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Spartakist Nummer 166 |
Frühjahr 2007 |
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Murat Kurnaz' Fall entlarvt deutschen Imperialismus Steinmeier, Sozialdemokratie und der rassistische "Krieg gegen den Terror"
Berlin, 8. März — Die deutsche kapitalistische Regierung (insbesondere die ehemalige SPD/Grünen-Regierung) ist direkt verantwortlich dafür, dass Murat Kurnaz jahrelang in der Folterhölle des US-amerikanischen Gefangenenlagers Guantánamo festgehalten und gequält wurde. Die wiederholten Versuche der Regierung zwischen 2002 und 2005, Kurnaz Entlassung und Rückkehr nach Deutschland zu verhindern; die massiven Lügen und Vertuschungsversuche, um ihn aus dem öffentlichen Gedächtnis zu radieren und zu verleumden mit jedem neuen Detail, das darüber zutage kommt, wird das Ausmaß an rassistischer Verachtung und an Zynismus seitens dieser Regierung offenkundiger. Dieser Fall ist für Arbeiter und Unterdrückte ein Musterbeispiel für den rassistischen Terror, der von den kapitalistischen Herrschern in Deutschland und auf der ganzen Welt unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung durchgeführt wird. Wir sagen: Nieder mit dem rassistischen Krieg gegen Terror! Freiheit für die Gefangenen von Guantánamo und anderen Terroristen-Gefangenenlagern! Keine Abschiebungen! Stoppt die antimuslimische Hexenjagd!
Murat Kurnaz reiste als praktizierender Muslim auf einer Pilgerfahrt Ende 2001 nach Pakistan. Dort wurde er eingesperrt und unter dem Verdacht, terroristische Aktivitäten zu unterstützen, den US-Imperialisten übergeben. Das ist dasselbe Muster wie bei tausenden anderen Fällen in der Folge des 11. Septembers: Entführungen von Muslimen oder auch nur muslimisch aussehenden Menschen durch die USA und ihre Alliierten auf der Grundlage von Verdacht im Rahmen des Kriegs gegen den Terror. Der Staat behauptet, das Recht zu haben, Menschen verschwinden zu lassen, die er als terroristische Unterstützer einstuft. Was heute bekannt ist, lässt annehmen, dass Kurnaz auf der Grundlage von Informationen des Verfassungsschutzes (VS) ins Visier geriet, der ihn in Bremen wegen seiner Besuche einer Moschee überwachte. Nach seiner Gefangennahme in Pakistan wurde Kurnaz nach Afghanistan gebracht, wo auch deutsche KSK-Soldaten zu seinen Folterern gehörten bevor er schließlich nach Guantánamo überführt wurde.
Es ist ein Wunder, dass Kurnaz nicht wie zahllose andere unschuldige Opfer in Guantánamo einfach verschwunden ist. Die US-Herrscher boten sogar an, ihn gehen zu lassen. Wie wir vor einem Jahr im Spartakist (Nr. 162, Frühjahr 2006) schrieben:
Der Spiegel hat nun berichtet, dass die US-Regierung 2002 der SPD/Grünen-Regierung anbot, Kurnaz auszuliefern, da er offenbar nur das Pech gehabt hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Die Bundesregierung lehnte ab und wollte ihn nicht wieder nach Deutschland lassen. Sie ist damit direkt verantwortlich dafür, dass Kurnaz nunmehr vier weitere Jahre in der Hölle von Guantánamo schmoren musste! (BKA/BND/VS: Voll im US-Folternetzwerk)
Inzwischen wurde letztes Jahr enthüllt, dass die Zurückweisung des US-Angebots von den obersten Ebenen der SPD/Grünen-Regierung ausging und bereits 2002 diskutiert wurde auf Sitzungen der so genannten Präsidentenrunde, der Chefs von VS, BND (Bundesnachrichtendienst), BKA (Bundeskriminalamt) u. a., unter der Führung des jetzigen SPD-Außenministers Steinmeier (damals Chef des Bundeskanzleramts in der Schröder-Regierung). Diese Runde war sich sehr bewusst über ihre Handlungen und deren mögliche Folgen. Dies geht aus einem VS-Bericht vom Oktober 2002 hervor, wo nachgefragt wird, ob die Regierung wirklich dokumentieren möchte, dass alles versucht wurde, seine Rückkehr zu verhindern. Selbst nachdem die eigenen Geheimdienste zu dem Schluss gekommen waren, dass Kurnaz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Verbindung zu Terroristen hat (Beurteilung der BND-Agenten nach einem Verhör im Oktober 2002 in Guantánamo), und selbst nachdem ein US-Richter zu demselben Schluss gekommen war und die Freilassung von Kurnaz zusammen mit anderen Guantánamo-Häftlingen im Januar 2005 anordnete selbst dann versuchte die Regierung noch immer, ihm etwas anzuhängen oder seine Rückkehr nach Hause doch irgendwie zu verhindern. So bemerkt ein Memo des Auswärtigen Amts im Oktober 2005: Das Bundesinnenministerium und der VS hoffen jetzt, von US-Seite weitere Informationen gegen K. zu bekommen, die den Verdacht der Unterstützung im internationalen Terrorismus erhärten. Von Steinmeier selbst ist zu hören, dass er wieder so handeln würde.
