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Spartakist Nummer 208 |
Mai 2015 |
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Ein Hoch auf Edward Snowden!
Citizenfour: Eine Rezension
Von A. Stevens
Die folgende Filmbesprechung ist eine Übersetzung aus Workers Vanguard, Zeitung unserer Genossen der SL/U.S., Nr. 1060 vom 23. Januar.
Was treibt einen Menschen dazu, auf eigene Faust und unter großem persönlichen Risiko etwas gegen die mörderischste Regierung der Welt zu unternehmen? Warum bespitzelt eine sogenannte Demokratie ihre eigenen Staatsbürger, ausländische Staatsangehörige und sogar verbündete Staatsoberhäupter? Citizenfour zeigt die Geschichte von Edward Snowden, einem ehemaligen freien Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) und der CIA, der Details darüber enthüllte, wie die US-Regierung im Einvernehmen mit den größten Telekommunikationsunternehmen und Internetanbietern praktisch überall jeden ausspioniert. Diese Enthüllungen deckten auf, dass der Spionageapparat von Big Brother weit größer ist, als bisher bekannt war.
Snowden benutzte das Pseudonym „Citizenfour“, um mit Laura Poitras Kontakt aufzunehmen, einer Autorin und Filmemacherin, die seit Jahren unermüdlich die Überwachungstätigkeit der USA aufdeckt. Weil sie mutig die Wahrheit sagte, landete sie auf einer staatlichen Überwachungsliste. Citizenfour ist der dritte Teil ihrer Trilogie darüber, wie sich die Welt seit dem 11. September 2001 unter dem endlosen US-„Krieg gegen Terror“ verändert hat.
Snowdens Geschichte, die 2013 die Titelseiten von Zeitungen in aller Welt eroberte, ist gut bekannt. Dennoch ist es spannend, sie noch einmal direkt zu sehen: Poitras hinter der Kamera, während Snowden in einem Hongkonger Hotelzimmer den Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill Rede und Antwort steht. Der Film bringt einen auch zu der beunruhigenden Erkenntnis, dass man sich angesichts der unerbittlichen Kontrollwut des Staates geradezu machtlos fühlt. So sorgte noch vor gut einem Jahr Snowdens Entlarvung der NSA für ungeheure Aufregung, doch davon ist jetzt kaum noch etwas übrig außer einem allgemeinen resignierten Achselzucken. Noch schlimmer jedoch ist die stillschweigende Billigung, die in dem oft zu hörenden Spruch zum Ausdruck kommt: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Das erzähle man mal den zahllosen Kämpfern gegen Klassen- und Rassenungleichheit in diesem Land, deren Leben durch Überwachung und Repression der Regierung ruiniert oder ausgelöscht wurde.
Überwachung ist eine Waffe aus dem staatlichen Repressionsarsenal. Citizenfour enthüllt, dass 1,2 Millionen Menschen auf US-Überwachungslisten stehen. Die kleine Stadt Dearborn (Einwohnerzahl 96 000) im Bundesstaat Michigan ist die Stadt mit dem größten Bevölkerungsanteil von arabischen und muslimischen Amerikanern und wurde durch eine richterliche Anordnung aufgrund von Rassenkriterien an die zweite Stelle all derjenigen Orte gesetzt, wo im Land die meisten mutmaßlichen Terroristen leben.
Nach dem kaltblütigen Mord an dem schwarzen Teenager Michael Brown in Ferguson, Missouri, wo wieder einmal ein weißer Bulle mit einem Rüffel davonkam, ist es wichtig, den Zusammenhang zu sehen zwischen der Überwachung und der Profilerstellung nach rassischen und politischen Kriterien. Wer gegen rassistische Ungerechtigkeit in Amerika protestiert, muss sich bewusst sein, dass in diesem Land Kämpfer für gesellschaftliche Veränderungen auf die eine oder andere Überwachungsliste gesetzt werden. Und in einem Land, das auf der Sklaverei der Schwarzen errichtet wurde, ist Kämpfern für Rassengleichheit und Gegnern der kapitalistischen Klassenherrschaft ein besonderer Platz auf so einer Liste vorbehalten. Wie James Baldwin in The Fire Next Time (Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung, 1964) schrieb: „Du wirst entdecken, wie schwer es den Menschen fällt, nach ihrem Wissen zu handeln. Handeln heißt beteiligt sein, und beteiligt sein heißt in Gefahr sein.“
Kapitalistischer Niedergang und Angriffe
auf das Recht auf Privatsphäre
Der „Krieg gegen Terror“ ist ein Vorwand für zügellose Gewalt der amerikanischen herrschenden Klasse im Ausland und im eigenen Land, von den Kriegen und Besetzungen Afghanistans und des Irak bis zur Aushöhlung von Bürgerrechten der US-Bevölkerung. Die Trumpfkarte zur Abschaffung demokratischer Rechte in Washingtons „Anti-Terror“-Kreuzzug ist die nationale Sicherheit. Zuerst benutzte die republikanische Bush-Regierung, dann der Demokrat Barack Obama die Anschläge vom 11. September 2001 dazu, außerordentliche Regierungsbefugnisse und Schnüffelei durch Maßnahmen wie den USA Patriot Act zu institutionalisieren. Dies ist nur die oberste Schicht des Gesamtarsenals repressiver Gesetzgebung, zu der auch der Espionage Act [Spionagegesetz] von 1917 gehört, welcher schon immer dazu benutzt wurde, in Kriegszeiten andere Ansichten zu kriminalisieren sowie gewerkschaftliche und linke Opposition gegenüber der US-Regierung zu unterdrücken. Einer seiner ersten und bekanntesten Opfer war der Führer der Sozialistischen Partei Eugene V. Debs, der wegen seiner politischen Reden und Agitation gegen das kapitalistische Gemetzel des Ersten Weltkriegs eingesperrt wurde.
