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Spartakist Nummer 211

Winter 2015/16

Was tun?

Die Ursprünge der leninistischen Avantgardepartei

Die Oktoberrevolution von 1917 in Russland bewies, dass es notwendig war, den kapitalistischen Staat wegzufegen und ihn durch einen Arbeiterstaat (die Diktatur des Proletariats) zu ersetzen, um die kapitalistischen Blutsauger zu enteignen und die Grundlage für eine internationale, egalitäre sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Die bolschewistische Partei, die die Revolution zum Sieg führte, war das Ergebnis jahrelanger Kämpfe von W. I. Lenin und seinen Genossen, in der Auseinandersetzung mit dem menschewistischen Opportunismus, dem russischen Gegenstück zum britischen Labourismus, eine programmatisch einheitliche Partei zu schmieden. Der Ursprung und die Entwicklung der leninistischen Avantgardepartei war das Thema einer Schulung auf der nationalen Konferenz der Spartacist League/Britain im Mai. Es folgt der für die Veröffentlichung redigierte Vortrag von Diana Coleman von der Spartacist League/U.S., übersetzt aus Workers Hammer Nr. 232, Herbst 2015.

* * * * *

Lenins Was tun? (1902) ist für Kommunisten ein grundlegendes Werk, so wie auch, möchte ich hinzufügen, unsere Broschüre Lenin und die Avantgardepartei. Aber beides ist nicht leicht zu lesen. Generationen von Kommunisten haben sich durch Was tun? durchgekämpft. Es wurde mir und meinen Freunden erstmals von den Weathermen empfohlen, einer linksgerichteten terroristischen Gruppe, die aus dem amerikanischen SDS, Studenten für eine demokratische Gesellschaft, hervorgegangen war. So wollten sie das zum Thema machen, was sie für unseren „Ökonomismus“ hielten. Mitglied wurde ich bei ihnen nicht, aber ich nahm sie ziemlich ernst. Ihr fragt euch vielleicht, wie mir das Kapitel „Was hat der Ökonomismus mit dem Terrorismus gemein?“ entgehen konnte. Dort heißt es, „die Terroristen sind Anbeter […] der Spontaneität der leidenschaftlichsten Empörung der Intellektuellen, die es nicht verstehen oder nicht die Möglichkeit haben, die revolutionäre Arbeit mit der Arbeiterbewegung zu einem Ganzen zu verbinden“. Das beschreibt genau die Leute, die ich traf.

Jedenfalls hat unsere Gruppe, die ein neulinkes Projekt zur Organisierung der Arbeiterklasse war, nach der Lektüre von Was tun? einige unserer Leute, die in einer Kellogg’s-Cornflakes-Fabrik arbeiteten, wo der gewerkschaftliche Tarifvertrag ausgelaufen war, dahingehend belehrt, dass jede Forderung nach höheren Löhnen oder besseren Arbeitsbedingungen ökonomistisch sei. Deshalb gab es nur eine revolutionäre Forderung: die Fabrik solle der Black Panther Party für deren Programm „Frühstück für Kinder“ hundert Tonnen Cornflakes spendieren. Es sagt einiges über den damaligen Zeitgeist aus, dass unsere Leute nicht in der Werkshalle ausgelacht wurden, aber es stellte sich doch irgendwie die Frage, ob nicht das Programm „Frühstück für Kinder“ selber ein liberales Programm für Sozialarbeit war. Wie auch immer, denjenigen von euch, die sich, wie ich damals, den Kopf darüber zerbrechen, was falsch daran sein soll, „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“, wird diese Schulung hoffentlich einige Fragen beantworten.

Ich möchte bemerken, dass es ein häufiger Irrtum ist, zu glauben, dass Was tun? und der Kampf von 1903, der zur Spaltung der russischen Sozialdemokraten (wie sich damals alle Marxisten nannten) in Bolschewiki und Menschewiki führte, das letzte Wort in der Parteifrage gewesen seien. Nein, Lenin wurde nicht als Leninist geboren – seine politischen Ansichten entwickelten sich. Der Leninismus als qualitative Weiterentwicklung des Marxismus entstand 1914​–​1917, als nach dem Ausbruch des interimperialistischen Ersten Weltkriegs und dem Auseinanderbrechen der Zweiten Internationale in feindliche sozialchauvinistische Parteien Lenin auf revolutionäre Weise reagierte. Als im August 1914 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) für die Kriegskredite der imperialistischen deutschen Regierung stimmte, wurde deutlich, dass die Bolschewiki nicht einfach das russische Gegenstück zur SPD waren, nur mit einer besseren Führung. Die bolschewistische Partei war etwas ganz anderes als die SPD. Erst damals verallgemeinerte Lenin bewusst seine Auffassungen von der leninistischen Partei, die mit der Gründung der Dritten (Kommunistischen) Internationale (oder Komintern) 1919 umgesetzt wurden.

Deshalb empfehle ich sowohl Was tun? als auch Lenin und die Avantgardepartei, wenn man ein Gesamtbild von der Parteifrage bekommen will. Außerdem müssen wir das leninistische Konzept der Avantgardepartei verstehen, um – dazu werden noch andere etwas sagen, die das besser können als ich – revolutionäre Syndikalisten wie James Connolly, der für seine Rolle beim Osteraufstand in Dublin vom britischen Staat hingerichtet wurde, zu verstehen und zu beurteilen. Ob er für den Bolschewismus gewonnen worden wäre, werden wir nie erfahren, doch er war zweifellos jemand, den die frühe Komintern haben wollte.

Die „Partei der Gesamtklasse“

Der organisierte russische Marxismus entstand 1883, als Georgi Plechanow mit der vorherrschenden Bewegung der Volkstümler brach, um im Exil die winzige Gruppe Befreiung der Arbeit zu gründen. Ende der 1880er-, Anfang der 1890er-Jahre bestand die marxistische Bewegung in Russland aus lokalen Propagandazirkeln, die eine dünne Schicht fortgeschrittener Arbeiter schulten. Doch Mitte der 1890er- Jahre gab es eine große Streikwelle und die Propagandazirkel wandten sich der Massenagitation zu. Es lag zum Teil an der Inhaftierung von erfahrenen marxistischen Führern, dass die Massenagitation bald in Richtung Reformismus degenerierte. Plechanow war ein Feind dieser Tendenz, die er Ökonomismus nannte. Der Ökonomismus beschränkte seine Agitation auf elementare gewerkschaftliche Forderungen und unterstützte ansonsten passiv die Bemühungen des bürgerlichen Liberalismus, den zaristischen Absolutismus zu reformieren.