So empörend, wie der Fall Kurnaz und der darin veranschaulichte ganz offizielle Regierungsrassismus sind, so sind sie doch keine isolierten Ausrutscher, sondern gerade beispielhaft für die tatsächliche Funktionsweise des Kriegs gegen Terror. Andere Fälle kennen wir bereits, wie zum Beispiel die Rolle von BKA/BND/VS bei den Entführungen von Khaled El-Masri und Mohammed Haydar Zammar, von denen letzterer immer noch in einem Foltergefängnis in Damaskus sitzt (siehe Artikel im Spartakist Nr. 162 für weitere Details). Wir haben immer hervorgehoben, dass der Krieg gegen Terror überhaupt kein Krieg ist, sondern ein politischer Vorwand für die drastische Ausweitung des repressiven bürgerlichen Staatsapparats. Von der blutigen imperialistischen Besetzung des Irak und Afghanistans zu den geheimen Gefängnissen und den Folterzellen Syriens und Ägyptens; vom polizeilichen Todesschussbefehl auf den Straßen Londons bis hin zu Sonderurteilen, unerlaubter Überwachung und Terroristen-Überwachungslisten auf Flughäfen und an Grenzübergängen in ganz Nordamerika und an den Grenzen der rassistischen Festung Europa: Es ist eine riesige Maschinerie aufgebaut worden, deren Tentakel um die gesamte Welt reichen. Sie richtet sich zuerst gegen die verwundbareren muslimischen Minderheiten, in Deutschland die großen türkischen und kurdischen ethnischen Minderheiten, und stellt damit einen direkten Schlag gegen eine strategische Komponente des multiethnischen Proletariats dar. Um Immigranten und ethnische Minderheiten gegen rassistischen Staatsterror zu verteidigen, ist es dringend notwendig, die Arbeiterbewegung und die Linke zu mobilisieren, gegen die letztendlich der gestärkte bürgerliche Staatsapparat gerichtet ist. Nieder mit dem Verbot der PKK, DHKP-C und anderer kurdischer und linker türkischer Organisationen! Nieder mit den Gesinnungsparagraphen 129 a/b!
Obwohl Kurnaz in Bremen geboren wurde und sein ganzes Leben dort gelebt hat, ist er aufgrund des rassistischen Staatsbürgerschaftsrechts in diesem Land nicht als deutscher Staatsbürger anerkannt. Die bürgerliche Presse verbreitet blanken Rassismus, um die öffentliche Meinung gegen ihn zu mobilisieren und um von der Entrüstung gegen die Regierung abzulenken. Jahrelang wurde er durch alle führenden Nachrichtenmedien als der Bremer Taliban verleumdet, so schäumt die Boulevard-Zeitung Bild in der Überschrift vom 23. Januar: Warum ist eigentlich die deutsche Regierung für diesen Türken zuständig? Dies ist tatsächlich die Einstellung der bürgerlichen Minister, sie bauen auf solch pure rassistische Reaktion und nutzen sie aus, auch wenn Steinmeier und Schily von der SPD und ihresgleichen raffiniertere Mittel wählen, um rassistische Hysterie aufzuwiegeln und dadurch ihre eigenen Hintern abzudecken. Daher überrascht es nicht, wenn auf dem Höhepunkt der öffentlichen Entrüstung über Steinmeier die liberale SPD-nahe Frankfurter Rundschau (FR) ihren Kumpeln in der Regierung eine helfende Hand reicht und Rufmord gegen Kurnaz auf der Titelseite begeht: Ex-Guantánamo-Häftling soll Taliban-Einsatz in Afghanistan angekündigt haben (16. Februar). So plump und veraltet waren diese Lügen, direkt von dem stümperhaften Bremer VS übernommen, dass die FR später einen leisen Rückzieher versuchte, sobald ihr Artikel seinen Zweck erfüllt hatte. Um ihre Regierung abzustützen, versucht die Bourgeoisie auf diese Weise, deutsche Arbeiter mit Rassismus zu vergiften, damit gegen den Ausbau des staatlichen Repressionsapparats bloß kein Widerstand der organisierten Arbeiterklasse entsteht, die das eigentliche Hauptziel dieser Maschinerie ist.