Sollte Snowden aus seinem vorübergehenden Asyl in Russland in die USA zurückkehren, droht ihm Strafverfolgung unter dem Espionage Act. Chelsea Manning, die gefoltert wurde und nun im Gefängnis von Leavenworth einsitzt, wurde unter dem Espionage Act zu 35 Jahren Haft verurteilt. Manning wurde verfolgt, nachdem sie der Welt unumstößliche Beweise für abscheuliche US-Kriegsverbrechen sowie die täglichen Verwüstungen imperialistischer Oberherrschaft geliefert hat, die in regierungseigenen Militärprotokollen und diplomatischen Depeschen dokumentiert sind. Snowden wurde durch Mannings außerordentlichen Mut dazu angespornt, mit seinem eigenen gigantischen Schatz an Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen. Seltsamerweise wird Manning in Poitras’ Film nicht erwähnt, obwohl es wichtig ist, alle gegenwärtigen Kämpfe um Gerechtigkeit zu verbinden mit dem Kampf für die Freiheit der Opfer staatlicher Repression. Julian Assange, der Mannings Material bei WikiLeaks veröffentlichte, droht eine Strafverfolgung in den USA und er muss sich immer noch in der ecuadorianischen Botschaft in London verstecken. Wir fordern: Freiheit für Chelsea Manning! Hände weg von Edward Snowden! Hände weg von Julian Assange!
Der Film liefert allerdings spannende Beweise von einem weiteren Insider, der ein Gewissen hat. Dieser ließ sich von Snowden dazu inspirieren, neue Beweise für schmutzige Machenschaften der US-Regierung an Glenn Greenwald weiterzugeben. Die US-Regierung hat sich in Sicherheitsfragen ihren eigenen Albtraum geschaffen, denn idealistische Mitarbeiter, die enttäuscht sind, schlagen wie eine vielköpfige Hydra zurück und decken die staatliche Geheimhaltung auf.
Die amerikanische Bourgeoisie erstritt in ihren wilden Jugendtagen, als sie gegen das Joch der Kolonialherrschaft der britischen Monarchie kämpfte, das Recht auf Privatsphäre und verankerte es als Vierten Verfassungszusatz in der ursprünglichen Bill of Rights von 1791. Dieser rechtliche Schutz gegen unzulässige Durchsuchungen und Festnahmen durch den Staat hatte sich aus dem englischen Common Law [einheitlich geltendes Recht] entwickelt, das es der Polizei oder anderen Kräften der Krone untersagte, eine Privatwohnung ohne richterliche Verfügung zu betreten. Dieser Schutz war in den amerikanischen Kolonien faktisch aufgehoben, wo königliche Magistratsbeamte und Richter routinemäßig Durchsuchungs- und Haftbefehle ausstellten, um es britischen Soldaten zu ermöglichen, ohne den geringsten Verdacht auf eine Straftat Privatwohnungen zu durchsuchen und Eigentum zu beschlagnahmen.
Die Legitimierung der Versklavung von Schwarzen in der US-Verfassung zeugt von den begrenzten, konservativen Zielen der bürgerlich-demokratischen Amerikanischen Revolution. Dennoch wären die sogenannten „Gründerväter“, Führer aus einer Zeit, als die Bourgeoisie historisch fortschrittlich war, in der heutigen Zeit, der Periode des fortgeschrittenen kapitalistischen Niedergangs, Geächtete. Amerikas Herrscher würden ihnen vorkommen wie Loyalisten von König Georg und wie Verräter an der eigenen Revolution und den eigenen Bürgern. Die US-Regierung fungiert schon lange weltweit als Gendarm der Reaktion und unterstützt die blutrünstigsten Regime auf dem Planeten. Der sprachgewandte Obama tönt von „Freiheit“ und schafft gleichzeitig demokratische Rechte im eigenen Land ab, verfolgt mehr Whistleblower als alle vorhergehenden Präsidenten zusammen und erteilt gezielt die Vollmacht für Attentate auf US-Bürger im Ausland.
