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Spartakist Nummer 203

Mai 2014

Hamburger Flüchtlingsproteste

Der Kampf für volle Staatsbürgerrechte, Paragraf 23 und die Gewerkschaften

Eine Korrektur

In unserem Flugblatt „Volle Staatsbürgerrechte für alle, die es hierher geschafft haben!“, abgedruckt in Spartakist Nr. 201, Januar 2014, berichten wir von der Flüchtlingsgruppe „Lampedusa in Hamburg“ und dem Kampf für die Rechte der dort gestrandeten Flüchtlinge aus Libyen. Um gegen die tiefgehende rassistische Unterdrückung und Diskriminierung in dieser Gesellschaft vorzugehen, argumentieren wir Marxisten dafür, dass Klassenkampfaktionen gegen rassistische Diskriminierung erforderlich sind und treten für Gewerkschaftsaktionen ein, um Abschiebungen zu stoppen. Die Arbeiterklasse hat die soziale Macht und das historische Interesse, Flüchtlinge gegen alle Schikanen des kapitalistischen Staates zu verteidigen und muss deshalb mobilisiert werden. Wie schon Karl Marx bezüglich der amerikanischen Arbeiterklasse betonte: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“ Entweder kämpfen die Arbeiter verschiedener Nationalitäten und Ethnien gemeinsam, oder sie werden getrennt voneinander geschlagen werden. Was uns vom Rest der Linken in dieser Frage unterscheidet, ist unser Verständnis, dass die materiellen Ursachen von Rassismus und Chauvinismus letztendlich nur mit dem revolutionären Sturz des Kapitalismus beseitigt werden können.

Nicht nur von den Flüchtlingen selbst, sondern federführend auch von der Partei DIE LINKE sowie einem Teil der Gewerkschaft ver.di wird, wie wir im Artikel beschrieben, die Forderung nach Aufenthaltsrecht für die Flüchtlinge unter Anwendung des Paragrafen 23 des Aufenthaltsgesetzes erhoben. Diesbezüglich stellten wir die falsche Behauptung auf, diese Forderung sei eine demobilisierend wirkende „bodenlose Beschönigung der Politik des Senats“ und „eine Kapitulation vor dem Staat, indem sie von vornherein akzeptiert, dass es Gruppen gibt, die einen minderen Status in der Gesellschaft haben“ (Spartakist Nr. 201, Januar 2014). Wir stellten der Forderung nach Anwendung des Paragrafen 23 unsere Forderung nach „vollen Staatsbürgerrechten für alle, die es hierher geschafft haben“ fälschlich entgegen. Tatsächlich war es kein Verrat der Linkspartei, sich während ihres Wahlkampfes für ein „Aufenthaltsrecht“ der Flüchtlinge einzusetzen. Die Grundlage für unsere falsche Entgegenstellung war die Ansicht, dass aufgrund der offen rassistisch ablehnenden Haltung des Hamburger SPD-Senats die Lampedusa-Flüchtlinge nichts aus der Kampagne gewinnen könnten.

Ähnlich falsch wie gegen die Forderung nach „Aufenthaltsrecht“ argumentierten wir in „Verhindert Abschiebungen von Roma in den Kosovo!“ (Spartakist Nr. 184, Juli 2010) auch gegen die Forderung nach „Bleiberecht“, wie sie von Unterstützergruppen von Flüchtlingen erhoben wird. Damals sagten wir: „Lehnt man die Perspektive der Mobilisierung der Arbeiterklasse für volle Staatsbürgerrechte als ,unrealistisch‘ ab, so bleibt nur der Bettelgang zur kapitalistischen Regierung übrig“.

Dies ist jedoch dem marxistischen Verständnis entgegengesetzt: Für die Arbeiterbewegung ist es notwendig, alle demokratischen Einrichtungen und Möglichkeiten gegen die Bourgeoisie zu nutzen, um den Umsturz des Kapitalismus vorzubereiten und der Arbeiterklasse ihren eigenen Sieg zu sichern. Dabei müssen wir in der vordersten Reihe aller Kämpfe der verschiedensten Formen stehen, selbst wenn es sich um die bescheidensten materiellen Interessen oder demokratischen Rechte der Arbeiterklasse und anderer Unterdrückter handelt. In solchen Kämpfen geht es darum, den Arbeitern ein Bewusstsein von der Notwendigkeit der „Eroberung der Macht durch das Proletariat“ zu verschaffen, sich immer „offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten“, wie es in Trotzkis Übergangsprogramm von 1938 heißt. Die Aufgabe von Marxisten ist es, den Massen im Verlauf ihres täglichen Kampfes zu helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Dies gilt auch in Zeiten von wenig Klassenkampf.