Über diese seit über einem Jahr laufenden skandalösen Enthüllungen wird man von den meisten der reformistischen deutschen Linken wenig hören. Der Grund dafür ist politisch: Nachdem sie ihren Beitrag geleistet hatten, die SPD an die Macht zu bringen, und während des Irakkriegs 2002/2003 mit ihrer Kampagne Stoppt Bush die Schröder/Fischer-Regierung politisch unterstützt und an sie appelliert hatten, war dies nun wirklich ihre Regierung, und die Verwicklung von Steinmeier, Schily und Co. in den Skandal ist für sie eine Peinlichkeit. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie kloppte damals Überstunden, um Unterstützung für ihre kapitalistische SPD/Grünen-Regierung zu mobilisieren, indem sie die Entrüstung über die imperialistischen Kriegspläne der Bush-Gang und weit verbreitete pazifistische Empfindungen zum Zwecke der Unterordnung der Arbeiterklasse unter ihre eigenen, deutschen Imperialisten ausbeuteten. Dies demobilisierte nicht nur die Gewerkschaften im Kampf gegen die wirtschaftlichen Angriffe gegen sie (Agenda 2010, Ausverkauf des IG-Metall-Streiks im Osten etc.), sondern gab der Regierung auch eine Abdeckung für den Krieg gegen Terror und verschärfte rassistische Attacken gegen Immigranten und ethnische Minderheiten was die Regierung selbstverständlich jedes Mal bis zum Limit ausnutzte. Zum Beispiel unterstützte eine DGB-Erklärung, die zu einer Antikriegsdemonstration am 15. Februar 2003 aufrief, die Regierung der Balkan-Schlächter Schröder und Fischer und bestätigte erneut: Der DGB hält die internationale Allianz gegen den Terrorismus nach wie vor für unabdingbar. Diese Arbeiterverräter opferten die Interessen ihrer eigenen Mitglieder auf dem Altar der Klassenzusammenarbeit und wollten die deutschen Imperialisten und deren Regierung beraten, wie sie ihre Interessen besser vertreten könnten:
Die weltweite Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und mit den Massenvernichtungspotentialen, insbesondere in Händen von Diktaturen, ist Sache der Völkergemeinschaft und nicht eines einzelnen Landes, auch wenn es sich um die derzeit einzige Supermacht handelt. (Für eine friedliche Lösung des Irakkonflikts Nein zum Krieg gegen den Irak!, Erklärung des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 29. Januar 2003)
Die verschärften Angriffe der Bourgeoisie auf ganzer Linie rassistischer Terror, Aushöhlung demokratischer Rechte und der sozialen Errungenschaften der Arbeiter, sowie Verschlechterung von Arbeitsbedingungen schreien nach einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsführung, um die Gewerkschaften in wirklich kämpfende Verteidiger der Interessen der Arbeiterklasse zu verwandeln, unabhängig von den Bossen. Ein Klassenkampf-Programm für die Gewerkschaften würde Mobilisierungen gegen rassistische Diskriminierungen, gegen Polizeirazzien und Abschiebungen beinhalten. Der Chauvinismus der Gewerkschaftsspitzen geht Hand in Hand mit ihren feigen klassenkollaborationistischen Ausverkäufen. Wir brauchen eine leninistische Avantgarde-Partei, die als Volkstribun auftritt, um in den Gewerkschaften gegen die prokapitalistischen Spitzen und für eine klassenkämpferische Führung zu kämpfen. Die pseudosozialistische Linke, die dem einen oder anderen Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie hinterherläuft insbesondere mittels der WASG , ist ein Hindernis für die Schmiedung dieser Partei und dafür, die Arbeiter von der Klassenkollaboration zu brechen. Sie unterstützte denselben verabscheuungswürdigen Sozialchauvinismus über den Irakkrieg, zum Beispiel mit einer Erklärung zum volksfrontlerischen Europäischen Sozialforum, unterzeichnet von den internationalen Organisationen von Linksruck und Gruppe Arbeitermacht: Wir fordern alle Staats- und Regierungschefs Europas auf: Sprechen Sie sich öffentlich gegen diesen Krieg aus, unabhängig davon, ob die UNO ihn am Ende billigt oder nicht! Fordern sie von George W. Bush, auf seine Kriegspläne zu verzichten (Liberazione, 13. September 2002).
