen diejenigen, die den Kampf dadurch unterminierten, dass sie Vertrauen in die Richter mit ihren schwarzen Roben oder in den Gouverneur von Massachusetts predigten, eine Politik, die mit Verleumdungen, Ausschlüssen und sogar physischen Angriffen gegen ILD und CP einherging.

Eine Sache des Proletariats

Zur Zeit der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti war ihr Fall von einem breiten Spektrum an Organisationen und prominenten Persönlichkeiten aufgegriffen worden: von Gewerkschaften und sozialistischen Organisationen in den USA bis hin zu Parlamentsabgeordneten in Britannien und weltberühmten Schriftstellern und Künstlern. Albert Einstein unterschrieb ein Protestschreiben an US-Präsident Calvin Coolidge. Der Dramatiker George Bernard Shaw brandmarkte das Komplott, und die Pulitzerpreisgewinnerin Edna St. Vincent Millay machte den Fall in ihren Gedichten bekannt. Upton Sinclair, Autor von Der Dschungel, dem klassischen sozialkritischen Roman über die fleischverarbeitende Industrie, setzte sich für die Verteidigung ein, ebenso wie John Dos Passos 1927 in seiner Streitschrift Facing the Chair [Im Angesicht des elektrischen Stuhls]. Sacco und Vanzetti wurde später in Bildern von Ben Shahn, in Musik von Woodie Guthrie, Ennio Morricone und Joan Baez und in Theaterstücken und Filmen ein Denkmal gesetzt.

Ein Artikel des Harvard-Juraprofessors und späteren Richters am Obersten Gerichtshof Felix Frankfurter in der Atlantic Monthly (März 1927), der später zu dem Buch The Case of Sacco and Vanzetti [Der Fall von Sacco und Vanzetti] erweitert wurde, entlarvte die juristische Farce vor einem nationalen und internationalen Publikum. Frankfurters Buch wirbelte so viel Staub auf, dass der Präsident des Obersten Gerichtshofes der USA, der ehemalige Präsident William Howard Taft, es als „bösartige Propaganda“ beschimpfte, und Frankfurters Telefon wurde angezapft.

Das breite Ausmaß der Unterstützung für Sacco und Vanzetti war bemerkenswert, es gab dabei auch liberale Persönlichkeiten wie Frankfurter, der in dem Komplott gegen die beiden einen Schandfleck für das Ansehen der amerikanischen Demokratie sah. Doch der Fall von Sacco und Vanzetti gehört dem internationalen Proletariat. Schon 1921 gab es Proteste in europäischen Hauptstädten wie London, Rom und Paris, ebenso in Casablanca, Marokko, Mexiko City, Caracas, Venezuela, und Montevideo, Uruguay. Arbeiter identifizierten sich rund um die Welt mit den beiden Kämpfern, dies wurde auf den Punkt gebracht vom Verband der Lastwagenfahrer des Hafens von Veracruz, Mexiko, die 1921 mit der Forderung protestierten: „Lasst Sacco und Vanzetti frei, oder die proletarische Welt wird euch die Eingeweide herausreißen!“ In den USA erhoben verschiedene Gewerkschaften und sogar die konservativen Führer der American Federation of Labor (AFL) zusammen mit der Socialist Party (SP), der IWW und anderen linken und Bürgerrechtsgruppen ebenfalls ihre Stimme.

Die organisierte Verteidigung von Sacco und Vanzetti wurde von italienischen Anarchisten in Boston initiiert, und kurz darauf schlossen sich etliche Bürgerrechtler an. Doch es war das Eingreifen der Internationalen Roten Hilfe und der ILD in den USA, was für die proletarische Protestbewegung eine zentrale Rolle spielte. In einer Zeit, als Hinrichtungen gewöhnlich kurz nach Verurteilungen stattfanden, war es die Mobilisierung von Millionen, die Sacco und Vanzetti sechs Jahre lang am Leben hielt.

Die Kommunistische Internationale und die CP in den USA gaben im Herbst 1921 Aufrufe zu einer weltweiten Kampagne für Sacco und Vanzetti heraus. Die erste Ausgabe des Labor Herald (März 1922), einer Publikation der mit der CP verbundenen Trade Union Educational League, rief auf: „Arbeiter! Handelt sofort, um Sacco und Vanzetti zu retten!“ Der Daily Worker der CP berichtete über jede neue Wendung in dem Fall und schrieb regelmäßig über internationale Proteste. Auf der Titelseite des Daily Worker (27. Dezember 1924) forderte die CP dazu auf, dass sich „alle Organisationen von Arbeitern in Amerika [dem Protest] anschließen in einer Einheitsfront für Sacco und Vanzetti gegen ihre kapitalistischen Feinde und für ihre sofortige Freilassung“.

