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Spartakist Nummer 200 |
Oktober 2013 |
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Aus den IKL-Archiven
Die nationale Frage in der marxistischen Bewegung, 1848 – 1914
Von Joseph Seymour
Der folgende Artikel wurde ursprünglich in zwei Teilen in Workers Vanguard Nr. 123 und 125 (3. und 17. September 1976) veröffentlicht; es handelt sich um den Text eines Vortrags, den Joseph Seymour, Mitglied des Zentralkomitees der Spartacist League/U.S., 1976 auf einem europäischen Treffen hielt. Zu diesem Zeitpunkt wütete der libanesische Bürgerkrieg – daher die Bezugnahmen auf libanesische Muslime und maronitische Christen. Außerdem befürworteten wir 1976 noch nicht die Unabhängigkeit Quebecs von Kanada, erkannten aber das Recht auf Selbstbestimmung an. Wie jedoch Genosse Seymour in seinem Vortrag bemerkte, „werden wir womöglich in ein paar Jahren, falls sich die nationale Polarisierung in Kanada verschärft und sich die Arbeitenden Quebecs eindeutig für die Lostrennung entscheiden, unsere Position revidieren und für Unabhängigkeit eintreten“. Tatsächlich treten wir seit 1995 für die Unabhängigkeit Quebecs ein (siehe „Unabhängigkeit für Quebec!“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 17, Frühjahr 1996).
Wie ihr wisst, sind unsere Ansichten zur nationalen Frage, insbesondere was den Nahen Osten angeht, einer der charakteristischsten und umstrittensten Aspekte des „Spartakismus“. Sehr oft gibt es bei diesem Thema die offensichtlichsten und schärfsten Differenzen, wenn wir Tendenzen, die uns nahe zu stehen scheinen, zum ersten Mal treffen.
Diese Rede verstehe ich als Beitrag zum besseren Verständnis der theoretischen Grundlagen unserer gegenwärtigen Positionen. In Polemiken gegen die Spartacist-Tendenz und innerhalb der vorgeblich trotzkistischen Bewegung findet man häufig Bezugnahmen auf die Position, die Marx oder Lenin zu diesem oder jenem Aspekt der nationalen Frage einnahmen. Ohne umfassende Kenntnis der Entwicklung der marxistischen Position in ihrem historischen Zusammenhang ist es unmöglich zu entscheiden, ob und in welcher Weise die genannten Bezugnahmen relevant sind.
Ich glaube, dass das Verständnis der Entwicklung der marxistischen Position zur nationalen Frage von 1848 bis 1914 – d. h. von den Anfängen des Marxismus bis zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale – die Spartacist-Position in zweierlei Weise maßgeblich beeinflusst hat. Zum ersten gibt es kein marxistisches Programm für die nationale Frage als solche. Die marxistische Position hatte immer einen vorwiegend strategischen Charakter, darauf abzielend, die Bedingungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution zu schaffen. Insofern kann man, glaube ich, einen Unterschied zur marxistischen Position in der Frauenfrage feststellen. Die Position für die Abschaffung der Familie und für die Gleichstellung der Frau ist für eine kommunistische Gesellschaftsordnung grundlegend und deshalb nicht wechselnden politischen Umständen untergeordnet.
Die marxistische Position zur nationalen Frage hat demgegenüber historisch einen viel konjunkturelleren Charakter und wird viel mehr durch wechselnde empirische Umstände bestimmt. So ist es nicht nur legitim, sondern sehr oft unerlässlich, eine spezifische Position zu einer spezifischen nationalen Frage sehr kurzfristig zu ändern. Heute sind wir z. B. gegen die Unabhängigkeit Quebecs, während wir natürlich dessen Recht auf Selbstbestimmung anerkennen. Doch werden wir womöglich in ein paar Jahren, falls sich die nationale Polarisierung in Kanada verschärft und sich die Werktätigen Quebecs eindeutig für die Lostrennung entscheiden, unsere Position revidieren und für Unabhängigkeit eintreten. Solche Entscheidungen sind konjunkturell und strategisch bestimmt.
Der zweite Grund, weshalb ich meine, dass die Kenntnis des vor-leninistischen Marxismus in dieser Frage wichtig ist, besteht darin, dass unsere Position die Ablehnung der Auffassung beinhaltet (die eine Wiederbelebung der frühesten marxistischen Position ist), dass es in der kolonialen Welt progressive Nationen und reaktionäre Nationen gibt. Wir halten nicht die Palästinenser oder die libanesischen Muslime für von Haus aus fortschrittlich und nicht die Hebräer oder die libanesischen maronitischen Christen für von Haus aus reaktionär, für Vorposten des Imperialismus. Bei vielen unserer Diskussionen mit vorgeblich trotzkistischen Tendenzen – z. B. über den indisch-pakistanischen Krieg 1972, über Angola [Bürgerkrieg 1975–2002] und über den Libanon [Bürgerkrieg 1975–1990] – spielt unsere Zurückweisung der Vorstellung von progressiven Nationalitäten und progressiver bürgerlicher Staatenbildung in dieser Epoche eine Rolle.
„Progressive Nationen“
in den Revolutionen von 1848
Der Marxismus als politische Tendenz beginnt Anfang 1846 mit der Organisierung des Kommunistischen Korrespondenz-Komitees in Brüssel. Was Marx von anderen deutschen Kommunisten unterschied, war seine Auffassung, dass eine Allianz mit den bürgerlichen Demokraten notwendig sei und dass der Weg zum Sozialismus in Deutschland über eine nahe bevorstehende bürgerlich-demokratische Revolution führen würde. Damit wurde er zum Verfechter des Programms der Einigung Deutschlands als eines integralen und wichtigen Bestandteils dieser Revolution.