Was die internationale Sozialdemokratie betrifft, so standen die Ökonomisten dem orthodoxen Marxismus feindlich gegenüber und hatten lose Verbindungen mit dem Bernsteinianertum in Deutschland. Der deutsche Sozialdemokrat Bernstein war der Inbegriff des Reformisten, der die Theorie dafür lieferte, sich vom revolutionären Marxismus abzuwenden zugunsten eines „evolutionären Sozialismus“, der von einer allmählichen Reform der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. Bernstein verkündete, für ihn sei die „Bewegung“ alles und das Endziel des Sozialismus nichts. So hören sich auch heute viele Reformisten an.

Das Bernsteinianertum war in der deutschen Partei eine Minderheitstendenz, doch in Russland waren die reformistischen Ökonomisten die vorherrschende Tendenz. Lenin und andere hatten um 1900 die schwierige Aufgabe, dafür zu kämpfen, die Partei zu den revolutionären Traditionen der Gruppe Befreiung der Arbeit zurückzuholen. Lenin und Julius Martow, die der zweiten Generation russischer Marxisten angehörten, und einige Marxisten der alten Garde wie Plechanow arbeiteten zusammen und benutzten für ihren Kampf gegen die Ökonomisten die Zeitung Iskra als organisatorisches Zentrum. Tatsächlich war dies das erste Mal, dass es für eine sozialdemokratische Partei in Russland ein echtes organisatorisches Zentrum gab. Lenin war der Organisator der Iskra-Gruppe und er leitete die „Iskra-Agenten“, die – wegen der zaristischen Repression auf illegale Weise – nach Russland gingen. Die Aufgabe der Agenten war es, mit den Argumenten aus der Zeitung die lokalen Komitees zu gewinnen oder andernfalls zu spalten.

In ihren Polemiken gegen Lenins erfolgreiche Spaltungstaktik wiesen die Ökonomisten darauf hin, dass die deutsche Zentrale nicht versuchte, die Bernsteinianer auszuschließen – was allerdings tatsächlich stimmte. Bevor ich auf die einzelnen Argumente in Was tun? eingehe, möchte ich noch etwas zur Frage der „Partei der Gesamtklasse“ sagen. Zu diesem Zeitpunkt akzeptierte Lenin in der Theorie die Auffassung des führenden SPDlers Karl Kautsky von der Partei der Gesamtklasse. Dabei gingen Kautsky und Rosa Luxemburg, eine Führerin des revolutionären Flügels der SPD, nicht davon aus, dass jeder aus der Arbeiterklasse in die Partei eintreten würde oder sollte. Vielmehr dachten sie, dass alle Tendenzen in der Arbeiterklasse einer einzigen sozialdemokratischen Partei angehören sollten.

Wie gesagt, Lenin erhob gegen dieses Konzept keine theoretischen Einwände, sondern rechtfertigte seine Spaltungstaktik mit einer Reihe von Argumenten, die auf die besondere Situation der russischen Partei eingingen. Zu verschiedenen Zeiten fielen die Argumente anders aus: Die Bernsteinianer würden wenigstens die Disziplin einhalten, aber die Ökonomisten seien unfähig, die Parteidisziplin anzuerkennen, also müsse es eine Spaltung geben; oder die russische Partei sei im Gegensatz zur deutschen erst im Entstehen und könne leicht ein Opfer des Opportunismus werden, deshalb müsse es eine Spaltung geben. Später argumentierte Lenin, dass die Menschewiki eine kleinbürgerliche und keine proletarische Tendenz seien, deshalb könne man nicht mit ihnen in einer Partei sein. Das verdeutlicht, worauf die Spartacist-Tendenz oft hingewiesen hat: Eine der Stärken von Lenin als revolutionärem Politiker war, dass seine empirische politische Praxis oft seinem ausgereiften theoretischen Verständnis voraus war. Trotzki war anders; er neigte nicht dazu, seinem theoretischen Verständnis vorzugreifen.

„Freiheit der Kritik“ – Deckmantel für Revisionismus

Zu diesem Kampf gehörte 1902 Was tun?, worin die Argumente festgehalten und erklärt wurden. Es enthält den ersten grundlegenden Entwurf für den Aufbau einer Partei und eines Kaders; gegen den Ökonomismus und jeglichen Reformismus, für eine Partei aus Berufsrevolutionären, für eine Partei, die ein Volkstribun ist und die politische Arbeit auf vielen Gebieten beherrscht – im Wesentlichen eine revolutionäre Partei auf programmatischer Grundlage und mit der Zeitung als kollektivem Organisator. Klingt gut – und wir bemühen uns immer noch zu schaffen, wovon Lenin sprach. Ich zuckte etwas zusammen, als ich in Was tun? las: „Eine tatsächliche Verbindung würde schon allein durch die Verbreitung der Zeitung aufgenommen werden (falls diese den Namen Zeitung verdiente, d. h. regelmäßig, und nicht nur einmal im Monat, wie die literarisch-publizistischen Zeitschriften, sondern viermal monatlich erschiene).“ Ich dachte an die Anstrengungen der amerikanischen Sektion, Workers Vanguard alle zwei Wochen herauszubringen.

Kapitel 1 thematisiert die „Freiheit der Kritik“. Wer kann dagegen sein, dass jeder das Recht hat, Kritik zu äußern? Doch wie Lenin klar macht, geht es darum, dass „Freiheit der Kritik“ denjenigen als Parole diente, die den sogenannten „dogmatischen, altmodischen“ Ideen des Marxismus entkommen wollten. Lenin erläutert, dass „die ,Freiheit der Kritik‘ die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit, bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen.“ Lenin ruft den Opportunisten zu: „O ja, meine Herren, ihr habt die Freiheit, … zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf … Aber lasst unsere Hände los, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort Freiheit …“