Der Fall von Sacco und Vanzetti war ein Hauptpunkt bei der Gründungskonferenz der ILD 1925. Die ILD erwuchs aus Diskussionen in Moskau zwischen James P. Cannon und dem Ex-„Wobbly“ Big Bill Haywood. Nichtsektiererische Arbeiterverteidigung war für die Workers (Communist) Party von Anfang an ein Thema der Propaganda, doch erst die ILD machte sie zur Realität. Cannon, selbst ehemaliges IWW-Mitglied, hatte in seinem Werdegang Erfahrungen mit Fällen der Arbeiterverteidigung gesammelt. Er erinnerte sich: „Ich stammte aus der alten Bewegung, und die eine Sache, die dort absolut unantastbar war, war die Einheit für die Opfer kapitalistischer Justiz“ (zitiert in Bryan Palmer, James P. Cannon and the Origins of the American Revolutionary Left, 1890–1928 [James P. Cannon und die Ursprünge der amerikanischen revolutionären Linken], 2007). Im Bestreben, die Begrenztheit der Vorgehensweise der Arbeiterverteidigung in der Vergangenheit zu überwinden, wo jeder Fall zur Neueinrichtung eines Ad-hoc-Verteidigungskomitees führte, wollte Cannon eine auf Arbeiter gestützte Arbeiterverteidigungsorganisation für die gesamte Arbeiterbewegung aufbauen.

Wie Cannon in The First Ten Years of American Communism [Die ersten zehn Jahre des amerikanischen Kommunismus] (1962) schilderte, wurde die ILD speziell dafür gegründet, sich der Notlage eines „jeden Mitglieds der Arbeiterbewegung, ungeachtet seiner Einstellung, das wegen seiner Aktivitäten oder seiner Ansichten unter der Verfolgung durch die kapitalistischen Gerichte zu leiden hat“, anzunehmen. Die ILD verband die Tradition der IWW von klassenkämpferischer, nichtsektiererischer Verteidigung – zusammengefasst in der Wobbly-Losung „Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle“ – mit dem Internationalismus der bolschewistischen Revolution. Nach ihrer Gründung machte die ILD 106 Klassenkriegsgefangene in den USA ausfindig und etablierte die Politik, sie und ihre Familien finanziell zu unterstützen. Innerhalb weniger als einem Jahr hatte die ILD Ortsgruppen in 146 Städten mit 20 000 Einzelmitgliedern, dazu 75 000 Mitglieder von Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen, die sich der ILD kollektiv angeschlossen hatten.

Die ILD machte Saccos und Vanzettis Kampf bekannt und organisierte Kundgebungen und politische Streiks, um ihre Freiheit zu fordern. Die ILD kämpfte dagegen, dass Kampfgeist und Klassensolidarität der Arbeiter von den Liberalen, Sozialdemokraten und AFL-Führern zersetzt wurden, die predigten, dass den kapitalistischen Gerichten Gerechtigkeit innewohne. Die ILD mobilisierte auf der Grundlage der Einheitsfront, ihr Ziel war, für die verschiedenen Organisationen, die Sacco und Vanzetti verteidigten, die größtmögliche Einheit im Kampf zu erreichen, gleichzeitig aber die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen CP/ILD und den anderen offen darzulegen. Die Losung „Getrennt marschieren, vereint schlagen“ verkörpert die beiden Zielsetzungen der Einheitsfronttaktik: Klasseneinheit und der politische Kampf für ein kommunistisches Programm.

Die internationale Protestbewegung erweiterte das Lehrbuch der Klassenkampfverteidigung um ein Kapitel, das Geschichte machte. Die ILD initiierte am Maifeiertag 500 Versammlungen für Sacco und Vanzetti in Städten im ganzen Land und spielte eine Schlüsselrolle bei der Organisierung von Arbeiterprotesten und Streiks, von einer Kundgebung mit 20 000 Teilnehmern auf New Yorks Union Square im April 1927 bis hin zu Protesten und Streiks am Vorabend der Hinrichtungen, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Der ILD war klar: Um die Hinrichtungen zu stoppen und die Freiheit von Sacco und Vanzetti zu erlangen, konnte sie nur darauf bauen, eine so machtvolle Welle von Arbeiteraktionen zu entfachen, dass die kapitalistischen Herrscher davon Abstand nehmen würden, ihre Pläne auszuführen.

