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Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 24

Sommer 2004

Kampagne in den USA gegen Immigranten, Frauen, Sex

US/UN-Kreuzzug gegen „Sexhandel“

ÜBERSETZT AUS SPARTACIST, ENGLISCHE AUSGABE NR. 58, FRÜHJAHR 2004

Am Neujahrstag huldigte US-Außenminister Colin Powell dem amerikanischen Imperialismus, indem er sich selbst und seinem Chef George W. Bush auf die Schulter klopfte: „2003 haben wir durch Präsident Bushs Programm zur Bekämpfung des Menschenhandels Tausende aus der Unterdrückung befreit... Wir haben Leben gerettet, Sklaven befreit und werden 2004 noch mehr tun“ (New York Times, 1. Januar 2004). Laut dem Verfasser des Trafficking Victims Protection Act [Gesetz zum Schutz der Opfer von Menschenhandel], dem Kongressabgeordneten Christopher H. Smith, haben die USA ihren Kreuzzug gegen Menschenhandel, „insbesondere Sexsklaverei“, wirklich eskaliert. Im imperialistischen Jargon der USA stehen Worte wie „Rettung“ und „Freiheit“ für verschärfte staatliche Unterdrückung und blutige Militäraktionen. Genau wie „Befreiung“ die Bezeichnung Washingtons für die koloniale Vergewaltigung und Besetzung des Irak war, so stellt das Versprechen „mehr zu tun“ eine Drohung dar. In diesem Falle bedeutet „Sklavenbefreiung“ die Entfesselung von Bullen und Justiz in einem Mehrfachangriff auf Immigranten, Frauen und Sex.

Regierungsquellen zufolge werden jedes Jahr Tausende Frauen und Kinder von kriminellen Banden genötigt, verschleppt, über die Grenzen geschmuggelt und zur Prostitution gezwungen. Das „Amt zur Überwachung und Bekämpfung von Menschenhandel“ des US-Außenministeriums, geleitet von dem ehemaligen republikanischen Kongressabgeordneten John R. Miller, stellt auf seine Website Berichte über Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch, Prügel und erzwungene Prostitution. Die Medien peitschen die Sache mit dramatischen Überschriften, Bildern und grässlichen Geschichten auf.

Was die Regierung „moderne Sklaverei“ nennt, ist meist Schuldknechtschaft, bei der die Arbeiter gezwungen werden, erdrückende Geldraten zu zahlen, um einen Job zu er- und behalten. Schuldknechtschaft nimmt auf der ganzen Welt zu. Wenn es um illegale Aktivitäten geht, sind Statistiken nie zuverlässig, außerdem spiegeln sie die politische Haltung der Leute wider, die die Umfrage machen. Eine unbekannte Anzahl von illegalen Immigrantinnen, die als Prostituierte arbeiten, schulden den Schmugglern, die sie über die Grenze gebracht oder in eine kriminelle Organisation gelockt haben, tatsächlich enorme Geldsummen. Es ist allgemein bekannt, dass die Arbeiter in Schuldknechtschaft hauptsächlich illegale Landarbeiter ohne feste Anstellung, Dienstmädchen, Kindermädchen oder extrem ausgebeutete Arbeiter in kleinen Betrieben in der Dritten Welt sind.

Entführungen, Schuldknechtschaft, sexuelle Übergriffe und Prügel sind in jeder Hinsicht schreckliche Verbrechen. Aber es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen solchem Zwang und dem grundlegenden beiderseitigen Einverständnis zwischen einer Prostituierten und ihrem Kunden, Sex gegen Geld zu tauschen. Die Kampagne gegen „Sexsklaverei“ zielt auch darauf ab, „Menschenhandel“, „Sexsklaverei“ und Prostitution in einen Topf zu werfen, um jeden Tausch von Sex gegen Geld sowie jeden illegalen Grenzübertritt als Schuldknechtschaft zu bezeichnen. Damit können alle Immigrantinnen zu „Sexsklaven“ abgestempelt werden.

Der Taschenspielertrick der Bush-Regierung besteht darin, Sünde und Sex in „Menschenrechts“-Terminologie umzumünzen, um der religiösen Rechten zu gefallen, der Sache aber gleichzeitig einen moderneren Anstrich zu geben. Letzten September tönte Bush in einer Rede über diese Frage vor den Vereinten Nationen: „Fast zwei Jahrhunderte nach der Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und mehr als ein Jahrhundert nachdem die Sklaverei in ihren letzten Hochburgen offiziell beendet wurde, darf ein Aufblühen des Menschenhandels in unserer Zeit, zu welchem Zweck auch immer, nicht zugelassen werden“ (www.usembassy.de/us-botschaft-cgi). Das von einem Mann, dessen Generalstaatsanwalt ein offener Bewunderer der amerikanischen Sklavenhalter-Konföderation ist! So genannte Medienexperten wie New-York-Times-Kolumnist Nicholas Kristof haben trotzdem den „Menschenrechts“imperialismus von Bush bejubelt. Kristof, ein Liberaler und Anhänger der Demokratischen Partei, beschreibt in einer Kolumne seine Erfahrungen mit „Sexsklavinnen“ in Kampuchea — er kaufte sie, um „sie zu befreien“ (ohne viel Erfolg; eine kehrte ins Bordell zurück und weigerte sich, es wieder zu verlassen). Er schließt mit einer Lobpreisung der gegenwärtigen rechten Regierung: „Präsident Bushs Frauenpolitik ist oft herzlos gewesen — zum Beispiel als er das Geld für Geburtshilfe-Programme in Afrika wegen ideologischer Auseinandersetzungen mit Sponsorengruppen strich. Aber beim Menschenhandel war diese Regierung wegweisend“ (New York Times, 31. Januar 2004).

Die beiden langjährigen Partner der US-Regierung bei der Antisex-Hexenjagd für „Familienwerte“ — die christlichen Fundamentalisten und das bürgerliche feministische Establishment — marschieren im Gleichschritt beim Kreuzzug gegen den „Sexhandel“. Der Taschenspielertrick, jegliche Prostitution in „Sexsklaverei“ zu verwandeln, stammt von rechtsgerichteten feministischen Organisationen wie der Koalition gegen Frauenhandel (CATW), die Prostitution als „Gruppenvergewaltigung“ definiert. Die CATW war maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung des US-„Gesetzes zum Schutz der Opfer von Menschenhandel“ (2000) und des UN-„Protokolls zur Verhinderung, Abschaffung und Bestrafung von Menschenhandel, insbesondere dem Frauen- und Kinderhandel“ (2001), als Ergänzung zum „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“. Diese Dokumente schafften die Basis für eine internationale polizeiliche Hexenjagd gegen illegale Immigranten als „im Sexgewerbe Tätige“, was Frauen zwangsläufig am schwersten treffen wird.

Die frauenfeindliche Reaktion geht mittlerweile über polizeiliche Unterdrückung hinaus. Im Januar 2003 hat die Bush-Regierung durch USAID (US-Agentur für internationale Entwicklung) neue Richtlinien bekannt gegeben, durch die Gelder für internationale Projekte gestrichen werden, welche angeblich die Entkriminalisierung der Prostitution sowie die „Legalisierung von Drogen, den Gebrauch eingespritzter Drogen und Abtreibung“ unterstützen. Diese Politik hat weit reichende Auswirkungen, besonders in den verarmten Ländern der Dritten Welt, wo Frauen unter rückständigen Bedingungen leben und unterdrückt werden durch reaktionäre religiöse Ideologie und Traditionen, die sie unter das Familienjoch zwingen. Anna-Louise Crago, Gründungsmitglied der politischen Aktionsgruppe der Sexarbeiter Montreals, sagte dazu:

„Schon 2001 veröffentlichten der Bevölkerungsrat und die Asien-Stiftung eine gemeinsame Studie, die über Nepal — ein Land, dem USAID den Großteil des Geldes für die Kampagne gegen Menschenhandel liefert — sagt: ,Im Allgemeinen wird der illegale Handel dadurch kontrolliert, dass man die Abwanderung von Frauen einschränkt.‘ NGOs [nichtstaatliche Organisationen] würden furchterregende Nachrichten verbreiten, um Frauen davor abzuschrecken, ihre Dörfer zu verlassen; Frauen und Mädchen berichteten auch, dass ihnen der Grenzübertritt verwehrt wurde trotz ihrer vehementen Proteste, dass sie freiwillig gingen.“

—Alternet, „Unholy Alliance“ [Unheilige Allianz], 21. Mai 2003

Eine Revision des „Gesetzes zum Schutz der Opfer von Menschenhandel“ (TVPRA), verabschiedet vom US-Kongress im Dezember 2003, enthält zwei zentrale operative Verordnungen: mehr Geld für „Ausbildung der Grenzkontrolleure und -beamten zur Identifizierung von Opfern illegalen Handels“, das heißt die Verstärkung der Grenzpolizei, und strengere Bestimmungen für US-Sanktionen gegen Länder, die nach Meinung des Außenministeriums seine Auflagen gegen den Menschenhandel nicht erfüllen. „Opfern“ des Menschenhandels stehen Sondervisa zur Verfügung, aber erst dann, wenn sie mit dem Staatsanwalt zusammenarbeiten; andernfalls werden sie selber als Prostituierte und illegale Einwanderer angeklagt. Außerdem verfügt das TVPRA, dass „Menschenhandel“ als strafbare Handlung gilt gemäß den Bestimmungen von RICO, dem [„Antikonspirations“-] Gesetz, das für falsche Anklagen eingesetzt wird und es der Regierung erlaubt, alle Vermögenswerte von Verdächtigen zu beschlagnahmen, damit sie sich eine Verteidigung nicht leisten können. Das TVPRA bestimmt auch: „Keine Gelder [werden] bereitgestellt ... um Legalisierung oder Betreibung von Prostitution zu fördern, zu unterstützen oder zu befürworten.“