Eine Revolution ist notwendig
Gute Begleitlektüre zu Poitras’ Citizenfour ist Glenn Greenwalds neuestes Buch Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen (Droemer, München 2014). Dieselben Gespräche mit Snowden, die Poitras im Film festgehalten hat, werden in Greenwalds Buch detaillierter wiedergegeben. Poitras und Greenwald leben inzwischen beide im Ausland, um ihre Arbeit fortzusetzen, weit weg von den rachsüchtigen und bedrohlichen amerikanischen Behörden. Mehr als 40-mal wurde Poitras auf US-Flughäfen festgenommen und ihre Aufzeichnungen und elektronische Ausrüstung wurden beschlagnahmt. Einige von Greenwalds Kollegen in den kapitalistischen Medien forderten lauthals, dass man ihn verfolgen solle, weil er es gewagt hatte, zu drucken, was die Regierung unter Verschluss zu halten versuchte. Als mutwillig bösartige Schikane gegen Greenwald nahmen die britischen Behörden in Zusammenarbeit mit den USA seinen Lebenspartner und politischen Mitarbeiter David Miranda fest und terrorisierten ihn, als er Dokumente von Poitras für Greenwald auf dem Londoner Flughafen Heathrow bei sich trug.
Edward Snowden wurde von seinem Gewissen getrieben, ein Zeichen gegen die allgegenwärtige Überwachung durch den amerikanischen Staat zu setzen und dabei sein ganzes bisheriges Leben aufs Spiel zu setzen, weil er der Meinung ist, dass man das Recht hat zu wissen, was die Regierung tut, und das Recht hat, Politik zu diskutieren und zu verändern. Hierin folgt Snowden dem gleichen moralischen und politischen Kompass wie Chelsea Manning. Wir begrüßen sehr das mutige Handeln von beiden. Trotz Mannings und Snowdens Selbsteinschätzung als US-Patrioten liefern ihre Enthüllungen für Marxisten wie uns grundlegende Fakten, mit denen wir den arbeitenden Menschen helfen können, das demagogische Gefasel von Patriotismus und Demokratie zu durchschauen, das die Bourgeoisie verbreitet, um die von ihr Ausgebeuteten zu verdummen und abzustumpfen. Um die Gesellschaft grundlegend zu verändern, braucht man mehr als undichte Stellen und Enthüllungen. Eine entscheidende Vorbedingung ist das Verständnis, dass es nicht „unsere“ Regierung ist und dass sie auch nicht zu einem neutralen Schiedsrichter gemacht werden kann. Sie ist vielmehr ein Teil der Maschinerie zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Klassenherrschaft, passend getarnt als Ausdruck und Werkzeug des „Volkes“.
Glenn Greenwald bringt die von vielen Libertären, Liberalen und reformistischen Linken vertretene Sichtweise zum Ausdruck, das einzige Problem mit dem unkontrolliert um sich greifenden Polizeistaat sei, dass er völlig außer Kontrolle geraten ist. Greenwald argumentiert: „Die Alternative zur massenhaften Überwachung ist nicht die Abschaffung jeglicher Beobachtung, sondern vielmehr eine gezielte Kontrolle von Personen, bei denen hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass sie tatsächlich in Straftaten verwickelt sind.“ Die Aufforderung an die Geheimpolizei des Kapitalismus, fair zu spielen, ist so, als würde man einen großen weißen Hai darum bitten, sachte zu kauen.
In der kapitalistischen Gesellschaft, wo eine winzige Minderheit der Bevölkerung von der Arbeit des Proletariats lebt, werden die Herrscher immer auf Bespitzelung, Lügen und Gewalt zurückgreifen, um die überwältigende Mehrheit niederzuhalten. Alles, was die Eigentumsrechte und die rassistischen, ethnischen, religiösen und moralischen Vorurteile, die dieses ganze kapitalistische System der Ausbeutung und Ungerechtigkeit mit aufrechterhalten, infrage stellt, gilt als „Straftat“. Die Liberalen lassen sich von erhabenen Worten wie „Freiheit“ und „Demokratie“ blenden – klassenlose Begriffe, mit denen die arbeitenden Menschen übers Ohr gehauen werden, damit sie glauben, sie hätten in einer zunehmend ungleichen Gesellschaft gleiche Rechte. Von Freiheit zu sprechen, ohne auf den Kampf für die Abschaffung von Klassen einzugehen, ist einfach eine Lüge.
Karl Marx und Friedrich Engels erläuterten den grundlegenden Unterschied zwischen den Zielen der kleinbürgerlichen Demokraten und der Kommunisten in ihrer „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund [der Kommunisten] vom März 1850“. Vor dem Hintergrund der gescheiterten deutschen bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848, in der die Bourgeoisie sich gegen das revolutionäre Proletariat auf die Seite der alten reaktionären Klassen gestellt hatte, stellten Marx und Engels fest:
„Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird…
Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch … zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“
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