Doch die antikommunistischen AFL-Führer sabotierten die Streikbewegung in entscheidenden Momenten, ermuntert von den Sozialdemokraten der SP und anderen. Zahllose Artikel und Bücher wurden seitdem geschrieben, um die CP und die ILD zu diffamieren – von denen, die in dem Fall einen „Justizirrtum“ zugeben, bis hin zu anderen, die absurderweise behaupten, dass entweder Sacco oder beide Männer schuldig waren. Repräsentativ für erstere ist das jüngst erschienene Buch Sacco and Vanzetti: The Men, the Murders, and the Judgement of Mankind [Sacco und Vanzetti: die Männer, die Morde und das Urteil der Menschheit] von Bruce Watson, das über Generationen weitergegebene antikommunistische Verleumdungen nachplappert, von der grotesken Behauptung, dass es der CP völlig egal gewesen sei, ob Sacco und Vanzetti leben oder sterben, bis hin zu der Lüge, die ILD habe das Geld, das sie für die Verteidigung sammelte, selbst eingesteckt.

Die Kommunistenhysterie

Sacco und Vanzetti wurden am 5. Mai 1920 verhaftet, inmitten einer bösartigen immigrantenfeindlichen, antikommunistischen Hysterie. Als der US-Imperialismus in den Ersten Weltkrieg eintrat, führte die Regierung eine Fülle von Repressionsmaßnahmen zur Kriminalisierung von Antikriegsaktivitäten durch. Der Espionage Act [Spionagegesetz] von 1917 sah Gefängnisstrafen für jegliche Handlung vor, die als Störung der Rekrutierung von Truppen angesehen wurde. Verfolgt von dem Gespenst der bolschewistischen Revolution von 1917 verabschiedete der Kongress im darauf folgenden Jahr den Sedition Act [Aufwiegelungsgesetz], das Kritik an der „amerikanischen Regierungsform“ zu einem Kapitalverbrechen machte.

Die Kommunistenhysterie kam im Jahre 1919 richtig in Fahrt. Dieses Jahr erlebte den Höhepunkt einer Welle des Arbeiterradikalismus, die Europa als Reaktion auf das Gemetzel des Ersten Weltkriegs und unter dem Einfluss der Russischen Revolution überflutete. In den USA wuchs die SP auf über 100 000 Mitglieder – vor allem im Ausland geborene Arbeiter –, von denen zwei Drittel den probolschewistischen linken Flügel unterstützten. Die USA wurden von der bis dato größten Streikwelle heimgesucht, bei der 4 Millionen Arbeiter als Antwort auf die vom Krieg verursachte Inflation die Arbeit niederlegten. In Seattle legte im Februar 1919 ein Generalstreik die Stadt fünf Tage lang lahm, und im gleichen Jahr weigerten sich Hafenarbeiter, Munition zu verladen, die für Konterrevolutionäre bestimmt war, die den jungen Sowjetstaat zu stürzen versuchten.

Die US-Bourgeoisie entfachte eine Hysterie über eine Reihe von Bombenanschlägen, die Anarchisten zugeschrieben wurden. Nach einem versuchten Bombenanschlag auf sein Haus im Juni 1919 entfesselte der US-Generalstaatsanwalt A. Mitchell Palmer eine zusätzliche Repressionswelle und schimpfte, die scharfen Zungen der revolutionären Hitze „leckten an den Altären der Kirche, sprangen auf die Glockentürme der Schulglocken über, krochen in die heiligen Ecken der amerikanischen Häuser, trachteten danach, das Ehegelübde durch liederliche Regeln zu ersetzen, die Fundamente der Gesellschaft einzuäschern“. Im November wurden die Palmer-Razzien mit der Verhaftung von mehr als 3000 im Ausland geborenen Radikalen eröffnet. Schließlich wurden mindestens 6000 deportiert. Als sich die kapitalistische Weltordnung stabilisierte, waren die 20er-Jahre in den Vereinigten Staaten, inzwischen die kapitalistische Hauptmacht auf der Welt, ein Jahrzehnt blindwütiger Reaktion: Weitere immigrantenfeindliche Gesetze wurden 1921 und 1924 verabschiedet; Antikartellgesetze wurden benutzt, um Streiks zu brechen; militante Arbeiter und Kommunisten wurden ins Gefängnis geworfen. Der Ku-Klux-Klan wuchs rasant und marschierte in einer Stärke von 40 000 durch Washington.