Die US-Regierung scheint jedoch nicht einmal ihre eigene Hysterie allzu ernst zu nehmen. Während Bush vorhat, 1,5 Milliarden Dollar zur „Förderung der Ehe“ auszugeben, hat der Kongress von den jährlich 100 Millionen Dollar, die im Budget gegen den Menschenhandel zur Verfügung stehen, nur 20 Millionen Dollar pro Jahr für „Verhütung“ sowie für „Schutz und Unterstützung“ der „Opfer“ gebilligt. Das unterstreicht ebenfalls die repressive ideologische Absicht des Gesetzes, nämlich die heilige Dreieinigkeit der Unterdrückung im Kapitalismus aufzumöbeln: den kapitalistischen Staat, die organisierte Religion und die Institution der Familie, Grundstein der Unterdrückung der Frau in der Klassengesellschaft.

Imperialistischer Ansturm trampelt auf Frauen herum

Dieser repressive Kreuzzug wird von genau den Kräften unterstützt, die verantwortlich sind für die Zerstörung der Sowjetunion und der ehemaligen Arbeiterstaaten in Osteuropa, wo trotz der Deformierung durch die stalinistischen Bürokratien die Planwirtschaft dazu führte, dass grundlegende Lebensnotwendigkeiten für alle verfügbar waren. Das beispiellose Ausmaß, das die legale und illegale Immigration weltweit angenommen hat, ist größtenteils eine direkte Folge der kapitalistischen Konterrevolution in diesen Ländern. Nicht nur, dass diese verwüstet wurden, auch die „Dritte Welt“ ist immer schutzloser den Verheerungen des Weltimperialismus unterworfen. Die Gelder, die die Imperialisten vielen Ländern im Kalten Krieg gegen die UdSSR als eine Art Beschwichtigung zur Verfügung stellten, sind nunmehr versiegt. Die Zuspitzung von Ausbeutung, Armut und Krieg führt dazu, dass mehr als jemals zuvor Menschen aus- oder einwandern.

In Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion wurden die Frauen durch die kapitalistische Konterrevolution um Jahrzehnte zurückgeworfen. Waren sie früher hoch ausgebildet mit einer der höchsten Beschäftigungsraten der Welt, sind sie jetzt mit massiver und chronischer Arbeitslosigkeit konfrontiert und die Prostitution breitet sich rasend schnell aus. Im nachsowjetischen Russland ist zwischen 1991 und 1997 das Bruttosozialprodukt um 80 Prozent gefallen; nach offiziellen Statistiken fiel die Kapitalinvestition um mehr als 90 Prozent. Schon Mitte der 90er-Jahre lebten 40 Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, 36 Prozent lebten nur knapp darüber. Millionen Menschen hungern.

Zu den Gräueln, die in diesem reaktionären sozialen und wirtschaftlichen Klima weltweit gedeihen, gehören die Zwangsheirat, der Kauf und Verkauf von Kindern, erzwungene Geschlechtertrennung und Schleier von Kopf bis Fuß, weibliche Genitalverstümmelungen und „Ehrenmorde“. Erzwungene Prostitution, die seit Jahrtausenden existiert, ist wahrscheinlich auf dem Vormarsch. Aber die repressiven Maßnahmen, die im Namen der „Menschenrechte“ und des „Frauenschutzes“ von kapitalistischen Staaten eingeleitet worden sind, können mit ihrer staatlichen Verfolgung dieses Elend nur erhöhen. Rassistische Anti-Einwanderungsgesetze garantieren, dass Immigranten schrecklich ausgebeutet werden, ihnen Sozialbeihilfe verweigert wird, ihnen die Ausbildung unmöglich gemacht wird und dass sie als Opfer von Verbrechen keine gerichtlichen Schritte unternehmen können.

Aus dem wirtschaftlich verwüsteten Osteuropa sind am 1.Mai zehn Länder der EU beigetreten, die angeblich „offene“ Grenzen hat. Die Regierungen Westeuropas reagierten mit einer immigrantenfeindlichen Panik. Britische Boulevardblätter behaupteten, dass 1,6 Millionen Roma aus Osteuropa angeblich auf die Öffnung der britischen Grenzen warteten. Die allgemeine Angst vor einer massiven Einwanderung aus Osteuropa war so weit verbreitet, dass sogar der Präsident des Europäischen Parlaments sie als „übertrieben“ verurteilt hat (Coventry Evening Telegraph, 19. Februar 2004). Alle EU-Regierungen haben besondere Maßnahmen beschlossen, die die Menschen aus den zehn Beitrittsländern zu Bürgern zweiter Klasse machen, indem sie ihre Rechte auf Beihilfen oder Arbeit beschneiden oder sogar beides. Diese rassistischen Gesetze treiben Immigranten in die Hände von Grenzschmugglern, da dies oft die einzige Möglichkeit ist, in die USA oder nach Europa zu gelangen.

Zwar sind die Sittengesetze in Europa im Allgemeinen lockerer als in den USA, aber jedes Land hat irgendwelche gesetzlichen Beschränkungen, Vorschriften oder Verbote, die polizeiliche Schikanen vorsehen. Auf dem europäischen Festland sind die meisten Prostituierten inzwischen Immigrantinnen. Verglichen mit den jährlich zehntausenden Abschiebungen aus der „Festung Europa“ ist die Zahl der abgeschobenen Prostituierten winzig klein, aber die Sittengesetze geben der Polizei eine zusätzliche Waffe in die Hand. Sie dienen zur Rechtfertigung neuer Gesetze, die den Immigrantinnen, die in ihren Heimatländern verfolgt werden, das Asylrecht verweigern.

In Frankreich kommen 40 Prozent der Prostituierten aus dem Balkan und 37 Prozent sind afrikanischer Herkunft. Nach Schätzungen sind in Italien 90 Prozent der Prostituierten auf dem Straßenstrich Immigrantinnen, die keine Aufenthaltserlaubnis haben. Im Jahr 2002 inszenierte Premierminister Silvio Berlusconi in Italien landesweit eine verschärfte Hexenjagd, die er als Kampf zwischen Gut und Böse bezeichnete. Für den italienischen Staat sind der Vatikan und die Carabinieri die großen Retter der „Sexsklaven“. Gleichzeitig sehen die italienischen Behörden zu, wenn Frauen und Kinder aus Albanien und anderen Ländern ertrinken beim Versuch, die Ostküste der italienischen Halbinsel zu erreichen.

Trotz zunehmender polizeilicher Verfolgung der Prostitution sind bis jetzt nicht viele handfeste Beweise einer weit verbreiteten „Sexsklaverei“ aufgetaucht. Am 11. Oktober 2003 berichtete Agence France-Presse über eine landesweite Razzia in der Tschechischen Republik, die der UNO zufolge der Dreh- und Angelpunkt für den Sexhandel sein soll. Bei der Suche nach Frauen, die „gezwungen wurden, als Prostituierte zu arbeiten“, stürmten im ganzen Land mehr als 4500 Polizisten 435 Erotik-Clubs und andere Räumlichkeiten, im Rahmen eines verschärften Vorgehens gegen den „Handel mit weißen Sklaven und erzwungener Prostitution“. Von den 96 Personen, die für Verhöre festgenommen wurden, wurden 17 der Zuhälterei beschuldigt und 16 des „Handels mit weißen Sklaven“. Aber unter den 1391 nicht-tschechischen Prostituierten, die während dieser Razzia verhört wurden, fand die Polizei nur drei, die darum baten, in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt zu werden.

Europäische Prostituierte kämpfen schon lange gegen Polizeischikane und Missbrauch durch Kriminelle. In Spanien, wo die meisten Prostituierten aus Südamerika, Afrika und Osteuropa stammen, hat das Kollektiv zur Verteidigung der Rechte der Prostituierten eine Demonstration in Madrid organisiert, um Arbeitsrechte zu verlangen, wie zum Beispiel arbeitgeberfinanzierte Sozialversicherungsbeiträge. Eine Sprecherin des Kollektivs erklärte, dies würde ihnen helfen beim „Versuch, die riesigen Schulden an die Mafiosi zurückzuzahlen, die sie illegal ins Land geschafft hatten“ (New York Times, 19. Januar 2004).

USA/UNO/NATO raus aus dem Balkan, jetzt!