Zwar ist die Forderung nach vollen Staatsbürgerrechten eine Forderung, die weit über die beschränkten Rechte, die der Paragraf 23 bietet, hinausgeht; würde es jedoch zur Anwendung des Paragrafen 23 kommen, wäre dies in der Tat eine sehr konkrete qualitative Verbesserung der Situation der Lampedusa-Flüchtlinge, die ihnen einen legalen Aufenthaltsstatus und das Recht zu arbeiten verschaffen würde.Deshalb ist die einzig richtige Position, die Marxisten gegenüber der Forderung nach Anwendung dieses Paragrafen einnehmen können, sie zu unterstützen.

Zwar agitierte die Linkspartei in Hamburg für „Aufenthaltsrecht“; an der Regierung beteiligt, verhält sie sich aber anders. Das sieht man an der Flüchtlingspolitik der Linkspartei, wo sie sich an der Verwaltung des kapitalistischen Staates direkt beteiligt. So wurden in Brandenburg, wo DIE LINKE seit 2009 mitregiert, in den ersten zwei Jahren über 500 Menschen abgeschoben. Unter SPD/CDU wurden dort 258 Menschen im Jahr 2008 abgeschoben („Umsetzung der Abschiebungsrichtlinie der Europäischen Union und die Praxis der Abschiebungshaft“, Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE an die Bundesregierung 17/7446).

Die kapitalistischen Herrscher nehmen in Bezug auf Immigration für sich das Recht in Anspruch, die Zuwanderungsströme nach dem Arbeitskräftebedarf der jeweiligen wirtschaftlichen Lage zu steuern und nutzen dies sehr geschickt nach dem Motto „teile und herrsche“ zum Entfachen rassistischer Spaltung innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. Dies ist die Ursache dafür, dass ihnen eine generelle Erteilung voller Staatsbürgerrechte für alle, die es hierher geschafft haben, zuwider ist. Nichtsdestotrotz wäre es möglich, dass die deutschen Imperialisten Zugeständnisse machen, und einzelnen Immigrantengruppen volle Staatsbürgerrechte gewähren, oder auch beschränktere Rechte wie Paragraf 23, der jetzt auf Flüchtlinge aus Syrien angewandt wird.

Trotz andauernder massenhafter Proteste bleibt der SPD-Senat von Bürgermeister Olaf Scholz in Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge bei seiner Weigerung, ihnen als Gruppe einen Aufenthaltsstatus zu gewähren und beharrt auf dem Standpunkt, dass sie sich einzeln ins Asylverfahren zu begeben hätten. Mitte März hielt Scholz im Thalia-Theater eine Rede zum Thema „Hamburg, Europa und die Grenzen“. Zuvor wurden mehrere Demonstranten gegen die Flüchtlingspolitik von der Polizei verletzt, die Scholz den Weg frei prügelte. In dieser Rede im Thalia-Theater machte Scholz erneut klar, dass er die Bemühungen der EU dabei unterstützt, Immigranten abzufangen, die in der Hoffnung, der bitteren Armut ihrer Heimatländer zu entkommen, versuchen Europa zu erreichen. Nieder mit der EU und der rassistischen Festung Europa!

Angesichts solcher rassistischer Politik des Hamburger Senats, der die Flüchtlinge seit ihrer Ankunft drangsaliert und mit Abschiebung bedroht, war es ein vollkommen richtiger Schritt des ver.di-Fachbereichsleiters für „Besondere Dienstleistungen“ Peter Bremme, die Flüchtlinge der Lampedusa-Gruppe vergangenen Sommer in ver.di aufzunehmen. Ein Großteil der Gruppe waren Arbeiter in Libyen, die einzig und allein durch den Krieg der NATO und den Bürgerkrieg gezwungen waren, ihre Arbeitsplätze aufzugeben und über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen.

Aufgrund unserer falschen Position, nämlich der Ablehnung der Kampagne für Paragraf 23, denunzierten wir jedoch die Gewerkschafter um Bremme, die sich für die Flüchtlinge einsetzen, sie täten überhaupt nichts anderes als für ihre Kampagne zu werben. Auf diese Weise ließen wir die SPD vom Haken, und zwar gerade die Teile der Gewerkschaftsführung, die Olaf Scholz’ rassistischer Politik zu Hilfe eilten und den Vorsitzenden von ver.di Hamburg, Wolfgang Abel, unterstützten. Dieser drohte Bremme direkt nach der Aufnahme der Flüchtlinge mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen und verpasste ihm schließlich unter dem Vorwand, dass die Aufnahmen der Flüchtlinge in die Gewerkschaft nicht satzungskonform gewesen seien, eine Abmahnung. Jeglicher Versuch, die Proteste von Gewerkschaftsmitgliedern gegen die Flüchtlingspolitik des SPD-Senats zu unterbinden, muss bekämpft werden! Die Mitgliedschaft der Flüchtlinge in den Gewerkschaften muss verteidigt werden! Weg mit der Abmahnung gegen Peter Bremme!