Sacco und Vanzetti wurden zu Symbolen für diejenigen, die im Netz der Repression gefangen waren. Beide waren 1908 in die Vereinigten Staaten gekommen. Innerhalb von fünf Jahren waren sie zu Anarchisten geworden und zu Abonnenten der italienischsprachigen anarchistischen Zeitung Cronaca Sovversiva (Subversive Chronik) von Luigi Galleani. Saccos Name erschien häufig in der Spalte der Zeitung, die organisatorische Aktivitäten ankündigte, insbesondere Geldsammlungen für politische Gefangene und eingekerkerte Streikende. Sacco half bei Spendensammlungen für Arbeiter und ihre verhafteten Führer während des Textilarbeiterstreiks von 1912 in Lawrence, Massachusetts. Im folgenden Jahr half er dabei, Streikpostenketten vor der Hopedale-Papierfabrik zu organisieren und war im Dezember 1916 einer von drei Anarchisten aus Massachusetts, die verhaftet wurden, weil sie ohne Erlaubnis eine Solidaritätsversammlung für streikende Stahlarbeiter in Minnesota abgehalten hatten. Ebenfalls 1916 sammelte Vanzetti Spenden zur Unterstützung von Streikenden in der riesigen Plymouth-Cordage-Fabrik, in der er zuvor gearbeitet hatte.

Sacco und Vanzetti trafen sich erstmals 1917 in Mexiko, wohin viele Galleanisten gegangen waren, um sich der Einberufung zu entziehen. Sacco kam nach ein paar Monaten in die USA zurück. Vanzetti kehrte später zurück, zu einer Zeit heftiger Repression gegen Cronaca Sovversiva, darunter wiederholte Razzien in ihren Büroräumen und die Beschlagnahme der Zeitung, die von der Post boykottiert wurde. Im Februar 1918 überfielen FBI-Agenten das Büro der Cronaca in Lynn, Massachusetts, und beschlagnahmten 5000 Adressen von Abonnenten, darunter auch die von Sacco und Vanzetti. Achtzig Galleanisten wurden verhaftet und Galleani selbst wurde 1919 deportiert.

Das Komplott

Am 24. Dezember 1919 wurde versucht, einen Wagen mit Lohngeldern auszurauben, der sich der L.Q.-White-Schuhfabrik in Bridgewater, Massachusetts, näherte. Als Wachleute zurückschossen, flohen die beiden bewaffneten Räuber zu einem wartenden schwarzen Auto, das davonfuhr. Zeugen beschrieben die Bewaffneten als „Ausländer“. Einer, der eine Schrotflinte abgefeuert habe, soll einen dunklen Teint und einen schwarzen Schnurrbart gehabt haben. Am 5. April 1920 wurden zwei Angestellte der Schuhfabrik Slater & Morrill in South Braintree außerhalb Bostons von zwei Männern angegriffen, als sie die Lohngelder der Fabrik transportierten. Zahlmeister Frederick Parmenter und sein Assistent Alessandro Berardelli wurden erschossen, und die Banditen entkamen zusammen mit anderen in einem dunklen Wagen.

Drei Wochen später, am 5. Mai, wurden Sacco und Vanzetti in einer von Bridgewater-Polizeichef Michael Stewart gestellten Falle festgenommen, der beide Raubüberfälle Anarchisten anhängen wollte. Die beiden Anarchisten waren dabei, zusammen mit ihren Gefährten Ricardo Orciani und Mike Boda dessen Wagen aus einer Autowerkstatt in West Bridgewater abzuholen, wo er repariert wurde. Wie mit Polizeichef Stewart vorher ausgemacht, weigerte sich der Besitzer, den Wagen herauszugeben, und seine Frau rief die Bullen. Nachdem die Anarchisten die Werkstatt verlassen hatten, wurden Sacco und Vanzetti in einer Straßenbahn nach Boston verhaftet.

Ohne je davon informiert worden zu sein, dass sie eines Raubüberfalls verdächtigt wurden, waren Sacco und Vanzetti überzeugt, wegen ihrer politischen Aktivitäten verhaftet worden zu sein. In seiner Aussage vor Gericht beschrieb Vanzetti seine Vernehmung durch Stewart: „Er fragte mich, warum wir in Bridgewater waren, wie lange ich Sacco kenne, ob ich ein Radikaler sei, ob ich ein Anarchist oder Kommunist sei, und er fragte mich, ob ich an die Regierung der Vereinigten Staaten glaube.“

Der unmittelbare Hintergrund ihrer Verhaftung war der Tod des Anarchisten Andrea Salsedo zwei Tage zuvor, der aus dem 14. Stock des Büros des Justizministeriums in New York gestürzt war. Verhaftet im Februar, waren Salsedo und Roberto Elia in Isolationshaft gehalten worden. Ende April hatte die Grupo Autonomo, eine Zelle italienischer Anarchisten, Vanzetti nach New York geschickt, um Informationen über die beiden zu bekommen. Dort wurde ihm vom italienischen Verteidigungskomitee geraten, sich jeglicher radikaler Schriften zu entledigen, da weitere Razzien erwartet wurden. Aus diesem Grunde gingen sie am 5. Mai Bodas Wagen holen. Bei ihrer Verhaftung sagten sie den Bullen nichts von dem Zweck ihres Besuchs in der Autowerkstatt.