Dann widmet sich Lenin der Anbetung der Spontaneität. Lenin war nicht gegen spontanen Kampf. Arbeiterstreiks und Studentendemonstrationen – alles schön und gut. Was Lenin an den Ökonomisten verurteilt, ist: „Anstatt vorwärts zu rufen, zur Festigung der revolutionären Organisation und zur Erweiterung der politischen Tätigkeit, begann man zurück zu rufen, zum ausschließlich trade-unionistischen Kampf.“ Dann prangert er die Vorstellung an, dass der Wahlspruch für die sozialdemokratische Bewegung eine zahme Losung wie „Kampf um die wirtschaftliche Lage“ oder „Die Arbeiter für die Arbeiter“ sein müsse. Wenn er die Formulierung erörtert: „Eine solche Zählebigkeit verdankt die Arbeiterbewegung dem Umstand, dass der Arbeiter jetzt endlich selbst sein Schicksal in die Hand nimmt, nachdem er es den Händen der Führer entrissen hat“, geht er darauf ein, wie abstoßend das ist, weil die Führer den Arbeitern durch die Bullen und die Geheimpolizei entrissen und ins Exil gejagt oder ins Gefängnis geworfen wurden. Ein weiteres Beispiel von Anbetung der Spontaneität durch die Ökonomisten ist ihre Behauptung, dass die Streikkassen „für die Bewegung wertvoller sind als hundert andere Organisationen“. Am besten gefällt mir, wie Lenin folgendes aufspießt: „Wünschenswert ist der Kampf, der möglich ist, und möglich ist der, der im gegebenen Augenblick vor sich geht.“ Dies ähnelt wirklich stark der gegenwärtig in den USA immer noch benutzten Redewendung von der „Politik des Möglichen“ oder vom „linken Flügel des Möglichen“ – was immer darauf hinausläuft, und das ist wirklich nicht überraschend, dass die amerikanischen Arbeiter die kapitalistische Demokratische Partei – wenn auch natürlich kritisch – unterstützen sollen.

Die Quintessenz der ganzen Debatte über Spontaneität ist, dass die Arbeiterklasse spontan gewerkschaftliches Bewusstsein hervorbringt, was eine Form bürgerlicher Ideologie ist. Wie Lenin sagt: „Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie“. Kommunistisches Bewusstsein wird durch die revolutionäre Partei von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen. Reformisten aller Richtungen haben das schon immer bestritten. Einer von den vielen ist Tony Cliff: es sei Elitedenken, Geringschätzung der Arbeiterklasse, blablabla. Wir haben verschiedentlich betont, dass es sich hier nicht um eine programmatische Aussage handelt, sondern vielmehr um eine historische Analyse mit Konsequenzen für die Organisationsfrage.

Die sozialistische Bewegung und die Gewerkschaftsbewegung haben eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte. Im Allgemeinen entstand die sozialistische Bewegung vor der Entwicklung der industriellen Massenorganisationen der Arbeiterklasse und ging aus bürgerlich-demokratischen revolutionären Strömungen hervor. Mit dieser Entwicklung befasst sich Genosse Joseph Seymour in seiner ganz hervorragenden Artikelreihe „Marxism and the Jacobin Communist Tradition“ [Marxismus und die Tradition des jakobinischen Kommunismus], abgedruckt in Young Spartacus (1976–79). Wir kämpfen für eine Partei, die ein Zusammenschluss ist von Intellektuellen, die mit ihrer Klasse gebrochen haben, und fortschrittlichen Arbeitern mit sozialistischem Bewusstsein.

Der Volkstribun

Wie Lenin hierbei betont, führt gewerkschaftlicher Kampf, und sei er noch so militant, nur zu dem Bewusstsein, dass man gegen den Boss kämpfen muss, nicht aber dazu, dass man die Bourgeoisie als Klasse stürzen und enteignen muss. Über sozialistisches Bewusstsein sagt Lenin: „Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“ Gewerkschaftspolitik an und für sich fordert nicht die kapitalistische Produktionsweise heraus, sondern strebt nur danach, in Kämpfen mit einzelnen Unternehmern die unmittelbaren Lebensbedingungen und Löhne der Arbeiter zu verbessern. Es ist immer noch eine Form bürgerlichen Bewusstseins. Für Lenin bestand sozialistisches Bewusstsein darin, dass das Proletariat die Notwendigkeit erkennt, zur herrschenden Klasse zu werden und die Gesellschaft auf sozialistischen Grundlagen neu aufzubauen. Alles andere war gewerkschaftliches Bewusstsein.

Karl Marx brachte den Unterschied zwischen bürgerlichem gewerkschaftlichem Bewusstsein und revolutionärem Bewusstsein auf den Punkt, als er 1865 in Lohn, Preis und Profit schrieb: „Gleichzeitig … sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen… Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!‘, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: ‚Nieder mit dem Lohnsystem!“ Wir sehen also, woher Lenin seine Ideen hatte. Diese Losung steht auch in der Präambel der Industrial Workers of the World (IWW), aber ohne all das „andere Zeug“ über die Avantgardepartei.

In dem Kapitel über trade-unionistische und sozialdemokratische Politik bringt Lenin eine der besten Formulierungen über den Reformismus:

„Die revolutionäre Sozialdemokratie hat den Kampf für Reformen stets in ihre Tätigkeit eingeschlossen und tut das auch heute. Aber sie bedient sich der ,ökonomischen‘ Agitation, um an die Regierung nicht nur die Forderung nach allen möglichen Maßnahmen zu stellen, sondern auch (und vor allem) die Forderung, dass sie aufhöre, eine autokratische Regierung zu sein. Außerdem hält sie es für ihre Pflicht, der Regierung diese Forderung nicht nur auf dem Boden des ökonomischen Kampfes zu stellen, sondern auch überhaupt auf dem Boden aller Erscheinungen des sozialen und politischen Lebens. Mit einem Wort, wie der Teil dem Ganzen untergeordnet ist, ordnet sie den Kampf für Reformen dem revolutionären Kampf für Freiheit und Sozialismus unter.“

Er greift auch die Losung auf, die mir solche Schwierigkeiten bereitete – „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“ – und über die er sagt, dass sie nichts anderes bedeute als den Kampf um wirtschaftliche Reformen. Was ich nicht verstand, als ich das zum ersten Mal las: Wenn man das Gewerkschaftertum verallgemeinert, und auf die politische Ebene bringt, kommt dabei nur noch mehr bürgerliche Politik heraus. Lenin sagt, den Ökonomisten schwebe „viel eher so etwas wie der Sekretär einer Trade-Union vor als der sozialistische politische Führer. Denn der Sekretär einer beliebigen, beispielsweise englischen Trade-Union hilft den Arbeitern stets, den ökonomischen Kampf zu führen, organisiert Fabrikenthüllungen, erläutert die Ungerechtigkeit von Gesetzen und Maßnahmen, die die Streikfreiheit und die Aufstellung von Streikposten … behindern, klärt über die Voreingenommenheit der Schiedsrichter auf, die den bürgerlichen Klassen des Volkes angehören usw. usf. Mit einem Wort, jeder Sekretär einer Trade-Union führt ,den ökonomischen Kampf gegen die Unternehmer und gegen die Regierung‘ und hilft ihn führen.“ Das klingt eigentlich etwas linker als die US-Gewerkschaftsbürokraten von heute, doch wie sich die Zeiten ändern, so ändert sich auch das Geschwätz dieser Verräter.