Diese Hysterie hat auch die böse Konsequenz, dass die tatsächlichen Verbrechen des erzwungenen Sexhandels und der Prostitution im Verborgenen bleiben. Am schlimmsten ist die Situation wohl auf dem Balkan, wo die Zerstörungen durch die kapitalistische Konterrevolution noch massiv verstärkt wurden durch den blutigen imperialistischen Krieg, den USA und NATO 1999 gegen Serbien führten. Immer wieder bricht mörderischer ethnischer Hass aus, der angeheizt wurde durch das Auseinanderbrechen des ehemaligen multinationalen Arbeiterstaats Jugoslawien entlang nationaler Linien. Flüchtlinge, die vor dem Krieg und vor den ethnischen Feindseligkeiten fliehen, versuchen verzweifelt, aus der Gegend zu entkommen. Gleichzeitig stellt die militärische Besatzung durch tausende US/UN-Truppen einen Hort zahlender Kunden für die Prostitution dar.

Das Zusammentreffen dieser Faktoren macht den Balkan zum Hauptschauplatz des Menschenhandels in Europa. Menschenhändler verschleppen Frauen aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern in Bordelle, gleichzeitig versuchen Leute aus Albanien und anderen Ländern, die Großstädte Westeuropas zu erreichen. Die US-Regierung behauptet, dass der „Sexsklaven“handel von einem kriminellen Netz von Menschenhändlern betrieben wird, aber auf dem Balkan hängt der Menschenhandel direkt mit dem US/UN/NATO-Personal zusammen. In einer Erklärung vor dem Ausschuss des US-Kongresses für internationale Beziehungen gab David Lamb — ein Ermittler über Menschenrechte auf dem Balkan, der dort die Zwangsprostitution untersuchte — der geheimen Verwicklung und Verschleierung der UNO die Schuld: „Der Sexsklavenhandel in Bosnien existiert hauptsächlich wegen der UNO-Friedensmission... Frauenhandel zum Zweck der Zwangsprostitution und die Prostitution selbst werden von den Bossen des organisierten Verbrechens kontrolliert, von denen die meisten als aggressive und rücksichtslose Militär- oder Miliz-Führer während des Kriegs an die Macht kamen.“ Zu den Schwierigkeiten, auf die er bei seinen Nachforschungen über diese Missbräuche stieß, sagte er: „Wann immer während dieser Untersuchungen die Verwicklung von UNO-Personal aufkam, hörte die Unterstützung des UNO-Hauptquartiers auf... Meine Ermittler und ich wurden Zeugen eines erstaunlichen Vertuschungsversuchs, der anscheinend bis zu den höchsten Ebenen des UNO-Hauptquartiers reichte.“

Die Presse berichtet schon lange über die Details der Verwicklung von UNO-Personal wie auch von Personal des im Auftrag des Pentagon-Militärs tätigen Unternehmens DynCorp beim Betreiben von Sexkartellen auf dem Balkan; Frauen wurden aus Osteuropa nach Bosnien gebracht, wo man ihre Ausweise konfiszierte („America‘s For-Profit Secret Army“ [Amerikas geheime Profit-Armee], New York Times, 13. Oktober 2002; „Bosnia: UN Police Accused of Involvement in Prostitution“ [Bosnien: UNO-Polizei der Verwicklung in Prostitution beschuldigt], AP, 19. Juni 2001). Was die anderen NATO-Kräfte betrifft, so enthüllte der Junge-Welt-Artikel „Der Kinderpuff von Tetovo: Vertuschter Sexskandal bei Soldaten der Bundeswehr auf dem Balkan“ (1. März 2001) eine Diskussion innerhalb der SPD/Grünen-Koalition darüber, ob nicht die Einrichtung von „Soldatenbordellen“, betrieben von der Armee, möglich sei. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer, soll die Besorgnis der Regierung um „die psychische Befindlichkeit und damit Einsatzfähigkeit der deutschen Krisenreaktionskräfte im Ausland“ ausgedrückt haben. Deshalb schlug sie die Errichtung von Bordellen mit deutschen Mädchen vor, um die Truppen vor den angeblich kranken und minderjährigen Frauen aus dem Balkan zu schützen. Der Vorschlag erinnerte nur allzu sehr an die staatlich kontrollierten Bordelle, die von der Wehrmacht als Teil des Konzentrationslagersystems im Nazi-besetzten Europa verwaltet wurden.

Die USA ereifern sich über „Sexsklaverei“, obwohl die schlimmsten Fälle von erzwungener Prostitution gerade in US/UN-Militärbesatzungszonen stattfinden. Als 1993 der Demokrat Bill Clinton mitten im allseitigen interethnischen Gemetzel mit einer militärischen Intervention gegen Serbien drohte, stimmten proimperialistische Feministinnen mit am lautesten in das Kriegsgeschrei ein: Sie nutzten die Berichte von Massenvergewaltigungen und sexueller Gewalt in Bosnien aus, um nach der brutalen amerikanischen Militärmacht zu rufen, damit diese die bosnisch-muslimischen Frauen „rettet“. Die Nationale Organisation der Frauen forderte sogar den Internationalen Währungsfond zu Sanktionen auf, dieses verhasste internationale Kartell der Bankiers, das seit Jahrzehnten Hunderte Millionen Arme in den Ländern der Dritten Welt brutaler Hungerpolitik aussetzt.

Der Krieg ist immer auch die Mutter der Prostitution, die Frage ist bloß das Ausmaß der Brutalität. Vom amerikanischen Bürgerkriegsgeneral Joe Hooker, von dem allgemein angenommen wird, dass er das amerikanische Englisch um eine neue Bezeichnung für das älteste Gewerbe der Welt bereichert hat [„hooker“ = abwertend für Prostituierte], bis zu den Erholungsheimen in Thailand, die für die vom blutigen imperialistischen Krieg gegen Vietnam beurlaubten US-Soldaten eingerichtet wurden, ist die Prostitution unvermeidlich im Schleppzug der Armee zu finden.

Im Rückblick auf einen früheren imperialistischen Krieg schrieb der Autor Lujo Bassermann:

„Als Königin Victorias stolzes Wort, die Existenz von Prostituierten sei eine Majestätsbeleidigung, in Berlin bekannt wurde, sagte das Kontrollmädchen Christine Leichtfuss: ,Wat mir meene Unzucht lieber ist als der Victoria ihre Verantwortung für den Burenkrieg?‘“

Das älteste Gewerbe. Eine Kulturgeschichte (Ullstein-Verlag, Frankfurt/M., 1968)

Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten!

Die herrschende Klasse möchte die Immigranten nicht aus dem Arbeitsmarkt entfernen, sondern zielt darauf ab, von der Immigration auf jede erdenkliche Art und Weise zu profitieren. Zum Beispiel dienen in den USA die Immigranten aus Mexiko als Teil der Arbeiter-Reservearmee; sie werden insbesondere in der Landwirtschaft in Kalifornien gebraucht, können aber, wenn der wirtschaftliche Bedarf nachlässt, schnell abgeschoben werden. Immigranten verrichten auch besonders schwere und unterbezahlte Arbeit, die die legal in den USA Arbeitenden nicht tun, weil eine solche Arbeit nur einen Hungerlohn bringt. Wie verzweifelt oft ihre Lage ist, zeigt der Film Kleine schmutzige Tricks: Illegale Immigranten verkaufen ihre Nieren als Gegenwert für einen Pass, und junge Frauen müssen schleimigen Bossen einen blasen, damit sie in einer elenden Klitsche ihren Job behalten können. Viele Immigranten schicken einen großen, oft den größten Teil ihres Einkommens nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen. Die Hälfte der 120 Millionen legalen und illegalen Migranten sind Frauen, die überwiegend als Kindermädchen, Dienstmädchen oder sonstige Hausangestellte arbeiten und manchmal auch im Sexgeschäft.

In Global Woman: Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy [Die globale Frau: Kindermädchen, Dienstmädchen und Sexarbeiterinnen in der New Economy], herausgegeben von Barbara Ehrenreich und Arlie Russell Hochschild (Henry Holt, New York, 2002), wird in der Einleitung ein Regierungsprogramm in Sri Lanka beschrieben, das Frauen dazu ermuntert, auszuwandern, sich eine Arbeit als Hausangestellte zu suchen und ihre eigenen Kinder zu Hause bei Verwandten unterzubringen. Ein Autor berichtet, dass 34 bis 54 Prozent der philippinischen Bevölkerung von Geldsendungen emigrierter Arbeiter abhängt, deren Überweisungen die größte Quelle ausländischer Währung in der Wirtschaft darstellen — 1999 waren es fast 7 Milliarden Dollar. Zwei Drittel aller philippinischen emigrierten Arbeiter sind Frauen.

Bush hat zwar die Prostitution zu einem „besonderen Übel“ erklärt, aber für viele Frauen kann die Prostitution doch ein besserer Job sein als die Arbeit in Schuldknechtschaft auf den heimatlichen Feldern oder als mörderische Fabrikarbeit oder die anderen grässlichen Aussichten für „illegale“ Immigranten im Ausland. Millionen eingewanderte Frauen säubern Toiletten und Fußböden, machen Betten und wechseln Nachttöpfe, füttern Babys und Alte und machen in den schrecklichsten Ausbeutungsbetrieben die niedrigsten, verachtetsten Jobs, während sie gleichzeitig rassistische und frauenfeindliche Misshandlungen erleiden. Hungerlöhne, das Fehlen von Sozialleistungen, Überstunden, Prügel und sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung.