Vanzetti wurde zunächst aufgrund der abgekarteten Anklage des fehlgeschlagenen Raubüberfalls von Bridgewater vor Gericht gestellt; das war der Versuch des Staates, entweder ihm oder Sacco vor dem Prozess zu den Mordanklagen von Braintree ein Vorstrafenregister anzuhängen. Felix Frankfurter schilderte die Farce in The Case of Sacco and Vanzetti (1927):

„Der Beweis zur Identifizierung Vanzettis im Bridgewater-Fall grenzte an Albernheit und gipfelte in der Zeugenaussage eines kleinen Zeitungsjungen, der von dem Telegrafenmast, hinter dem er während der Schießerei Zuflucht gesucht hatte, einen flüchtigen Blick auf den Kriminellen geworfen hatte und ,an der Art, wie er gelaufen sei, bemerkt habe, dass es ein Ausländer war‘. Vanzetti war ein Ausländer, also war es natürlich Vanzetti!“

Trotz der Aussagen von 18 Zeugen, dass er zu dieser Zeit in Plymouth gewesen sei und Aale verkauft habe, wurde Vanzetti wegen tätlichen Angriffs verurteilt. Vanzetti und Sacco wurden dann sofort wegen der Braintree-Morde angeklagt.

Der Mordprozess begann am 31. Mai 1921 in Dedham, Massachusetts, mit einem Bullenaufgebot mit Schrotflinten auf dem Treppenaufgang zum Gericht. Selbst ein FBI-Agent bemerkte, dass die „Stimmung in Dedham gegenüber Italienern ziemlich aufgeheizt ist und sich wahrscheinlich im Verlaufe des Prozesses weiter aufheizen wird“ (zitiert in William Young und David E. Kaiser, Postmortem: New Evidence in the Case of Sacco and Vanzetti, 1985 [Post mortem: neue Beweise im Fall Sacco und Vanzetti]). Fünf der Geschworenen wurden aus dem persönlichen Bekanntenkreis eines Hilfssheriffs ausgewählt. Der Sprecher der Jury Walter Ripley war ein ehemaliger Polizeichef, der zu Beginn einer jeden Gerichtssitzung demonstrativ aufstand und der Fahne salutierte. Als ein Freund vor dem Prozess zu Ripley sagte, er glaube nicht, dass Sacco und Vanzetti schuldig seien, blaffte Ripley zurück: „Zum Teufel mit ihnen, man soll sie trotzdem hängen!“

In seinen einleitenden Bemerkungen rief Richter Thayer die Geschworenen auf, den Dienst „im selben Geiste des Patriotismus, der Unerschrockenheit und der Pflichtergebenheit“ zu versehen, „wie er von unseren Soldatenjungs in Übersee an den Tag gelegt wurde“. Mit Thayers Unterstützung nahm der Staatsanwalt Frederick Katzmann Sacco ins Kreuzverhör und fragte ihn, ob seine Sammlung anarchistischer und sozialistischer Schriften „im Interesse der Vereinigten Staaten sei“. Um die Geschworenen in Rage zu versetzen, stellte Katzmann wiederholt Fragen im Zusammenhang mit Saccos und Vanzettis Flucht nach Mexiko vor der Einberufung, und in seiner Unterweisung der Geschworenen bezeichnete Richter Thayer sie wiederholt als „Drückeberger“.

Wie bei Mumias abgekartetem Prozess von 1982 fehlten jegliche Beweise. Nichts von der gestohlenen Beute wurde je bei ihnen oder in ihrer Nähe gefunden. Dreizehn Alibizeugen lokalisierten Vanzetti in Plymouth beim Verkaufen von Fisch. Ebenso sagten Zeugen aus, dass Sacco zur Mordzeit in Boston gewesen sei. Unter ihnen befand sich ein Sekretär des italienischen Konsulats, auf das Sacco am Tag des Mordes gegangen war, um einen Pass zu bekommen.