Lenin fährt fort,

„dass das Ideal eines Sozialdemokraten nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein muss, der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.“

Mit anderen Worten, er spricht hier von der Partei, die als Volkstribun imstande ist, den Kampf für Arbeiterrevolution und Kommunismus zu führen.

Lenins Punkt, dass die Partei ein Volkstribun sein muss, scheint vielleicht auf der Hand zu liegen. Schließlich ist das etwas, wofür sich die Internationale Kommunistische Liga einen Namen gemacht hat: In Mexiko verteidigen unsere Genossen Schwule; in Japan verteidigen unsere Genossen die Burakumin (die Kaste der „Unberührbaren“). Aber diese Lektion erforderte sehr große Anstrengungen. Eine lebendige Darstellung davon findet ihr in Jacob Zumoffs neuem Buch The Communist International and U.S. Communism 1919-1929 [Die Kommunistische Internationale und der US-Kommunismus 1919–1929]. Hier sieht man, wie die Kommunistische Internationale darum kämpfen musste, dass Amerikas erste Kommunisten die Unterdrückung der Schwarzen zum Thema machten. Es war wirklich ein Kampf.

Eine Partei von Berufsrevolutionären

Lenin geht auf die Amateurhaftigkeit von Russlands sozialdemokratischer Bewegung ein, die er mit einem Haufen von Bauern vergleicht, die nur mit Knüppeln bewaffnet gegen moderne Truppen kämpfen. Diese Situation war anfangs wahrscheinlich unvermeidlich, aber seine Kritik richtet sich dagegen, dass die Ökonomisten daraus eine Tugend machten und dementsprechend jeden Versuch bekämpften, das zu korrigieren. Ein lebendiges Bild von dieser Periode gibt euch das lesenswerte Buch von Cecilia Bobrowskaja: Die ersten 20 Jahre – Aufzeichnungen einer alten Bolschewikin (1934). (Man kann es auch im Marxists Internet Archive [auf Englisch] finden.) Sie vermittelt ein realistisches Bild von dem Dilettantismus in Charkow, wo sie um 1900 aktiv war. Sie schrieb,

„dass die Bewegung unter den Charkower Arbeitern sehr rasch wuchs, während wir immer noch nach den richtigen Organisationsformen für unsere Arbeit suchten und hier völlig im Dunkeln tappten… Genau geregelte Organisationsformen fehlten damals nicht nur in Charkow, sondern in ganz Russland… Meist entstanden unsere Komitees so, dass ein aktiver Revolutionär (oder auch mehrere) nach irgendeiner Stadt kam, eine feste Verbindung mit den Massen herstellte, einige für führende Arbeit geeignete Genossen um sich sammelte und sie zum Komitee erklärte… Dem Komitee (dem gesetzgebenden Organ) untersteht unmittelbar das Aktiv, die Funktionäre (das ausführende Organ), bestehend aus ein paar Dutzend Genossen… Irgendeine richtige Arbeitsteilung gab es weder innerhalb des Komitees noch unter den Funktionären. So hatte z. B. das Komitee keinen Sekretär. Auch die Organisations-, Propaganda- und Agitationsarbeit innerhalb des Komitees war nicht verteilt. Nicht einmal für Literaturfragen gab es feste Funktionäre… Im Übrigen aber musste häufig jeder von uns gleichzeitig Propagandist, Organisator, Schriftsetzer und Bote sein.“

Später merkt man, wie erfreut sie war, als die politische Arbeit etwas besser organisiert wurde:

„Die Gruppe ,Iskra‘ hatte 1902 bekanntlich, außer der regelmäßig erscheinenden und in Russland weit verbreiteten Zeitung gleichen Titels, noch einen fest organisierten Apparat. Nach dem Plan Lenins verfügte dieser vor allem über einen Kern gut geschulter verantwortlicher Genossen, die so genannten ‚Iskra‘-Agenten. Sie wurden von der Redaktion zur Arbeit an Ort und Stelle nach Russland gesandt und wechselten je nach Bedarf den Ort ihrer Tätigkeit. Durch regelmäßige chiffrierte Briefe und ihre Reisen hielten sie das ausländische Zentrum auf dem Laufenden über ihre ganze Arbeit und den allgemeinen Stand der Dinge in den Ortsorganisationen in Russland. Außer diesen hochqualifizierten Agenten, die in den verschiedenen Organisationen in Russland erfolgreich die prinzipielle und taktische Linie der ,Iskra‘ durchführten, gab es noch Berufsparteiarbeiter, die sich ausschließlich mit technischen Arbeiten beschäftigten, sie organisierten die Beförderung von Genossen und Literatur über die Grenze, regelten Passangelegenheiten usw.“

Dieses ganze Konzept einer Partei von Berufsrevolutionären ist dem entgegengesetzt, was beispielsweise in der britischen Socialist Labour Party Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen war (siehe „British Communism Aborted“ [Das Scheitern des britischen Kommunismus], Spartacist, englische Ausgabe Nr. 36-37, Winter 1985/86).

Lenin greift auch die Notwendigkeit einer landesweiten Zeitung auf, die als kollektiver Organisator sowohl den Genossen als auch den Abonnenten und Lesern die politische Linie liefert. Das war damals wichtig, als die Kommunikation nicht gerade einfach war, aber es ist auch heute absolut notwendig. Die Zeitung stellt das Gerüst der Partei dar. Lenin betont, dass es die Aufgabe der revolutionären Zeitung ist, den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit und dem gesamten kapitalistischen System zu erklären, die Polizei zu entlarven, vor der kommenden Hungersnot zu warnen usw. usf. Lenin macht sich über die Ökonomisten lustig, die einwandten, dass diese Artikel nicht eine einzige konkrete Forderung enthielten, die greifbare Resultate verheißt. Wie oft haben wir das alles schon gehört: was tut ihr hier und jetzt? Manche Argumente ändern sich nie.