Viele der brutalst ausgebeuteten Arbeiterinnen auf dem amerikanischen Kontinent arbeiten in den Maquiladoras, den „Freihandels“zonen im Grenzgebiet Mexikos, die für die imperialistischen Unternehmen Quelle riesiger Profite sind. Dort leiden die Frauen — viele sind erst 16 Jahre alt — unter giftigen Chemikalien, Schmerzen und Missbildungen der Finger, die von den sich immer wiederholenden Handgriffen an den Fließbändern verursacht werden. Viele müssen sich nackt ausziehen und erniedrigende Leibesvisitationen über sich ergehen lassen; einige mussten, um eingestellt zu werden, Beweise vorlegen, dass sie nicht schwanger sind. Gegen die fortgesetzte „Freihandels“vergewaltigung Mexikos durch die US-Kapitalisten ist gemeinsamer Klassenkampf der Arbeiter auf beiden Seiten der Grenze dringend notwendig.

Prostitution: Was bedeutet das denn?

Während die meisten Leute behaupten würden, dass sie wissen, was damit gemeint ist, hängt die Definition der Prostitution vom Standpunkt des Befragten ab. Die angesehenen Sexualwissenschaftler William H. Masters und Virginia E. Johnson erklären: „Es ist schwer, Prostitution genau zu definieren, da Sexualität schon immer dazu benutzt wurde, um in den Besitz von wünschenswert erscheinenden Dingen zu gelangen, ob es sich dabei um Nahrung, Geld, Wertgegenstände oder um Aufstieg und Macht handelt“ (Liebe und Sexualität, 1987).

Die Stellung einer Prostituierten hängt von der allgemeinen Stellung der Frau in der Gesellschaft ab, die an sich ein Maßstab für den Fortschritt einer Gesellschaft ist. Daher sind die Verhältnisse, unter denen eine Prostituierte lebt, je nach Zeit, Ort und Klasse äußerst verschieden. In der industrialisierten Welt, in der Frauen besseren Zugang zu Bildung und Arbeit haben, gehören die Prostituierten meist zu den Ärmsten und Verzweifeltsten. Die Statistiken schwanken stark, aber ein paar Trends sind erkennbar: Zumindest in den USA hat eine große Anzahl von Prostituierten keine Berufsausbildung und keine weiterführende Schule besucht. Angesichts des grausamen Rassismus der amerikanischen Gesellschaft überrascht es nicht, dass schwarze Frauen überproportional unter den Prostituierten vertreten sind — besonders unter denen, die verhaftet und eingesperrt werden. Laut dem Sex Workers Outreach Project [Beratungsprojekt für Sexarbeiter] sind in San Francisco 57 Prozent der Prostituierten schwarz, während in der ganzen Stadt nur acht Prozent der Bevölkerung Schwarze sind. Die meisten Quellen bestätigen einen auffälligen Sachverhalt: Ausgerissene Jugendliche, die aus elenden Familienverhältnissen weglaufen und tatsächlich nur wenige andere Chancen haben, werden oft zu Prostituierten.

Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen dem luxuriösen und bequemen Leben einer Chefin von Hollywood-Callgirls wie Heidi Fleiss (die aber trotzdem eingesperrt wurde) und einer HIV-infizierten, drogenabhängigen Straßenprostituierten in einem verarmten Ghetto, ohne Perspektiven und ohne Ausweg. Trotzdem werden alle Prostituierten der allgemeinen sozialen Schmach des bürgerlichen Moralismus und der Heuchelei ausgesetzt, was sie zu leichten Opfern von Missbrauch, Prügel, Vergewaltigung und Diebstahl macht. Prostituierte bekommen die Wucht des Frauenhasses am stärksten zu spüren. In den 80er-Jahren zum Beispiel hat der „Green River Killer“ Gary Leon Ridgeway im Großraum Seattle, Washington, 48 Frauen umgebracht, von denen die meisten Straßenprostituierte waren; denn er dachte, dass er damit davonkommen würde.

In wirtschaftlich rückständigen Gesellschaften, wo die Stellung der Frau niedriger ist und ihre Chancen geringer sind, ist in gleichem Maße auch die Prostitution eine verlockendere Alternative zur Quasi-Knechtschaft in der Familie. Im antiken Japan zum Beispiel wurden nur die schönsten und gebildetsten Frauen Geishas.

Ein „Verbrechen ohne Opfer“

Weil Prostitution in der Regel illegal oder durch kapitalistische Gesetze stark reguliert ist, halten Marxisten sie für ein „Verbrechen ohne Opfer“, so wie die Einnahme von Drogen, Glücksspiele, Pornografie, homosexuellen Sex und „Unzucht mit Minderjährigen“. Solche Aktivitäten werden in den USA als Verbrechen bezeichnet, weil die bürgerliche christliche Moral sie als Sünde verurteilt. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse ist der Tausch von Sex gegen Geld kein Verbrechen, weder von Seiten der Prostituierten noch des Freiers. Wir wissen zwar, dass Prostitution in den meisten Fällen mit Degradierung und Ausbeutung einhergeht, doch maßen wir uns kein moralisches Urteil darüber an, egal ob sie von einem gut bezahlten Callgirl ausgeübt wird oder von einer Frau, die durch eine kriminelle Bande bzw. durch die harte, gemeine, rassistische Realität des Kapitalismus zu diesem Gewerbe gezwungen wird.

Es gibt auch das Argument, dass Prostitution kein „Verbrechen ohne Opfer“ sei, da die Prostituierten selbst die Opfer seien. Der russische Revolutionär W.I. Lenin erklärte, warum sie zu Opfern gemacht werden: „Sie sind bedauernswerte doppelte Opfer der bürgerlichen Gesellschaft: erst ihrer verfluchten Eigentumsordnung und dann noch ihrer verfluchten moralischen Heuchelei“ (siehe Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin, Berlin [DDR], Dietz Verlag). Aber die Prostituierten sind nicht Opfer des eigentlichen Akts der Prostitution. Wie Masters und Johnson erklären: „Das Widerwärtige an weiblicher Prostitution ist nämlich nicht so sehr der geschlechtliche Akt an sich, sondern die Umstände, die mit Prostitution verknüpft sind: Ausbeutung durch kriminelle Organisationen oder Zuhälter, Weiterverbreitung von Geschlechtskrankheiten (neuerlich auch AIDS), Drogensucht, die körperliche Gefährdung durch ,verdrehte‘ oder aggressive Kunden und häufig die Unfähigkeit, etwas Geld für eventuelle künftige Notfälle zurückzulegen.“ Wir würden ergänzen, dass in vielen Gesellschaften das Stigma von „unmoralischem“ Sex (also alles Außereheliche) zu permanenter Ächtung und sogar Mord führen kann, wie der „Ehrenmord“ an Frauen, die „Schande“ über ihre Familie gebracht haben.

Allein die Kriminalisierung von Prostitution zwingt die Prostituierten in ein Lumpenmilieu, welches ihnen den Zugang zu Sozialleistungen verwehrt oder erschwert und wo sie verletzbarer gegenüber organisierter Kriminalität oder gegenüber den Launen ihres Zuhälters sind. Diese Kriminalisierung trägt auch zu polizeilicher Korruption und individueller Schikanierung bei. Wir lehnen alle Gesetze gegen „Verbrechen ohne Opfer“ ab und kämpfen für die Trennung von Kirche und Staat. Wir sind gegen jede Einmischung der Regierung in das private sexuelle Leben wie auch gegen jede Kriminalisierung sexueller Handlungen schlechthin, wie zum Beispiel die reaktionären „Mündigkeits“gesetze, die Teenagern ein Leben ohne Sex vorschreiben. Wir sind dafür, dass allein beiderseitige wirkliche Einwilligung, das heißt gegenseitiges Einverständnis und beiderseitige Zustimmung, bei allen sexuellen Handlungen bestimmend sein soll.

Unsere Forderung nach Abschaffung dieser Gesetze bedeutet trotzdem nicht, dass die sozialistische Bewegung diesen Gewohnheiten gegenüber gleichgültig sein sollte. Der Erholung dienende Drogen gehen nur die betreffenden Personen etwas an, weit verbreitete Drogenabhängigkeit und Alkoholismus allerdings schwächen die revolutionäre Energie der Arbeiterklasse und anderer Sektoren der Unterdrückten. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit unter den Armen, deren Ursache die soziale Unterdrückung ist, müssen durch die moralische Autorität der proletarischen sozialistischen Bewegung bekämpft werden und nicht durch Zwang seitens des Staates. Die Hexenjagd der Regierung gegen Drogen hat die Bahn frei gemacht für massiven Polizeiterror in den Ghettos und Barrios [arme Stadtviertel der spanischsprachigen Minderheiten] und zur Einkerkerung von vielen Hunderttausenden geführt.