Diese Linken teilen dieselbe reformistische und bankrotte Perspektive, den kapitalistischen Staat unter Druck zu setzen, den Interessen der Arbeiter zu dienen, und verstärken stets bürgerlich-demokratische Illusionen, selbst in den seltenen Fällen, wo sie tatsächlich auf die rassistischen Angriffe der Regierung reagieren. Deswegen schließt die reformistisch-stalinistische MLPD einen Artikel in der Roten Fahne (2. März) über den Kurnaz-Fall mit dem Aufruf: Der Rücktritt von Frank Walter Steinmeier mit seiner undemokratischen Gesinnung ist überfällig. Das wäre auch ein wichtiges Signal im Kampf um den Erhalt und die Erweiterung der bürgerlich-demokratischen Rechte. Was für eine nette Empfehlung für ein demokratisches Facelifting für diesen bürgerlichen Staat! Der Führer der russischen Bolschewiki W. I. Lenin erklärte, dass der Kern des Staates, mit seinen besonderen Einheiten organisierter Gewalt Polizei, Gerichte, stehende Armee und Gefängnisse der Apparat einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen ist. Der Rücktritt eines bürgerlichen Ministers oder bürgerlich-demokratische Reformen können daran nichts fundamental ändern. Nur die revolutionäre Überwindung der Bourgeoisie und die Zerstörung ihrer Staatsmaschinerie kann es. Charakteristischerweise fördern sie in demselben Artikel den widerlichsten antikommunistischen Mist, indem sie sich beschweren, dass es weder unter dem Hitler-Faschismus noch durch den DDR-Staatssicherheitsdienst Vergleichbares zu dem heutigen Umfang der Überwachung gab! Die DDR war, obwohl seit ihrer Gründung bürokratisch deformiert durch eine parasitäre, brüchige und widersprüchliche stalinistische herrschende Kaste, ein deformierter Arbeiterstaat, gebaut auf Grundlage der Niederschlagung des Nazi-Regimes und der anschließenden Enteignung der Bourgeoisie. Das ständige Wiederkäuen der Anti-Stasi/Anti-DDR-Hetze durch die MLPD dient der Abdeckung des Klassencharakters des heutigen kapitalistischen Staates. So demonstrieren sie, wie sie trotz ihres endlosen Blablas über das erwachende Klassenbewusstsein auf breiter Front tatsächlich Klassenbewusstsein absenken und der Bourgeoisie helfen, die Arbeiterklasse über die Heiligkeit des bürgerlichen Staates zu indoktrinieren. Um die Arbeiterklasse in einen kompromisslosen Kampf gerade gegen diesen Staat zu führen, ist eine revolutionäre Partei wie Lenins und Trotzkis Bolschewiki nötig. Dafür ist es notwendig, die Avantgarde der Arbeiterklasse von reformistischen Illusionen zu brechen. Wir Spartakisten kämpfen für die Schmiedung dieser Partei, um dem System ein Ende zu setzen, das so eine verabscheuungswürdige Missachtung für menschliches Leben zeigt, wie bei Murat Kurnaz und unzähligen weiteren Opfern des Kriegs gegen Terror.
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