Der II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) im Jahr 1903 sollte der Höhepunkt des iskristischen Projekts sein, eine zentralisierte Partei auf der Grundlage eines umfassenden Programms zu schaffen. Nun, es lief nicht ganz so. Die Iskristen hatten eine Zweidrittelmehrheit, und die Ökonomisten und der jüdische Bund waren in der Minderheit. Doch hinter der scheinbar festgefügten Front der Iskra-Gruppe gab es erhebliche Spannungen. Es gab die „Harten“ und die „Weichen“, anfangs vertreten durch Lenin und Martow. Bekanntermaßen entlud sich diese Spannung über den ersten Absatz des Parteistatuts, der die Mitgliedschaft definierte. Martows Entwurf definierte ein Parteimitglied als jemanden, der der Partei „unter der Leitung einer ihrer Organisationen regelmäßig persönlichen Beistand leistet“. Lenins strengeres Mitgliedschaftskriterium war, dass man die Partei „durch die persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen unterstützt“. Lenins engere Definition der Mitgliedschaft war durch den Wunsch motiviert, sowohl Opportunisten auszuschließen (die die Härten und Gefahren der vollen organisatorischen Teilnahme wahrscheinlich weniger akzeptieren würden), als auch die Dilettanten loszuwerden, die sich zur russischen Sozialdemokratie gerade wegen ihres losen Zirkelwesens hingezogen fühlten.

Lenin weigerte sich, darin eine Auseinandersetzung über eine nebensächliche organisatorische Frage zu sehen, sondern bestand darauf, dass auf deren Grundlage Mehrheit (Bolschewiki) und Minderheit (Menschewiki) in den Führungsgremien vertreten sind. Ich wiederhole noch einmal: Das ist ein Beispiel für Lenins konsequent revolutionäre Stoßrichtung, die ihn dazu brachte, mit dem Opportunismus zu brechen, lange bevor er einen solchen Bruch theoretisch verallgemeinert hatte. Die Logik des Fraktionskampfes trieb die Menschewiki nach rechts; nach und nach kopierten sie die Politik der besiegten Ökonomisten und vereinigten sich mit ihnen. So existierten im Grunde genommen zwei Organisationen, eine bolschewistische und eine menschewistische.

Hinter all dem steckte in Wirklichkeit die Frage vom Charakter der russischen Revolution. Wenn man Was tun? liest, ist es vielleicht nicht sofort offensichtlich, dass damals in Russland eine absolutistische Monarchie herrschte, deren Basis eine Aristokratie von Großgrundbesitzern war, und dass alle Marxisten darin übereinstimmten, dass es unmittelbar im Wesentlichen um demokratische Aufgaben ging: Sturz des Zarismus, das Land den Bauern usw. Doch die Menschewiki gingen von der Annahme aus, dass diese demokratische Revolution angesichts von Russlands sozialer und ökonomischer Rückständigkeit von der liberalen Bourgeoisie geführt würde und zwangsläufig eine längere Periode kapitalistischer Herrschaft mit sich brächte. Damit wurde im Grunde die Perspektive einer proletarischen Revolution abgelehnt zugunsten einer parlamentarischen Opposition unter einer kapitalistischen Regierung! Lenin stimmte damit überein, dass die unmittelbare Aufgabe der Sturz des Zarismus war. Aber er wandte sich vehement gegen die Perspektive, dass die Marxisten einen Block mit der liberalen Bourgeoisie bilden sollten. Wofür er eintrat, war ein Bündnis zwischen dem revolutionären Proletariat und der armen Bauernschaft. Im Gegensatz zu den Menschewiki versuchte er, eine Linie zu ziehen zwischen dem Proletariat sowie den übrigen werktätigen Massen und der Kapitalistenklasse. Jedoch hatte Lenins damalige Theorie, „die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, den Fehler, dass sie für eine Diktatur, eine Staatsmacht, von zwei unterschiedlichen Klassen eintrat, von denen eine – die Bauernschaft – eine besitzende Klasse ist.

Trotzki beschäftigte sich in seiner Theorie der permanenten Revolution – die er erstmals am Vorabend der Revolution von 1905 entwickelte, als er noch mit den Menschewiki organisatorisch verbunden war – mit genau diesem unmöglichen Widerspruch. Danach konnte nur das in den Fabriken organisierte Proletariat die Forderungen der Bauern und unterdrückten Massen erfüllen, indem es die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse abschaffte und die Diktatur des Proletariats errichtete. Wenn der proletarische Staat, unterstützt von der Masse der armen Bauern, die demokratischen Aufgaben der Revolution erledigt, muss er unweigerlich „mit weitgehenden Eingriffen in die bürgerlichen Eigentumsrechte“ vorgehen und damit würde die Revolution unmittelbar zur Durchführung sozialistischer Aufgaben übergehen. Offensichtlich gibt es noch einen ganz anderen Aspekt der permanenten Revolution: die Notwendigkeit der internationalen Ausweitung der Revolution. Doch dieser Teil war damals, 20 Jahre bevor Stalin die antimarxistische Idee vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ – ausgerechnet im rückständigen Russland – zu propagieren begann, noch nicht so umstritten. (Mehr dazu in der IKL-Broschüre The Development and Extension of Leon Trotsky’s Theory of Permanent Revolution [Die Entwicklung und Erweiterung von Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution], April 2008.)

Wichtig hierbei ist jedoch, dass Lenin mit seiner algebraischen Formel (die er im April 1917 korrigierte) sein Hauptziel verfolgte: sich gegen die Menschewiki und ihr Hinterherlaufen hinter der Bourgeoisie abzugrenzen.