Augenzeugen hatten anfänglich den Bullen erzählt, dass sie nicht genug gesehen hätten, um den bewaffneten Räuber zu identifizieren; sie wurden genötigt, ihre Aussagen zu ändern. Zwei von ihnen identifizierten zuerst ein Foto des New Yorker Bankräubers Anthony Palmisano, der damals im Gefängnis saß, als das des Schützen. Die Zeugin Lola Andrews, eine Teilzeitkrankenschwester mit einer Vorgeschichte von Prostitution und Versicherungsbetrug, identifizierte Sacco als den Mann, den sie kurz vor der Schießerei nach dem Weg gefragt habe. Im Kreuzverhör gab Andrews zu, dass sie von Katzmann unter Druck gesetzt worden war, zu sagen, Sacco sei dieser Mann gewesen. Andere Augenzeugen sagten aus, dass Sacco nicht der Mörder gewesen sei. Barbara Liscomb sagte aus, dass der Bewaffnete, den sie über Berardelli stehen sah, ihr direkt ins Gesicht gesehen habe und dass es nicht Sacco gewesen sei. Zusätzliche Zeugen wurden von der Staatsanwaltschaft verheimlicht, wie z. B. Roy Gould, der gerade die Straße überquerte, als auf ihn aus dem Fluchtauto geschossen wurde. Die Beschreibung des Schützen, die Gould den Bullen gab, traf weder auf Sacco noch auf Vanzetti zu.

Ähnlich fadenscheinig war das ballistische Beweismaterial. Sechs Geschosse vom Kaliber .32 wurden aus Parmeter und Berardelli entfernt, was den Revolver vom Kaliber .38, den Vanzetti bei seiner Verhaftung bei sich trug, ausschließt. Es gab kein formelles Verwahrungsprotokoll für die Kugeln, um zu dokumentieren, wer mit ihnen wann arbeitete. Alle Zeugen sagten aus, dass es nur einen Bewaffneten gegeben habe und dass nur eine Pistole benutzt worden sei. Dies wurde von dem Arzt George McGrath, der die Autopsie durchführte, bestätigt. Und er sagte vor den Geschworenen aus, dass alle Geschosse „genau gleich ausgesehen haben“ und die gleichen Schussmarken aufwiesen. Dennoch wartete die Anklage mit einem „Geschoss III“ auf, das anders als die anderen einen Linksdrall aufwies, und behauptete, dies stamme aus Saccos Kaliber .32.

In einer 1923 von der Verteidigung nach dem Prozess vorgelegten eidesstattlichen Erklärung vermerkte der oberste staatliche Ballistikexperte Captain Proctor, dass er dem Staatsanwalt gesagt habe: Würde er ausdrücklich danach gefragt werden, ob Tests gezeigt hätten, dass Geschoss III aus Saccos Schusswaffe gekommen sei, würde er mit Nein antworten. Doch nach wiederholtem Bedrängen durch den Staatsanwalt willigte Proctor ein, auszusagen, dass das Geschoss mit einem aus Saccos Schusswaffe übereinstimmte. Proctor erklärte später, dass er nie geglaubt habe, dass das Geschoss aus Saccos Schusswaffe gekommen sei.

Trotz des völligen Fehlens von Beweisen kamen die Geschworenen nach nur fünfstündiger Beratungszeit mit Schuldsprüchen zurück. Im Dezember 1921 lehnte Richter Thayer einen Antrag auf einen neuen Prozess ab. Wenngleich er Schwächen auf Seiten der Anklage zugab, entschied Thayer, dass „die Beweise, aufgrund derer die Angeklagten verurteilt wurden, Indizienbeweise seien und Beweismaterial, das in der Rechtslehre als ,Schuldbewusstsein‘ bekannt ist“, angeblich bekundet durch die Lügen, die Sacco und Vanzetti bei ihrer Festnahme erzählt hatten, um sich und ihre Genossen zu schützen. Wie die ILD-Broschüre Labor’s Martyrs [Märtyrer der Arbeiterbewegung] von 1927, geschrieben von Max Shachtman, es ausdrückte: „Das Schuldbewusstsein, das Sacco und Vanzetti zugeschrieben wird, war nichts weiter als ein gesundes Bewusstsein vom Klassenkampf und von den Methoden der Feinde der Arbeiterklasse.“

Parallelen zum Komplott gegen Mumia

Alles was benutzt wurde, um Sacco und Vanzetti zu verurteilen – gefälschte Ballistikgutachten, Einschüchterung von Zeugen, Benutzung des politischen Hintergrundes der Angeklagten, um die Geschworenen in Rage zu versetzen – sollte sich bei Mumias Prozess 60 Jahre später wiederholen. Staatsanwalt Joseph McGill argumentierte gegenüber den nahezu ausschließlich weißen Geschworenen, dass Mumias Mitgliedschaft in der Black Panther Party zwölf Jahre zuvor beweise, dass er geplant habe, einen Bullen zu töten. Die beiden Hauptzeugen der Anklage wurden genötigt, ihre Zeugenaussagen zu ändern, und Zeugen, die Mumia entlasten konnten, wurden eingeschüchtert, damit sie nicht aussagten.