Im Falle eingewanderter Prostituierter ist es ebenfalls notwendig, gegen rassistische Abschiebungen zu kämpfen und sich einzusetzen für volle Staatsbürgerrechte für alle, die im jeweiligen Land leben, und zwar unabhängig davon, wie sie ins Land gelangt sind. Hausangestellte und Prostituierte sind besonders verletzlich, da sie in den Häusern ihrer Dienstherren bzw. auf der Strasse isoliert sind, also von sozialer Produktion und der Arbeiterbewegung getrennt sind. Dennoch bilden eingewanderte Frauen einen wachsenden und zunehmend kämpferischen Teil der immigrierten amerikanischen Arbeiterklasse. Diesen Widerspruch hält Bread and Roses fest, ein Film von Ken Loach, die Geschichte eines gewerkschaftlichen Organisierungskampfes der Reinigungskräfte in den Bürogebäuden in Los Angeles, die oft keine Arbeitspapiere haben. Der Film handelt von eingewanderten Schwestern aus Lateinamerika: Die eine schläft mit ihrem Boss, damit ihre Schwester einen Job bekommt, und die andere führt die gewerkschaftliche Organisierungskampagne der Service Employees International Union [Dienstleistungsgewerkschaft], „Gerechtigkeit für Reinigungskräfte“. Weit davon entfernt, hilflose Opfer zu sein, werden eingewanderte Frauen eine machtvolle Rolle spielen als revolutionäre Kämpferinnen in der multirassischen, internationalistischen Partei der Arbeiterklasse, die wir Marxisten aufbauen wollen. Diese Partei wird auch gegen jegliche Unterdrückung der Frauen kämpfen als Teil ihrer Aufgabe, die Bedürfnisse der am meisten unterdrückten und entrechteten Opfer des Kapitalismus mit der sozialen Macht des Proletariats zu verbinden.

Eine unerlässliche Institution der kapitalistischen Gesellschaft

In seinem klassischen marxistischen Text über die Unterdrückung der Frau, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (Marx-Engels-Werke Band 21), sagt Friedrich Engels über den Status der Frauen im antiken Griechenland:

„Bei Euripides wird die Frau als oikurema, als ein Ding zur Hausbesorgung (das Wort ist Neutrum) bezeichnet, und außer dem Geschäft der Kinderzeugung war sie dem Athener nichts andres: die oberste Hausmagd. Der Mann hatte seine gymnastischen Übungen, seine öffentlichen Verhandlungen, wovon die Frau ausgeschlossen; er hatte außerdem oft noch Sklavinnen zu seiner Verfügung und zur Blütezeit Athens eine ausgedehnte und vom Staat wenigstens begünstigte Prostitution. Es war grade auf Grundlage dieser Prostitution, daß sich die einzigen griechischen Frauencharaktere entwickelten, die durch Geist und künstlerische Geschmacksbildung ebensosehr über das allgemeine Niveau der antiken Weiblichkeit hervorragen wie die Spartiatinnen durch den Charakter. Daß man aber erst Hetäre werden mußte, um Weib zu werden, das ist die strengste Verurteilung der athenischen Familie.“

In seinem Buch, das sich auf die damals verfügbare wissenschaftliche Information stützt, zeichnet Engels die Entwicklung der Institution der Familie nach, von den urkommunistischen Stämmen oder Clans bis hin zur Teilung der Gesellschaft in Klassen. In den alten Gesellschaften der Jäger und Sammler waren Mann und Frau gleichgestellt — die gegebene Arbeitsteilung, die auf der Rolle der Frau beruhte, Kinder zu gebären, zog also keine Unterordnung des Geschlechts nach sich. Da nur die Mutter des Kindes bekannt war, wurde das Verwandtschaftsverhältnis generell durch die weibliche Abstammung bestimmt. Aber mit der Herausbildung einer patriarchalischen besitzenden herrschenden Klasse war es notwendig, eine sichere Methode für die Vererbung von Eigentum und Macht zu haben, und das bedeutete die aufgezwungene Treue der Ehefrau, um die Vaterschaft der Kinder feststellen zu können. Der Staat entstand, um die Vorherrschaft der herrschenden Klasse durch Gewalt sicherzustellen. So entwickelte sich die monogame Familie, in der die Heirat die Unterwerfung der Frauen durch die Männer bedeutet, und das Mutterrecht wurde abgeschafft. Wie Engels sagte: Der „Sieg des Privateigentums über das ursprüngliche naturwüchsige Gemeineigentum“ brachte „die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“.

Engels kritisiert die bürgerlichen Ehebräuche zu seiner eigenen Zeit, wo die heiratsfähige Tochter aus der herrschenden Klasse auf dem Heiratsmarkt dem Höchstbietenden feilgeboten wird (Thema vieler europäischer Romane des neunzehnten Jahrhunderts). Er kommentiert:

„Diese Konvenienzehe schlägt in beiden Fällen oft genug um in krasseste Prostitution — manchmal beider Teile, weit gewöhnlicher der Frau, die sich von der gewöhnlichen Kurtisane nur dadurch unterscheidet, daß sie ihren Leib nicht als Lohnarbeiterin zur Stückarbeit vermietet, sondern ihn ein für allemal in die Sklaverei verkauft. Und von allen Konvenienzehen gilt Fouriers Wort: ,Wie in der Grammatik zwei Verneinungen eine Bejahung ausmachen, so gelten in der Heiratsmoral zwei Prostitutionen für eine Tugend.‘“

Es ist die Institution der Familie, die Geld in die sexuellen Beziehungen einführt. Ob es sich um die stundenweise Anheuerung einer Prostituierten oder die Anschaffung einer Ehefrau auf Lebenszeit handelt, die Familie und die Unterdrückung der Frau gründen sich immer auf das Privateigentum; im Grunde genommen sind es nur die religiösen Moralvorstellungen und die kapitalistischen Gesetze, die eine Ehefrau von einer Prostituierten unterscheiden. Es ist durch Statistiken nachweisbar, dass der Lebensstandard einer Frau nach der Scheidung absinkt. Genauso hängt in den USA ihre Krankenversicherung von einem Job oder der Ehe mit jemandem ab, der einen Job hat. Während Mitgift und Brautpreis in den westlichen Gesellschaften nicht mehr verbreitet sind, gibt es andere offensichtliche Beispiele für die Verflechtung von Ehe und Geld: Unterhaltszahlungen, Eheverträge und das Scheidungsgeschäft, Thema der versponnenen Film-Komödie Ein (Un)möglicher Härtefall.

In heutigen kapitalistischen Gesellschaften zielt die Institution der Familie unter anderem darauf ab, der Arbeiterklasse die Last des Aufziehens der nächsten Generation aufzubürden. Auf der Mutter lastet die häusliche Plackerei, die Betreuung und Ernährung der Kinder, Alten und Kranken. Die Kinder werden aufgezogen, damit sie die nächste Generation von Lohnarbeitern stellen, und es wird ihnen eingetrichtert, Autorität zu achten. Die Familie wirkt auch auf den Ehemann konservativ, von dem erwartet wird, dass er seine Familie unterstützt und damit zeigt, dass er „ein ganzer Mann“ ist. Dass das Leben eines Großteils der Bevölkerung — wenn nicht sogar der Mehrheit — ganz anders abläuft, trägt nur zur reaktionären Hysterie der Bourgeoisie über die „Familienwerte“ bei, mit der sie diese wackelige Institution abstützen will.

In der Familie „bringt es diese protestantische Monogamie im Durchschnitt der besten Fälle nur zur ehelichen Gemeinschaft einer bleiernen Langeweile, die man mit dem Namen Familienglück bezeichnet“, schreibt Engels, sie hat aber auch ein anderes Ergebnis: „Neben der Einzelehe und dem Hetärismus wurde der Ehebruch eine unvermeidliche gesellschaftliche Einrichtung — verpönt, hart bestraft, aber ununterdrückbar.“ Das Problem ist nur, dass sich unsere in Gruppen lebende Spezies von Säugetieren genauso wenig auf eine lebenslange monogame Ehe festlegen lässt, wie sich der Ausbruch eines Vulkans verhindern lässt. Trotz grausamer Bestrafungen wie der Steinigung (schon in der Bibel vorgeschrieben) setzen sich die Leute weiterhin über das angeordnete „korrekte“ sexuelle Benehmen hinweg, und zwar auf sehr einfallsreiche Art und Weise. Aus diesem Konflikt zwischen den Anforderungen der Klassengesellschaft und den intimsten persönlichen Empfindungen und Verlangen entstehen Entfremdung, abstoßende Heuchelei, Elend und Frustration; und auch Erzählungen über ekstatische Liebe, ein Thema, das künstlerisch verarbeitet wird von der Sage über Lancelot und Guinevere bis zu La Traviata und [dem Film] The Hours — Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Die Prostituierte spielt auf allen Ebenen eine Rolle. Auf der sexuellen Ebene kompensiert sie Komplexe und Ängste, die insbesondere Frauen davon abhalten, sich an Sex zu erfreuen. Viele Freier kommen zu Prostituierten für „ausgefallenen“ Sex — Sachen, die man vor der Ehefrau, den Nachbarn, der Familie und den Bekannten geheim halten möchte. Besonders homosexuelle männliche Prostitution ist ein erstklassiges Beispiel dafür. Die Sozialhistorikerin Hilary Evans schreibt in Harlots, Whores and Hookers: A History of Prostitution [Dirnen, Huren, und Nutten: Eine Geschichte der Prostitution] (Dorset Press, New York, 1979), dass es nötig sei, „anzuerkennen, was scharfsichtigen Bordellchefinnen und Prostituierten seit Jahren bekannt ist: dass, von der niedrigsten Ebene abgesehen, die Prostituierte viel mehr liefert als nur einen physischen Körper für ein physisches Bedürfnis“.