Demokratischer Zentralismus kontra „Freiheit der Kritik“

Bis 1912 waren Bolschewiki und Menschewiki manchmal gezwungen, als Fraktionen in der gleichen Partei zu existieren. Gerade nach der Revolution von 1905 gab es insbesondere unter den neu rekrutierten Arbeitern mehrheitlich eine Stimmung für eine Wiedervereinigung; gleichzeitig waren ein politischer Kampf und ein Klärungsprozess notwendig. Während der sich überstürzenden Ereignisse hatten sich Opportunisten den Bolschewiki und einzelne Revolutionäre versehentlich den Menschewiki angeschlossen. Für Lenin bedeutete die Wiedervereinigung zweierlei: ein Festhalten an der kautskyanischen „Partei der Gesamtklasse“ sowie ein taktisches Manöver, um die Masse der rohen, jungen Arbeiter zu gewinnen, die sich 1905 der sozialdemokratischen Bewegung angeschlossen hatten. Wir können nicht wissen, wie viel Gewicht Lenin diesen ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten gab. Es ist unwahrscheinlich, dass er auf eine endgültige Abspaltung und die Gründung einer bolschewistischen Partei zusteuerte oder sie plante, aber 1912 war dies das Ergebnis nach vielen Kämpfen, worüber ihr in Lenin und die Avantgardepartei nachlesen könnt. Zu diesem Zeitpunkt betonte er immer noch den kleinbürgerlichen Charakter der Menschewiki. Übrigens zeigte Trotzki durch seine schlechte Rolle beim „August-Block“ von 1912 – mit dem er all die verschiedenartigen antibolschewistischen Tendenzen im Namen der „Parteieinheit“ zusammenzubringen versuchte – seine Empfänglichkeit für Menschewismus in der Parteifrage: Das verstand er wirklich erst 1917.

Jetzt möchte ich zum demokratischen Zentralismus kommen, das leninistische Organisationsprinzip, an dem heute einzig und allein die IKL fest hält. Darin ist das Recht einer oppositionellen Minderheit verankert, innerhalb der Partei für konkurrierende politische Positionen zu kämpfen – einschließlich des Rechts auf Gründung einer Fraktion, um die bestehende Mehrheit zu ersetzen –, solange alle Mitglieder in der Öffentlichkeit die Mehrheitslinie vertreten. Wenn man allerdings in einer gemeinsamen Organisation mit einer menschewistischen Mehrheit steckt oder in einer sozialdemokratischen Partei Entrismus betreibt, tritt man für so viel „Freiheit der Kritik“ wie möglich ein – also für das Recht einer Parteiminderheit, die Mehrheitsposition öffentlich zu kritisieren. So schreibt James P. Cannon, der historische Führer des amerikanischen Trotzkismus, in seinem Buch Speeches to the Party [Reden an die Partei]:

„Der demokratische Zentralismus an sich ist keine besondere Tugend. Er ist der besondere Grundsatz einer Kampfpartei, die durch ein einziges Programm vereint wird, mit dem Ziel, eine Revolution zu führen. Sozialdemokraten haben kein Bedürfnis nach einem solchen System der Organisierung, aus dem einfachen Grund, weil sie keine Absicht haben, eine Revolution zu organisieren. Ihre Demokratie und ihr Zentralismus sind nicht durch einen Bindestrich verbunden, sondern werden in getrennten Fächern aufbewahrt für getrennte Zwecke. Die Demokratie ist für die Sozialpatrioten, und der Zentralismus ist für die Revolutionäre“.

Ich möchte ein weiteres Zitat aus Die ersten 20 Jahre anführen, in dem die Versuche geschildert werden, mit den Menschewiki zurechtzukommen während eines Streiks in Baku 1904. Über einen Agitator, der menschewistische Phrasen benutzt, sagt Bobrowskaja:

„Iljas leidenschaftliche Reden bei der Vorbereitung und während des Streiks atmeten Hass gegen die Bolschewiki im allgemeinen und die Bakuer Parteileitung im besonderen. Den Streik selbst suchten Ilja Schendrikow und seine Freunde in das Prokrustesbett des ausschließlich wirtschaftlichen Kampfs – ohne jede Politik – zu zwängen. Auf die Frage der Politik konzentrierten sich auch die Angriffe Iljas gegen uns in den Massenversammlungen. In seinen Reden glänzten die ausländischen menschewistischen Stichworte: bolschewistische Generalität, Bonapartismus usw…

Der Demagoge Ilja verstand es, auf den Versammlungen endlos die Fragen der Arbeitsschürzen, Fausthandschuhe und andere kleine Forderungen zu variieren, die die Arbeiter aufgestellt hatten, ohne über den eigentlichen Sinn des Streiks zu sprechen. Infolgedessen verließen die rückständigen Schichten diese Massenversammlungen, ohne über den wahren Charakter ihres Kampfes Klarheit gewonnen zu haben, in der Überzeugung, dass sie nur solange zu kämpfen brauchten, bis sie ihre Arbeitsschürzen und Fausthandschuhe bekämen. Außerdem nahmen sie aber aus diesen Versammlungen Groll gegen uns Bolschewiki mit, weil für uns die Fausthandschuhe nur eine kleine Teilfrage und nicht der Kern der Sache waren.“

Der Streik war recht erfolgreich. Bobrowskaja sagt:

„Während des Streiks bemühte sich die Bakuer Parteileitung durch mündliche Agitation und Flugblätter, die in unserer sehr anständig eingerichteten geheimen Druckerei hergestellt wurden, die breiten Massen von der Notwendigkeit weitgehender politischer Forderungen zu überzeugen. Diese Agitation hatte Erfolg. Die Arbeiter von Baku wuchsen während des Streiks um ein gutes Stück“. Bobrowskaja erwähnt, dass viele der Ehefrauen ziemlich konservativ und unglücklich über den Streik waren und fährt dann fort: „Sogar die Frauen hörten auf, ihren Männern das Leben sauer zu machen, sogar sie begriffen, dass sich die Sache gelohnt hatte. Zwar war es bei ihnen während des Streiks knapp genug hergegangen, dafür aber hatten sie eine Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit erreicht. Das Wichtigste aber war, dass von nun an die Arbeiter als eine Macht anerkannt wurden, mit der man notgedrungen rechnen musste.“

Ein weiteres Zitat. Über 1905 und die Schwierigkeiten, geschulte Agitatoren zu finden, fügt Bobrowskaja hinzu:

„Später, als auf unseren Versammlungen im Wedenski-Volkshaus außer den offiziellen Agitatoren auch solche aus der Masse sprachen, waren diese Schwierigkeiten nicht mehr so groß… Ich erinnere mich, wie sich in einer unserer Versammlungen irgendein Arbeiter der Rontallerschen Fabrik schüchtern bei mir zu Wort meldete. Seine ziemlich lange und geschickte Rede schloss er mit folgenden eigenartigen Sätzen: ,Wir Knopfarbeiter sind eine große Macht – wenn wir wollen, so lassen wir ganz Moskau ohne Knöpfe.‘“

Nun, Moskau ist viel kälter als Los Angeles, also vermute ich, das war eine ernstzunehmende Drohung.