Wie in der KfsV-Broschüre vom Dezember 2006, Der Kampf für die Freiheit von Mumia Abu-Jamal – Mumia ist unschuldig!, dokumentiert ist, bezeugte ein Ballistikexperte, dass die tödliche Kugel zu Mumias Schusswaffe „passte“ – doch es gibt keine Beweise, dass Mumias Schusswaffe, Kaliber .38, in dieser Nacht überhaupt abgefeuert wurde oder welche Waffe überhaupt benutzt wurde! Der Bericht des Gerichtsmediziners stellt fest, dass Faulkner mit einer Kugel vom Kaliber .44 erschossen wurde. Ein Zeuge der Schießerei, William Singletary, sagte, der Mörder habe Kaliber .22 benutzt. Jahre später meldete sich Arnold Beverly, um den Mord zu gestehen, und sagte, dass die Schusswaffe, die er benutzt hatte, eine .22er gewesen sei. Im Zuge einer groß angelegten Aktion zur Unterschlagung und Fälschung von Beweismaterial verschwand ein Geschosssplitter aus Faulkners Wunde, und es fehlt ein Röntgenbild des Gerichtsmediziners von Faulkners Körper.

Das eindrucksvollste Beweismaterial dafür, dass Sacco und Vanzetti und später Mumia die Verbrechen nicht begangen hatten, für die sie zum Tode verurteilt wurden, waren die Geständnisse von Berufsverbrechern, die sie entlasteten. Und in beiden Fällen wiesen die Gerichte das Beweismaterial zurück.

Im November 1925 ließ Celestino Madeiros, der im Gefängnis von Dedham auf eine Berufung gegen seine Verurteilung von 1924 wegen Mordes an einem Bankwachmann wartete, Sacco eine Nachricht zukommen, die lautete: „Ich gestehe hiermit, dass ich bei dem Verbrechen in der Schuhfabrik von South Braintree dabei war und dass Sacco und Vanzetti bei besagtem Verbrechen nicht dabei waren“ (The Case of Sacco and Vanzetti). Madeiros legte anschließend eine eidesstattliche Erklärung ab, in der er feststellte, dass der Raubüberfall von einer Gruppe ausgeführt worden sei, auf die die Beschreibung der Morelli-Gang zutraf, die wegen einer Reihe von Raubüberfällen auf Güterzüge gesucht wurde, und dass fünf weitere Personen beteiligt gewesen seien. Kurz nach dem Raubüberfall hatte Madeiros 2800 Dollar auf der Bank, was seinem Anteil an den gestohlenen Lohngeldern entsprochen hätte. Zwei Freunde von Madeiros bestätigten später, dass er ihnen die Rolle, die er und die Morellis gespielt hatten, geschildert habe. Viele Jahre später beschrieb Vincent Teresa in seinem Buch My Life in the Mafia [Mein Leben in der Mafia] ein Treffen mit Frank Morelli in den 50er-Jahren, in dessen Verlauf Morelli über einen Artikel des Boston Globe geklagt habe, der seine Bande der Beteiligung an den Braintree-Morden beschuldigte. Morelli sagte ihm: „Was sie sagten, stimmt, aber es wird meinem Kind wehtun.“

Im Jahr 2001 legten Mumias damalige Rechtsanwälte Marlene Kamish und Eliot Grossman den Staats- und Bundesgerichten die eidesstattliche Erklärung Arnold Beverlys vor, dass er und nicht Mumia den Polizeibeamten Faulkner erschossen habe. Laut Beverly wurde er dafür zusammen mit einer anderen Person von den Bullen und dem Mob gedungen, weil Faulkner für korrupte Bullen zum Problem geworden war und sie bei Erpressung, Bestechung, Drogenhandel usw. störte. Beverlys Aussage wird durch einen Berg von Beweisen erhärtet und fügt zuvor ungeklärte lose Enden zusammen. Beverly legte sein beeidetes Geständnis 1999 vor der PDC-Rechtsanwältin Rachel Wolkenstein ab, die damals zu Mumias Verteidigerteam gehörte, aber im selben Jahr ihr Amt niederlegte, als sein Hauptverteidiger Leonard Weinglass zusammen mit Dan Williams Beverlys Geständnis unterdrückte.