Der deutsche Marxist August Bebel schreibt in seinem klassischen Werk Die Frau und der Sozialismus: „Die Prostitution ist eine notwendige soziale Institution der bürgerlichen Welt, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche und Unternehmerschaft!“ Wir sind gegen die Kriminalisierung von Prostitution unter kapitalistischer Gesetzgebung, aber wir sehen Prostitution als einen Bestandteil der Frauenunterdrückung, analog der Institution der Familie. Im Sozialismus werden kommunale Kinderbetreuung und kommunale Hausarbeit die Rolle der Familie ersetzen und die Frau wird am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben vollständig teilhaben können. Schule und Ausbildung werden allen offen stehen, mit Stipendien für alle Studierenden, so dass die Jugendlichen nicht länger von ihren Familien abhängig sein müssen. Geburtenkontrolle und Abtreibung wird es kostenlos und auf Wunsch geben, bei kostenloser Gesundheitsversorgung von hoher Qualität für alle. Sex wird frei sein von den Schnüffeleien moralisierender Wichtigtuer und korrupter Bullen. Die Befreiung der Prostituierten lässt sich nicht trennen von der Befreiung der Frau im Allgemeinen; die Prostitution wird erst dann verschwinden, wenn die Institution der Familie ersetzt wird. Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Die US-Panik über „weiße Sklaverei“ und der Status der Frauen

In großer Aufmachung brachte das New York Times Magazine auf seiner Titelseite (25. Januar 2004) einen Artikel von Peter Landesman: „Sex Slaves on Main Street: The Girls Next Door“ [Sexsklavinnen auf der Hauptstraße: Die Mädchen von nebenan]. Der Artikel zeichnet ein sensationslüsternes Bild von scheinbar normalen Häusern, angeblich an jeder zweiten Straßenecke zu finden, in denen Frauen in „Sexsklaverei“ gehalten und „manchmal getötet“ werden. Es stellt sich aber heraus, dass Landesman die Tatsachen verdreht und einige Fakten weggelassen hat. Unter anderem erwähnt er nicht, dass sich eine seiner wichtigsten Quellen, die frühere „Sexsklavin“ Andrea, weder an ihren richtigen Namen noch an ihr Alter erinnern kann und gerade auf dem Weg der Genesung von einer multiplen Persönlichkeitsstörung ist. Die Kontroverse über den Artikel von Landesman endete mit einer formalen Anerkennung seitens der Times, dass Fehler begangen wurden. Das sensationslüsterne Titelblatt, das den Körper eines Schulmädchens mit Kniestrümpfen zeigte, war irreführend: Die Times gab zu, dass das Mädchen tatsächlich 19 Jahre alt ist und das Foto retouchiert worden war, um ihr Schulabzeichen zu löschen, was einen Bruch darstellt mit der offiziellen Politik der Times, Fotos unverändert zu lassen. Trotzdem behauptet die Times, dass die Fakten in Landesmans Artikel stimmen. Nun wird ein Film gedreht, der auf dem Artikel beruht. Regie führt Roland Emmerich, bekannt für Science-Fiction-Thriller wie Independence Day.

Landesmans maßlos aufgebauschte Sensationslust erinnert stark an die Hysterie über „weiße Sklaverei“, die vor 100 Jahren Europa und die Vereinigten Staaten überschwemmte. Als zunehmend Einwanderer aus nichtprotestantischen, weiter südlich und östlich gelegenen Ländern Europas die überwiegende Mehrheit bei der Immigration in die USA stellten, entstanden zutiefst rassistische und völkische Reaktionen, die von Hysterie über Sex, Religion und Kultur begleitet waren. Die offizielle Einwanderungspolitik der Regierung wird zwar weitgehend durch den Bedarf an Arbeitskräften in der Wirtschaft bestimmt, soziale und kulturelle Fragen spielen dennoch eine große Rolle.

Man sieht das am besten bei der chinesischen Immigration in den amerikanischen Westen und der darauf folgenden Reaktion, insbesondere in Bezug auf Frauen. Das Page-Gesetz von 1875 verbot die Einreise von chinesischen, japanischen und „mongolischen“ Vertragsarbeitern und von Frauen zum Zweck der Prostitution. Von 1882 bis 1943, als das Gesetz schließlich geändert wurde, hinderte dieses Einreiseverbot effektiv alle chinesischen Frauen daran, ihren Ehemännern nachzureisen, außer bei Händlerfamilien. So begann ein lebhaftes Geschäft mit Prostituierten aus China, wo man ein Mädchen kaufen, nach Übersee verschiffen und in ein Bordell stecken konnte — also wirkliche Sexsklaverei.

Es gab Fälle, wo chinesische Mädchen, deren verarmte chinesische Familien sie in die amerikanische Prostitution verkauft hatten, getreulich Hunderte von Dollars nach Hause sandten, um ihren Familien zu helfen. Diese Frauen versetzten Sozialarbeiter oft in Erstaunen, weil sie sich weigerten, ihre sexuelle Knechtschaft aufzugeben, um in christlichen Missionen zu leben. Prostituierte im wirklichen Leben haben immer kompliziertere Hoffnungen und Ängste als die mythischen Geschöpfe, deren Rettung sich die Hüter der Moral auf die Fahnen geschrieben haben.

Prostitution wurde etwa von 1900 bis 1920, in der so genannten „Progressive Era“, zu einer nationalen Besessenheit, als in einer Periode kapitalistischer Reformen die noch heute geltenden Sittengesetze geschaffen wurden. Reformpolitiker, die sich für fortschrittlich hielten, versuchten mit dem aufzuräumen, was sie als die schlimmsten Auswüchse kapitalistischer Ausbeutung in den Metropolen ansahen, von der fehlenden Gesundheitsversorgung bis zu Slum-Behausungen und gefährlichen Arbeitsbedingungen. Die Kampagne gegen die Prostitution, die der Progressivismus betrieb, wirft ein Licht auf einige seiner politischen Merkmale. Tatsächlich war dies eine Debatte über den Status der Frau in der Gesellschaft, dokumentiert in Intimate Matters: A History of Sexuality in America [Intimitäten: Eine Geschichte der Sexualität in Amerika] von John D‘Emilio und Estelle B. Freedman (Harper & Row, 1988).

Die neue Immigrationswelle nach 1900 stammte hauptsächlich aus Süd- und Osteuropa, zumeist waren es Italiener, polnische Juden und Russen. Gleichzeitig ging die Geburtenrate unter weißen Protestanten zurück und die Scheidungsraten schnellten hoch, was zum Aufschrei über „Rassenselbstmord“ führte. Dies war auch die Periode, als Frauen zum ersten Mal in großer Zahl auch außerhalb der Haushalts- und Dienstbotenarbeiten in den Arbeitsprozess eintraten. Von 1900 bis 1910 stieg die Zahl der Lohnarbeiterinnen von 5,3 auf 7,6 Millionen, eine Zunahme von 43 Prozent, konzentriert auf Büros, die Telefonindustrie und Fabrikarbeit. Gleichzeitig nahmen gewerkschaftliche Organisierung sowie auch politische Aktivitäten der Frauen zu — was bestimmt nicht den rassistischen, frauenfeindlichen Bürokraten der AFL-Zunftgewerkschaften zu verdanken war. In New York City zum Beispiel feierten Arbeiterinnen am 8. März 1908 an der Lower East Side zum ersten Mal den Tag, der zum Internationalen Frauentag werden sollte. 1909 traten in der Stadt Näherinnen von Hemdblusen in den Streik.

Dank dieses Zuwachses der Lohnarbeit entstand in den Städten eine Schicht von jungen, unabhängigen Arbeiterinnen. Es ist die klassische marxistische Auffassung, dass der Eintritt der Frau in die Lohnarbeiterschaft den ersten Schritt zur Befreiung der Frau vom Joch der Familie darstellt. Ein Bericht der Sittenkommission aus Massachusetts von 1914 schildert das folgendermaßen: „Die frühe wirtschaftliche Unabhängigkeit arbeitender Mädchen führt zu Versuchungen und bringt sie vom Pfade der Enthaltsamkeit ab. Es ist für junge Frauen zur Mode geworden, frei und ohne Begleitung herumzulaufen.“

Zu dieser Zeit war Prostitution formal nicht erlaubt, sie wurde aber im Allgemeinen in den meisten amerikanischen Städten toleriert. Jede Stadt hatte ihren Rotlichtbezirk, wo das Laster blühte: Storyville in New Orleans, Levee in Chicago, Barbary Coast in San Francisco. Natürlich nahm die Reformbewegung diese als erste aufs Korn. In den Rotlichtbezirken kam es auf den Straßen zu Märschen und Gebetsveranstaltungen der Kreuzzügler gegen das Laster.