Die materielle Grundlage des Opportunismus

Das Ereignis, durch das Lenin von einem revolutionären russischen Sozialdemokraten zum Gründer und Führer der kommunistischen Weltbewegung wurde, lässt sich genau datieren: der 4. August 1914. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs stimmte die Reichstagsfraktion der SPD einstimmig für die Kriegskredite der deutschen Regierung. Das ist alles lange her, aber damals war es sehr schockierend, zu sehen, wie sich in Europa große sozialistische Parteien dieser Orgie des Sozialchauvinismus anschlossen und ihre eigenen Bourgeoisien unterstützten. Bekanntlich konnte es Lenin zuerst gar nicht glauben und dachte, der Bericht über das Votum der SPD sei deutsche Kriegspropaganda. Entscheidend ist: Nach dem ungeheuerlichen Verrat der SPD konnten revolutionäre Marxisten den Opportunismus in der Arbeiterbewegung nicht länger für eine vorübergehende oder Randerscheinung oder für ein Produkt historisch bedingter politischer Rückständigkeit halten. An diesem Punkt begann Lenin im Nachhinein zu erkennen, was seine bisherigen Handlungen und Positionen bewirkt hatten und bedeuteten.

Lenin entwickelte seine grundsätzliche Position zum Krieg und zur internationalen sozialistischen Bewegung innerhalb weniger Wochen. Diese Politik hatte drei Hauptelemente: Erstens mussten Sozialisten für die Niederlage vor allem ihres „eigenen“ bürgerlichen Staates eintreten. Zweitens bewies der Krieg, dass der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche die Zivilisation zu zerstören droht. Sozialisten müssen deshalb darauf hinarbeiten, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg, in die proletarische Revolution zu verwandeln. Und drittens war die Zweite Internationale durch den Sozialchauvinismus zerstört worden. Eine neue, revolutionäre Internationale musste durch einen vollständigen Bruch mit den Opportunisten in der sozialdemokratischen Bewegung aufgebaut werden.

Dieser letzte Punkt war der umstrittenste. Ganz unterschiedliche Leute, von den revolutionären Sozialdemokraten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis hin zu den revolutionären Syndikalisten, konnten den ersten beiden Punkten zustimmen. Die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung in zwei antagonistische Parteien, die eine revolutionär, die andere reformistisch, war der Punkt, der Aufruhr hervorrief sogar bei denen, die gegen den Krieg waren. Daher musste Lenin sich mit der orthodoxen kautskyanischen Position von der „Partei der Gesamtklasse“ auseinanderzusetzen und sie ausdrücklich ablehnen. Er erkannte, dass die bolschewistische Organisation in Wirklichkeit nicht nach der kautskyanischen Formel aufgebaut worden war. Die Bolschewiki hatten sich von den Menschewiki formal zweieinhalb Jahre vor Kriegsausbruch organisatorisch vollständig getrennt, doch praktisch schon lange vor 1912. Das Auswählen, Trainieren und Stählen der Kader in Lenins Partei war grundlegend anders als in Kautskys Partei. So gründete Lenin die Dritte Internationale, die Komintern, nach dem Vorbild der bolschewistischen Partei.

Noch ein Punkt: Lenin und Gregori Sinowjew, die in den Kriegsjahren eng zusammen arbeiteten, mussten sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Kennzeichnung des Opportunismus als kleinbürgerliche Tendenz den welthistorischen Verrat nicht erklärte, den sie soeben durch die deutsche SPD erlebt hatten. Die SPD hatte tiefe gewerkschaftliche Wurzeln, führte riesige Gewerkschaften an, ihre Führer – Ebert, Scheidemann und Noske – waren alle Arbeiter gewesen. Lenins Analyse der sozialen Basis des Opportunismus der Zweiten Internationale findet sich in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus von 1916:

„Dadurch, dass die Kapitalisten eines Industriezweiges unter vielen anderen oder eines Landes unter vielen anderen usw. hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen und sie auf die Seite der Bourgeoisie des betreffenden Industriezweiges oder der betreffenden Nation gegen alle übrigen hinüberzuziehen. Diese Tendenz wird durch den verschärften Antagonismus zwischen den imperialistischen Nationen wegen der Aufteilung der Welt noch verstärkt. So entsteht der Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus … Am gefährlichsten sind in dieser Hinsicht Leute, die nicht verstehen wollen, dass der Kampf gegen den Imperialismus eine hohle, verlogene Phrase ist, wenn er nicht unlöslich verknüpft ist mit dem Kampf gegen den Opportunismus.“

So erkannte Lenin, dass der Reformismus keine kleinbürgerliche Tendenz war, die von außerhalb der Arbeiterbewegung kam, sondern ein Teil der Arbeiterbewegung, den man ständig bekämpfen musste. Die Arbeiterbürokratie mit ihrer pro-kapitalistischen Politik fungiert als Transmissionsriemen für bürgerliche Politik in die Arbeiterbewegung hinein. Der Kampf für die Umwandlung der Arbeiterklasse von einer Klasse an sich – dem Objekt kapitalistischer Ausbeutung – zur Klasse für sich – seiner revolutionären Ziele bewusst – erfordert einen Kampf gegen das falsche Bewusstsein, welches das Proletariat an seine „eigene“ Bourgeoisie bindet. Innerhalb der Arbeiterbewegung hilft nicht nur die Gewerkschaftsbürokratie dabei mit, die Herrschaft des Kapitals zu stärken, sondern auch die Reformisten sind dabei, die einen Anspruch auf den Marxismus erheben. Zweifellos habt ihr alle mit dieser Art von Leuten schon reichlich Erfahrung gemacht.