Das Vorgehen der Gewerkschaftsführung, die einfach missliebige Gewerkschaftsvertreter mit bürokratischen Mitteln „unschädlich“ zu machen versucht, bringt unweigerlich die Frage mit sich, wer innerhalb der Gewerkschaft das Sagen haben soll. Wir Spartakisten treten für volle interne Demokratie innerhalb der Gewerkschaften ein, inklusive der Wahl aller Gewerkschaftsvertreter. Der Zweck von Arbeiterdemokratie in den Gewerkschaften wäre es, die effektivste Politik und Führung für die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse abzustimmen. Und was den Inhalt des Konflikts angeht, stellten ver.di-Mitglieder in dem offenen Protestbrief „Migrationskontrolle ist nicht unser Geschäft! – Für eine ver.di Mitgliedschaft unabhängig vom Aufenthaltsstatus!“ treffend fest: „Damit [mit der angeblichen Notwendigkeit einer Arbeitserlaubnis als Voraussetzung für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft] wird der staatlichen ‚Zuordnung‘ überlassen, ob jemand Gewerkschaftsmitglied werden kann. Gewerkschaftsbewegungen haben sich aber immer wieder auch dagegen emanzipiert und darauf bestanden, selber festzulegen, wer Mitglied werden kann. Ver.di sollte sich an der Realität orientieren: die Geflüchteten leben hier und sie arbeiten hier. Statt die Spaltung zwischen diesen und anderen ArbeitnehmerInnen mitzumachen, sollte ver.di sich mit ihnen solidarisieren.“

Ein Kern der Ideologie der jetzigen Gewerkschaftsirreführer ist, dem bürgerlichen Staat Einfluss auf die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu geben. Denn sie vertreten, dass die Institutionen des kapitalistischen Staats neutral seien und dafür genutzt werden könnten, für die Interessen der Arbeiter und Unterdrückten einzutreten. Ganz im Gegenteil jedoch ist der bürgerliche Staat ein Werkzeug zur Verteidigung der Herrschaft und der Profite der Kapitalistenklasse. Diese Art Ideologie ist Bestandteil des prokapitalistischen sozialdemokratischen Programms der SPD und der Linkspartei, mit dem die reformistische Gewerkschaftsführung durch tausend Fäden verbunden ist und welches sie letztlich zur Klassenzusammenarbeit mit den Bossen verpflichtet.

Die Aufnahme der Flüchtlingsgruppe in die Gewerkschaft war ein wichtiges Zeichen der Solidarität innerhalb der internationalen Arbeiterklasse, und wir begrüßen diesen Schritt Bremmes. Es ist von Bedeutung, dass in den Gewerkschaften, an der Basis zur Verteidigung ihrer eigenen Organisation mobilisiert wird. Durch deren Mobilisierung kann der Angriff der Irreführer zurückgeschlagen werden und ein höheres Bewusstsein für künftige Kämpfe erlangt werden. Wie viele Gewerkschafter und Linke hat Bremme sich jedoch nicht anders gegen die Angriffe der ver.di-Spitze zu helfen gewusst, als die Gewerkschaft gegen seine Abmahnung vor Gericht zu zerren. Dies ist jedoch fatal und einer wirksamen Mobilisierung der Gewerkschaftsbasis entgegengesetzt, denn es öffnet stattdessen die Tür der Gewerkschaften für Eingriffe des kapitalistischen Staates. Es ist notwendig die Lehren zu ziehen, dass dieser Staat nichts in den Angelegenheiten der Arbeiterbewegung zu suchen hat. Dafür braucht es allerdings die Intervention einer revolutionären Partei, die für dieses Bewusstsein kämpft. Die Arbeiterbewegung muss unabhängig vom bürgerlichen Staat organisiert werden und ihre Konflikte selbst lösen!

Es ist von entscheidender Bedeutung für die Flüchtlinge, die seit April mit dem Auslaufen des privat organisierten Winternotprogramms erneut obdachlos auf der Straße sitzen, dass sich die Arbeiterbewegung hinter ihre Klassenbrüder stellt. Die Erringung von Rechten für die Flüchtlinge wäre ein großer Sieg für den proletarischen Internationalismus und würde die Gewerkschaft gegen das spalterische Gift des Rassismus abhärten. Gleiche Rechte für die Schwächsten und am brutalsten unterdrückten Teile dieser Gesellschaft zu erkämpfen heißt, die Arbeiterklasse im Kampf für ihre eigenen historischen Rechte zusammenzuschweißen. Das unverzichtbare Instrument für die Umwandlung des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich, das ihrer historischen Rolle, das gesamte verrottete kapitalistische System wegzufegen, gewahr ist, ist eine leninistische Avantgardepartei. Für die Wiederschmiedung einer solchen Partei kämpfen wir.

 

Spartakist Nr. 203

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