1909 brach eine sensationslüsterne Panik aus, als das Chicagoer Magazin McClure‘s über eine „internationale jüdische Organisation der weißen Sklaverei“ schrieb. Diese Hysterie breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Es erschienen Artikel und Bücher mit anspielungsreichen Überschriften und reißerischen Bildern, die über eine angebliche Verschwörung zur Entführung von Frauen berichteten, die zur Prostitution gezwungen werden sollten. Dieser „weiße Sklavenhandel“ wurde als international organisiertes Syndikat geschildert, das, von Ausländern geführt, ausländische Prostituierte in die USA brächte und Tausende unschuldige amerikanische Jungfrauen in ein Leben der Sklaverei und Sünde ver- und entführte.

Dutzende Städte strengten Untersuchungen über Prostitution und „weiße Sklaverei“ an. Ein herausragendes Beispiel bietet der Bericht der Chicagoer Lasterkommission von 1911, „The Social Evil in Chicago“ [Das soziale Übel in Chicago], der das Motto hat: „Ständige und hartnäckige Unterdrückung von Prostitution ist die unmittelbare Methode: absolute Auslöschung das endgültige Ideal.“ Der Historiker Mark Thomas Connelly charakterisiert diese Berichte so: Sie setzen „fast jede voreheliche und nicht-monogame sexuelle Aktivität der Frau“ — d.h. jede gegen die bürgerliche Moral verstoßende sexuelle Handlung — mit „heimlicher Prostitution“ gleich (The Response to Prostitution in the Progressive Era [Die Antwort auf die Prostitution während der Progressive Era], University of North Carolina Press, 1980). Die Lösung sollte sein, Frauen, die ihre traditionelle Rolle aufgeben wollten, davon abzubringen; verschiedene Maßnahmen wurden ergriffen, um dies sicherzustellen. Die Hexenjäger wetterten gegen Eisdielen, Restaurants, Tanzlokale, Saloons und das Auto, sie forderten die Zensur von Filmen und setzten die Familien unter Druck, ihre Töchter zu Hause festzuhalten und nicht arbeiten zu lassen. Weil in den Köpfen der Reformer das „soziale Übel“ mit Alkohol verbunden war, gewann die Bewegung für die Prohibition, also das Verbot alkoholischer Getränke, viel an Einfluss und dieses wurde 1920 zum Gesetz erhoben. Trotz der ganzen Hysterie wurden so gut wie keine Beweise für einen Handel mit „weißen Sklavinnen“ gefunden und es gab überhaupt keinen Hinweis auf ein organisiertes internationales Syndikat.

Prostituierte waren der Einschüchterung, Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt, die vor dem Hintergrund dieser Verfolgung nur noch schärfer wurden. Eingewanderte Prostituierte mussten noch stärker leiden. Rassistische Reformer warnten „ehrbare“ Frauen davor, unbegleitet in „gefährliche“ chinesische Wäschereien zu gehen, da sie sich sonst in einem chinesischen Bordell wiederfinden würden (James A. Morone, Hellfire Nation: The Politics of Sin in American History [Nation des Höllenfeuers: Die Politik der Sünde in der amerikanischen Geschichte], Yale University Press, 2003). Bis 1920 wurden durch eine Gesetzesreihe die Rotlichtbezirke ausgelöscht und die Prostitution in den Untergrund und auf die Straße getrieben. Die Kontrolle der Prostitution ging von den Puffmuttern und Prostituierten auf die Zuhälter, die Mafia und die Bullen über. Die Gewalt nahm rasant zu.

Die Hexenjagd erreichte ihren Höhepunkt beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als die Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten die Regierung zu Gesetzen veranlasste, die die Rekruten vor Prostituierten „schützen“ sollten. Bis zum Ende des Krieges waren etwa 30000 Frauen unter dem Verdacht der Prostitution verhaftet und eingekerkert worden, oft ohne rechtliche Grundlage, ohne Gerichtsverfahren oder anwaltliche Verteidigung. Das Gesetz ermöglichte es der Regierung, jede Frau einzukerkern, die unter Verdacht stand, eine sexuell übertragbare Krankheit zu haben. Ihr Lebensstil oder auch nur Gerüchte über ihr Liebesleben waren Anlass genug für eine medizinische Untersuchung.

Der „Mann Act“ und die amerikanische Hexenjagd

Das schlagkräftigste Hexenjagd-Gesetz, das aus der Panikmache über die „weiße Sklaverei“ entstand, war der „Mann Act“ [US-Bundesgesetz] von 1910, der es zum Verbrechen erklärte, wenn eine Frau für einen „unmoralischen Zweck“ über die Grenzen eines Bundesstaates hinweg befördert wurde. Im Lauf der nächsten acht Jahre brachte es das Justizministerium zu fast 2200 Verurteilungen wegen Frauenhandels. Der offizielle Name des Gesetzes lautet „White Slave Traffic Act“ [Gesetz gegen Handel mit weißen Sklaven], aber dem Historiker David J. Langum zufolge wurde als erstes eine Puffmutter verhaftet, die fünf Prostituierte auf deren freiwilliger Reise von Chicago nach Michigan begleitete (Crossing Over the Line: Legislating Morality and the Mann Act [Die Linie überqueren: Gesetzgeberische Moral und der Mann Act], University of Chicago Press, 1994). Das Gesetz wurde bald vom Obersten Gerichtshof so interpretiert, dass es auch auf nichtkommerziellen Sex angewandt werden durfte. Im Fall Caminetti von 1917 wurden zwei junge verheiratete Männer aus Sacramento, Kalifornien, verhaftet, weil sie mit ihren Freundinnen einen Zug nach Reno, Nevada, genommen hatten. Mit der Durchsetzung des Mann Act begann die Umwandlung des winzigen Washingtoner „Bureau of Investigation“ [Ermittlungsbüro] zum landesweit operierenden FBI.

Eines der ersten Opfer des Mann Act war der Boxweltmeister im Schwergewicht Jack Johnson, der, als er den Titel gewann, zum Helden der schwarzen unterdrückten Massen im ganzen Land wurde. Aber die Rassisten wollten Johnson nicht erlauben, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, besonders weil von ihm bekannt war, dass er Beziehungen mit weißen Frauen hatte. Als Bundesagenten die weiße Prostituierte Belle Schreiber überredeten, sie solle bezeugen, dass Johnson sie für ihre Reise von Pittsburgh nach Chicago zwecks „unmoralischer Zwecke“ bezahlt habe, war für eine Verurteilung nach dem Mann Act der Weg geebnet. Im Mai 1913 sprachen zwölf ausschließlich weiße Geschworene Johnson schuldig, der dann zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde.

Der Mann Act ist in den Vereinigten Staaten immer noch gültig. Zwar wurde er revidiert, so dass er nicht mehr so leicht gegen ein unverheiratetes Paar eingesetzt werden kann, das die Staatsgrenzen überquert, doch haben andere Abänderungen ihn sogar verschärft. Heute wird er auch auf männliche „Opfer“ angewandt. Er wurde benutzt, um schärfer gegen schwule Prostituierte in Washington, D.C., durchzugreifen.

Unheilige Allianz von Feministinnen und religiösen Rechten

Heutzutage dienen Geschichten über die Gefährlichkeit von Eisdielen und dergleichen der Hexenjagd gegen eine angeblich landesweite Seuche der Kinderschändung. Dabei wird alles — von der brutalen Vergewaltigung und dem Mord an der kleinen Megan Kanka bis zu beidseitig einvernehmlichem Sex mit Personen unter 18 Jahren — in einen Topf geschmissen. Es ist nicht allzu lange her, dass noch lächerlichere Anschuldigungen über sexuelle Verbrechen auf den Titelseiten prangten und die Polizei dabei gegen unschuldige Leute vorging. In den 80er-Jahren wurden bei einer Hexenjagd gegen „satanischen rituellen Missbrauch“ von Kindern in Kindertagesstätten Dutzende Menschen ins Gefängnis geworfen wegen Verbrechen, die niemals geschehen sind. Auch diese Hysterie wurde vom kapitalistischen Staat, der religiösen Rechten und der feministischen Bewegung in den USA ausgebrütet.

Diese unheilige Allianz begann in den 80er-Jahren, als Women against Pornography [Frauen gegen Pornografie] erklärten, Pornografie sei die „Ursache“ von Gewalt gegen Frauen. Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon entwarfen ein Gesetz (später für verfassungswidrig erklärt), das Pornografie neu definierte als „sexuell explizite Unterordnung von Frauen“. Die feministische Ideologie spielte eine wesentliche Rolle bei der Unterstützung und Rechtfertigung der Zensur-Kampagne der Regierung, die mittels Razzien Tante-Emma-Läden zur Schließung zwang, welche anrüchige Videos vermieteten, und Angriffe auf erotische Kunst anstachelte. Gleichzeitig zündeten Abtreibungsgegner Kliniken an und bedrohten Ärzte, die Abtreibungen durchführen, mit dem Tod. Darauf wiederum reagierten die feministischen Hauptströmungen, indem sie den rassistischen, frauenfeindlichen Staat dazu aufriefen, Abtreibungsrechte zu „schützen“. Heute rufen die Feministinnen denselben Staat dazu auf, Prostituierte und „Sexsklavinnen“ durch die Kampagne gegen Menschenhandel zu „befreien“.