Doch in Lenin und die Avantgardepartei wird klar gemacht, dass die leninistische Einstellung zur Arbeiteraristokratie ganz anders ist als zur Gewerkschaftsbürokratie. In der imperialistischen Epoche kann es keinen erfolgreichen Reformismus geben. Daher werden die Führer der Arbeiterbewegung, was immer ihre Herkunft und ursprüngliche Motivation sein mag, aufgrund ihrer Rolle in der Gesellschaft zwangsläufig die Interessen der Arbeiter denen der Bourgeoisie unterordnen, d. h. sie sind die „Arbeiterleutnants des Kapitals“, es sei denn, sie schlagen ausdrücklich einen revolutionären Kurs ein. Im Gegensatz dazu sind qualifizierte, gut bezahlte Arbeiter, die Arbeiteraristokratie, zwar anfälliger für konservative bürgerliche Ideologie und häufig elende chauvinistische Schweine, aber keine „Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung“. Wie beim übrigen Proletariat ist es notwendig, sie von ihren verräterischen Irreführern wegzubrechen. Noch falscher ist die von vielen amerikanischen Neulinken vertretene Auffassung, dass alle Arbeiter in fortgeschrittenen Industrieländern eine Arbeiteraristokratie bilden und daher unmöglich für die Revolution zu gewinnen sind. Das war die Position der Weathermen, die ich schon erwähnte. Lasst mich zur Auflockerung von einem Treffen mit Bernardine Dohrn erzählen, einer Führerin der Weathermen, die damals auf der Liste der „zehn Meistgesuchten“ in den USA stand. (Ich hatte ihr Fahndungsfoto im örtlichen Postamt gesehen.) Wir wollten uns auf der Telegraph Avenue ganz in der Nähe des Campus der Universität von Kalifornien in Berkeley treffen. Ich glaube nicht, dass wir einen öffentlicheren Ort hätten wählen können. Dohrn kam zu spät, und alle machten sich Sorgen. Sie behauptete, weiter hinten auf der Straße ein paar Ohrringe geklaut zu haben. Ladendiebstahl, während man im Untergrund ist, wie blöd! Aber das gehörte zum Image einer „Gesetzlosen“.

Schließlich setzten wir uns zusammen und sie sprach darüber, wie sehr die amerikanische Arbeiterklasse doch bestochen sei, so dass die „Diktatur des Proletariats“ nicht funktionieren würde – man müsste über die Arbeiter eine „Diktatur der Dritten Welt“ errichten. Sie fragte mich, was ich tun würde, wenn die Nordkoreaner mit Schiffen in den Puget Sound (bei Seattle im Staat Washington) kämen, um die Macht zu übernehmen. Ich beantwortete das wohl nicht sehr tiefschürfend – ich war etwas eingeschüchtert, denn sie war eine große Nummer –, ich sagte nur, ich glaube nicht, dass dies in absehbarer Zeit passieren würde. Sie sagte, das zeige eben, was für eine amerikanisch-chauvinistische Rassistin ich sei. So wurde ich kein Mitglied bei den Weathermen, und Dohrn und ihr Gatte Bill Ayers gingen schließlich nach Chicago zurück, wo sie jetzt in liberalen Kreisen rumhängen und so unappetitliche Leute kennen wie Barack Obama.

Organisationsprinzipien und das revolutionäre Programm

Auf den ersten vier Weltkongressen der Dritten Internationale wurden Lenins allgemeine Schlussfolgerungen aus der bolschewistischen Erfahrung festgehalten: dass die Arbeiter aller Länder genau so eine gestählte, programmatisch ausgerichtete, demokratisch-zentralistische Partei brauchen. Genau darum ging es bei den „21 Bedingungen“ (angenommen auf dem II. Weltkongress von 1920) für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale: programmatische Übereinstimmung, die Opportunisten draußen halten. Das ist es, worum es uns geht: zu versuchen, eine internationale leninistische Avantgardepartei auf einer harten programmatischen Grundlage durch eine Reihe von Spaltungen und Fusionen aufzubauen. Wegen der großen Distanz zwischen uns und unseren Opponenten gibt es natürlich zurzeit nur wenige, mit denen eine Fusion überhaupt in Betracht käme, aber das wird sich ändern.

Abschließend möchte ich euch noch das Bulletin Nr. 1 der Prometheus Research Series (PRS), „Guidelines on the Organizational Structure of Communist Parties, on the Methods and Content of Their Work“ [Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien, über die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit], empfehlen. Es ist unser erstes PRS-Bulletin. In der Einleitung schreiben wir, dass dies „wohl die einzige vollständige und genaue englische Übersetzung ist“ von dem, was wir als „eines der großen Dokumente der internationalen kommunistischen Bewegung“ bezeichnen, „das die Praxis kommunistischer Organisierung zusammenfassend wiedergibt, wie sie von den Bolschewiki entwickelt und im Lichte der ersten erfolgreichen proletarischen Revolution der Welt getestet wurde.“

Die Leitsätze beginnen damit, die revolutionären Ziele der kommunistischen Partei deutlich zu machen. Dann, in dem Abschnitt „Über die Arbeitspflicht der Kommunisten“, hören wir sehr deutlich den Nachhall des bolschewistisch/menschewistischen Kampfes über die Definition der Mitgliedschaft. Darin geht es um die Notwendigkeit der „tägliche[n], gemeinschaftliche[n] Arbeit in den Parteiorganisationen“. Weiter heißt es: „Eine kommunistische Partei soll also in ihrem Bestreben, nur wirklich aktive Mitglieder zu haben, von einem jeden in ihren Reihen fordern, dass er seine Kraft und Zeit, soweit er überhaupt selbst darüber unter den gegebenen Verhältnissen disponieren kann, zur Verfügung seiner Partei stellt und immer sein Bestes für diesen Dienst hergibt.“ Und dann: „Zum Zweck der täglichen Parteiarbeit soll in der Regel jedes Parteimitglied stets in eine kleinere Arbeitsgruppe eingegliedert sein: in eine Gruppe, ein Komitee, eine Kommission, einen Ausschuss oder ein Kollegium, in eine Fraktion oder Zelle.“

Hier sehen wir Lenins strengeres Mitgliedschaftskriterium, „persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen“, und nicht das lockerere von Martow. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Komintern Lehren gezogen und in die Tat umgesetzt hat. Und wie ich hinzufügen möchte, zeugt die Tatsache, dass wir die einzige vollständige englische Übersetzung dieses Dokuments herausgegeben haben, ein weiteres Mal von unserem entschlossenen Eintreten für den Bolschewismus und seine revolutionäre Kontinuität.

Wenn Klassen- und soziale Kämpfe ausbrechen, ist eine revolutionäre Partei erforderlich, welche die programmatischen und geschichtlichen Lehren aus früheren Klassenkämpfen gelernt hat und imstande ist, das Proletariat zur Eroberung der Staatsmacht zu führen. Von uns gibt es nicht allzu viele, aber es gibt niemand anderen, der dieselben marxistischen Ziele verfolgt. Das also ist unsere Aufgabe. Und mit dieser leicht beängstigenden Bemerkung schließe ich nun.

 

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