Die ILD führte einen harten politischen Kampf gegen jene, die einer Klassenkampfverteidigung Saccos und Vanzettis Hindernisse in den Weg stellten. Bei unseren Bemühungen, auf die Gewerkschaften gestützte Proteste mit der Forderung nach Mumias Freiheit zu mobilisieren auf der Grundlage, dass er unschuldig ist, sind wir heute mit ähnlichen und noch einigen weiteren Hindernissen konfrontiert. Der Fall Saccos und Vanzettis geschah in einer Zeit, die von der Oktoberrevolution geprägt war, die militante Kämpfer rund um die Welt inspirierte und eine scharfe Grenze zog zwischen denjenigen, die die Sowjetunion verteidigten, und denjenigen, die mit den kapitalistischen Herrschern gemeinsame Sache machten. Die heutige Welt ist zutiefst geprägt durch den Einfluss der konterrevolutionären Zerstörung des sowjetischen Arbeiterstaats 1991/92 im Gefolge jahrzehntelangen stalinistischen Verrats. Während die bürgerlichen Herrscher die Lüge vom „Tod des Kommunismus“ verbreiten, bettet der Großteil der Linken, die sich im allgemeinen den antisowjetischen Kampagnen der Imperialisten angeschlossen hatten, ihre politischen Aktivitäten fest in das Gefüge der „demokratischen“ kapitalistischen Ordnung ein.

Während es bei Saccos und Vanzettis Fall die Staatsanwaltschaft war, die das Geständnis von Madeiros verteufelte, bewerfen heute viele Liberale und reformistische Linke unter Mumias Verteidigern das Beverly-Geständnis mit Schmutz und ziehen selbst Mumias eigene Erklärung von 2001 in Zweifel, dass er Daniel Faulkner nicht erschossen hat. Repräsentativ für diese Sorte von Leuten ist David Lindorff, dessen Buch Killing Time: An Investigation Into The Death Row Case of Mumia Abu-Jamal (2003) der Demontage des Beverly-Geständnisses gewidmet ist. Lindorff erklärt: „Ich bin nicht davon überzeugt, dass Mumia Abu-Jamal einfach nur ein argloser Zuschauer war“, und zieht den Schluss, Mumia habe möglicherweise Faulkner erschossen (siehe: „Klassenkämpferische Verteidigung kontra Vertrauen in kapitalistische Justiz – David Lindorffs Killing Time, Michael Schiffmanns Wettlauf gegen den Tod: Unterminierung von Mumias Kampf um Freiheit“, Spartakist-Extrablatt, 23. Juni 2007).

Warum sollten Mumias vorgebliche Verteidiger das Beverly-Geständnis angreifen? Das Beverly-Beweismaterial macht deutlich, dass die Ungerechtigkeit gegenüber Mumia nicht die Tat eines einzelnen schurkischen Bullen, Staatsanwalts oder Richters war, sondern die völlig normale Arbeitsweise des kapitalistischen Unrechtssystems. Dieses Verständnis widerspricht unmittelbar dem liberalen Bezugsrahmen von Lindorff & Co., die sich genau dieses „Rechts“system zu eigen machen, das auf jeder Ebene erklärt hat, wie in dem berüchtigten Dred-Scott-Fall, dass Mumia keine Rechte hat, die es respektieren muss. Die mit bürgerlichem Liberalismus getränkten Gruppen Socialist Action, Workers World Party und andere Reformisten halfen, die einst machtvolle Protestbewegung zu demobilisieren, indem sie die Forderung nach Mumias Freiheit der Forderung nach einem neuen Prozess unterordneten. Damit versuchten sie an jene im „Mainstream“ zu appellieren, die die Justizhölle, durch die Mumia geschickt wurde, als einen Schandfleck für das Ansehen der amerikanischen „Recht“sprechung betrachten.

Der politische Kampf gegen derartige Illusionen in die kapitalistische „Recht“sprechung muss gewonnen werden, wenn die soziale Macht der Arbeiterschaft für Mumia ins Feld geführt werden soll. Viele Gewerkschaften und gewerkschaftliche Organisationen haben ihre Unterstützung für Mumia zum Ausdruck gebracht. Doch um diese Stimmung in Gewerkschaftsproteste und Streikaktionen umzuwandeln, bedarf es eines Kampfes gegen die Politik der prokapitalistischen Gewerkschaftsführer, die in der Regierung und den politischen Parteien der Bosse „Freunde“ sehen. Wir kämpfen für eine klassenkämpferische Verteidigungsstrategie, die kein Vertrauen in die Gerechtigkeit der Gerichte setzt und alles Vertrauen in die Macht der Arbeiter. Damit ehren wir das Andenken von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti.

[WIRD FORTGESETZT]

 

Spartakist Nr. 169

Spartakist Nr. 169

Winter 2007/2008

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