Die feministische Anführerin des Kreuzzugs gegen „Sexsklaverei“ ist Kathleen Barry, Soziologieprofessorin der Abteilung „Entwicklung des Menschen und Familienstudien“ an der Pennsylvania State University. Ihr Buch Sexuelle Versklavung von Frauen (Berlin, 1983) wird als das folgenreichste Werk in der Bewegung gegen den Menschenhandel angesehen. Barry hat später ihre Ansichten auf den neuesten Stand gebracht, indem sie die Definition von „Sexsklaverei“ noch breiter fasste:

„Unter weiblicher Sexsklaverei sind nicht nur die Prostituierten zu verstehen, die durch Zuhälter kontrolliert werden, sondern auch die Ehefrauen, die vom Ehemann kontrolliert werden, und die Töchter, die inzestuös von ihren Vätern angegriffen werden. Meine Definition ... bricht mit der traditionellen Unterscheidung zwischen ,erzwungener‘ und ,freiwilliger‘ Prostitution und derjenigen zwischen Ehefrauen und Huren. Wenn Frauen bzw. Mädchen eine Zeit lang zum Zwecke der sexuellen Befriedigung gehalten werden, dann leben sie unter Sklavenverhältnissen... Sklaverei ist ein Aspekt der Gewaltanwendung gegen Frauen und Kinder in der Prostitution, in der Ehe und in der Familie.“

The Prostitutes of Sexuality [Die Prostituierten der Sexualität] (New York University Press, 1995)

Für den Fall, dass sie doch noch irgendetwas ausgelassen haben könnte, argumentiert Barry, dass alles, was nicht „Sexsklaverei“ ist, eben auf sexuelle Ausbeutung hinausläuft. Hier haben wir es also wieder: Frauen glauben an die Liebe, Männer wollen nur den Sex. Nur um diesen alten Scheiß wieder aufzuwärmen, hat sie 381 Seiten eines Buches voll geschrieben.

Die umfangreiche Literatur gegen Menschenhandel ist mit Hinweisen und Fußnoten zu Barrys Schriften gespickt, die den Stempel der akademischen Respektabilität abgeben für reines Anti-Sex-Gezeter. Aber Barry ist nicht so sehr eine Theoretikerin. Sie hielt 1980 ihre ersten internationalen Treffen zu diesem Thema ab, dann 1983 eine internationale Konferenz in Rotterdam. 1988 gründete sie die CATW, die sich mächtig anstrengt, die Gesetze gegen Prostitution so zu ändern, dass, wie es in Schweden jetzt Gesetz ist, der Freier bestraft wird anstelle der Prostituierten.

Das Network of Sex Work Projects [Netzwerk von Sexarbeit-Projekten], eine Organisation, die für die Rechte von Sexarbeitern kämpft, organisierte im Juli 2002 auf der Internationalen AIDS-Konferenz in Barcelona eine Demonstration, um gegen die Politik der CATW zu protestieren. Ihr Flugblatt „Die Ziele der Bewegung gegen Sexarbeit und Menschenhandel: Eine Bedrohung für die Gesundheit der Sexarbeiter und ihre Menschenrechte“ (www.nswp.org) erklärt unter anderem:

„Die CATW hat kürzlich eine ,Hitliste‘ von mit US-Geldern finanzierten Organisationen herausgegeben, denen sie vorwirft, ,Prostitution zu betreiben‘. Diese Hitliste enthält wohl bekannte und respektierte Organisationen, die unentbehrliche HIV-Gesundheitsbetreuung und -Vorsorgedienste anbieten.“

Die CATW gehörte zu den 13 feministischen Organisationen, die den US-Kongress aufforderten, das Gesetz zum Schutz vor Menschenhandel zu verabschieden; darunter waren auch die Feminist Majority [Feministische Mehrheit], die National Organization for Women und Equality Now [Nationale Organisation für Frauen und Gleichheit jetzt]. Sie taten sich mit dem Kongressabgeordneten Chris Smith zusammen, einem eifernden Abtreibungsgegner, der ebenfalls das Gesetz befürwortete, und mit der International Justice Mission [Internationale Gerechtigkeitsmission], einer Gruppe von christlichen Missionaren, die Razzien gegen asiatische Bordelle anzetteln, um die Prostituierten zu „befreien“ — vor den laufenden Kameras von Dateline-NBC. Als Belohnung für die feministischen Beiträge hat Laura Lederer, Vorsitzende des Projektes zum Schutz gegen Menschenhandel und Herausgeberin der Anti-Pornografie-Bibel Take back the Night [Holt euch die Nacht zurück], im US-Außenministerium eine einflussreiche Stelle im Büro gegen Menschenhandel erhalten.

Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Indem das amerikanische feministische Establishment als ideologische Stütze des kapitalistischen Staates funktioniert, erfüllt es einfach seine Rolle als Stimme bürgerlicher und kleinbürgerlicher Frauen, deren einzige Unstimmigkeit mit der kapitalistischen Gesellschaft darin besteht, dass diese ihnen den vollen Zugang zum Männerverein der herrschenden Klasse verweigert. Aber für die meisten Frauen bedeutet das System des kapitalistischen Imperialismus Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und der Verzicht auf jede Gesundheitsversorgung, oder im Falle der Frauen in der Dritten Welt unterdrückerische Praktiken wie die Verstümmelung der weiblichen Genitalien und erzwungene Geschlechtertrennung unter dem Schleier. In der Dritten Welt müssen die meisten Frauen zusehen, wie ihre Kinder sterben, und sie selbst sterben jung, oft im Wochenbett oder nach einer verpfuschten Abtreibung. Angesichts all dieser Brutalität die Prostitution als das überragende Problem hinzustellen spielt nur in die Hände der bürgerlichen Ideologen, die den US-Imperialismus stützen.

Der Kreuzzug gegen „Sexsklaverei“ ist eine zynische und gefährliche Angelegenheit, weil damit die staatliche Verfolgung von Immigranten gerechtfertigt wird und zugleich die Behörden als moralische Vermittler zum Eingreifen in unsere intimsten Angelegenheiten aufgefordert werden. Er stärkt die Hexenjagd gegen Sex insgesamt und lenkt die Aufmerksamkeit von der realen Gewalt ab, die in diesem System der Klassenherrschaft jeden Tag gegen Frauen und Kinder ausgeübt wird. Die soziale Entfremdung eines Systems, das die Massen zu Werkzeugen für die Bereicherung einiger weniger macht, verschärft sich noch um ein Vielfaches durch die institutionalisierte Ungleichheit von Rasse, Religion, Nationalität und Geschlecht. Gewalt gegen Frauen entspringt zum Teil den tief gehenden sexuellen Unsicherheiten, die durch Repression und gesellschaftliche Irrationalität genährt werden.

Frauen standen in den vordersten Reihen jedes revolutionären Kampfes auf diesem Planeten — von den Pariser Frauen, die zu Beginn der Großen Französischen Revolution 1789 nach Versailles marschiert sind, bis zu den Arbeiterinnen, die am Internationalen Frauentag 1917 die Russische Revolution auslösten, als sie mit einer Demonstration Essen für die hungernden Familien forderten. Heute, nach der kapitalistischen Konterrevolution in der UdSSR und in Osteuropa, hat der Kampf für Frauenrechte an politischer Bedeutung sogar noch zugenommen. Die Internationale Kommunistische Liga strebt danach, den Mut und die Hingabe der Arbeiterinnen unter dem Banner der revolutionären proletarischen Partei zu sammeln. Die Voraussetzung der Frauenemanzipation ist der revolutionäre Sturz der kapitalistischen Ordnung, die Frauen als Arbeiterinnen ausbeutet und als Hausmägde unterdrückt.

Wie wir in unserem Artikel „The ,Date Rape‘ Issue: Feminist Hysteria, Anti-Sex Witchhunt“ [,Vergewaltigung bei Verabredung‘: Feministische Hysterie, Anti-Sex-Hexenjagd] (Women and Revolution Nr. 43, Winter 1993/Frühjahr 1994) schrieben:

„Für die Schaffung wirklich freier und gleicher Beziehungen zwischen den Menschen auf allen Ebenen, auch in puncto Sex, bedarf es der Zerstörung dieses Klassensystems und der Erschaffung einer kommunistischen Welt. In einer klassenlosen Gesellschaft existieren keine sozialen und wirtschaftlichen Zwänge in sexuellen Beziehungen, mit den Worten von Friedrich Engels: ,Dann bleibt eben kein andres Motiv mehr als die gegenseitige Zuneigung.‘“

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 24

DSp Nr. 24

Sommer 2004

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Die Ursprünge des japanischen Kommunismus, Debatte über „Etappenrevolution“ und die amerikanische Besetzung

Die Meiji-Restauration: eine probürgerliche nicht-demokratische Revolution

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Vierzig Jahre Spartacist

„Vorwärts zur Wiedergeburt der Vierten Internationale“

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Vor 30 Jahren:

Erste deutsche Ausgabe von Spartacist

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IV. Internationale IKL-Konferenz im Herbst 2003

Der Kampf für revolutionäre Kontinuität in der nachsowjetischen Welt

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Kampagne in den USA gegen Immigranten, Frauen, Sex

US/UN-Kreuzzug gegen „Sexhandel“

(Frauen und Revolution)