Die Einigung Deutschlands war organisch verbunden mit der radikalen Neuziehung der Grenzen in ganz Osteuropa. Marx war für die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens als eines demokratischen Pufferstaates gegen das zaristische Russland. Russland war die stärkste Militärmacht in Europa und wurde von Marx als das Bollwerk der Reaktion angesehen, in dem eine bürgerlich-demokratische Revolution nicht möglich war – eine Position, die er bis in die späten 1870er-Jahre aufrechterhielt. Man kann die marxistische Position zur nationalen Frage nicht verstehen, ohne sich klarzumachen, dass für mitteleuropäische Revolutionäre in der Mitte des 19. Jahrhunderts Russland das Gleiche war wie heute die Vereinigten Staaten für südamerikanische Revolutionäre. Radikale Demokratie in Mitteleuropa war verbunden mit der Befreiung Polens und einem revolutionären Krieg gegen das zaristische Russland.
Ein komplexerer Aspekt der Einigung Deutschlands erwuchs aus der Tatsache, dass ein Teil der deutschen Nation im österreich-ungarischen Habsburger-Reich aufging. Die Mehrheitsbevölkerung dieses Reichs bestand aus den verschiedenen slawischen Nationen, die vorwiegend Bauernvölker waren. Die wichtigste und entwickeltste dieser slawischen Nationen waren die Tschechen, und Böhmen war zu etwa 40 Prozent deutsch (konzentriert in der städtischen Bevölkerung) und zu 60 Prozent tschechisch, wobei fast alle Bauern Tschechen waren.
Marx und Engels waren der Auffassung, dass mit Ausnahme Polens die slawischen Völker der österreich-ungarischen Monarchie zu rückständig waren, um eine bürgerlich-demokratische Revolution zu durchlaufen. Von dieser Prämisse aus entwarfen sie ein Programm, das Mittel- und Osteuropa in drei große Staaten teilte – Großpolen, Großdeutschland und Großungarn –, in denen die West- und Südslawen in die höheren nationalen Kulturen assimiliert werden sollten.
Als die Revolution von 1848 ausbrach, folgten die Slawen – was nicht verwunderlich war – diesem Programm nicht. Die tschechischen Liberalen unter der Führung von František Palacký schlugen stattdessen einen föderierten österreich-ungarischen Staat vor, der mit einem demokratischen Deutschland verbündet sein sollte. So gab es hier einen echten Konflikt zwischen der nationaldemokratischen Bewegung in Deutschland und Ungarn auf der einen und den Slawen im österreich-ungarischen Reich auf der anderen Seite, die zum Teil auf Russland setzten, um den österreich-ungarischen Status quo zu erhalten.
Diese Situation spitzte sich zu, als Anfang 1849 die russische Armee die ungarische Nationalbewegung von Lajos Kossuth zerschlug und dabei die kroatische nationale Minderheit bestenfalls eine neutrale Position einnahm. An diesem Punkt entwickelten Marx und Engels ein Programm, das auf den nationalen, wenn nicht physischen, Völkermord an den West- und Südslawen im Interesse der demokratischen oder fortschrittlichen Völker hinauslief.
In „Der magyarische Kampf“ (1849) schreibt Engels:
„Die treibende Klasse, die Trägerin der Bewegung, die Bürgerschaft, war überall deutsch oder magyarisch. Die Slawen haben es schwer, die Südslawen aber nur ganz stellenweise zu einer nationalen Bürgerschaft bringen können. Und mit der Bürgerschaft war die industrielle Macht, war das Kapital in deutschen resp. magyarischen Händen, entwickelte sich deutsche Bildung, kamen die Slawen auch intellektuell unter die Botmäßigkeit der Deutschen, selbst bis nach Kroatien hinein. Dasselbe geschah, nur später und deshalb in geringerem Maße in Ungarn, wo die Magyaren gemeinsam mit den Deutschen die intellektuelle und kommerzielle Leitung übernahmen.“
Und in einem anderen Artikel, „Der demokratische Panslawismus“ (1849), kam er zu dem Schluss:
„Wir wiederholen es: Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen.“
Über die russisch-slawische konterrevolutionäre Bewegung schrieb er:
„Dann wird einen Augenblick die slawische Kontrerevolution mit ihrer ganzen Barbarei die östreich[ische] Monarchie überfluten, und die Kamarilla wird sehen, was sie an ihren Bundesgenossen hat. Aber bei dem ersten siegreichen Aufstand des französischen Proletariats … werden die östreichischen Deutschen und Magyaren frei werden und an den slawischen Barbaren blutige Rache nehmen. Der allgemeine Krieg, der dann ausbricht, wird diesen slawischen Sonderbund zersprengen und alle diese kleinen stierköpfigen Nationen bis auf ihren Namen vernichten.
Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“
Es gab in der Revolution von 1848 einen prominenten Linken, der der Doktrin der nationalen Selbstbestimmung aus Prinzip anhing. Das war Michail Bakunin, der 1848 in seinem „Aufruf an die Slawen“ schrieb:
„Nieder die künstlichen Schranken, welche von Despoten-Congressen nach sogenannten historischen, geographischen, commerciellen, strategischen Nothwendigkeiten gewaltsam aufgerichtet worden sind! Es soll keine anderen Scheidegränzen mehr geben zwischen den Nationen, als jene der Natur entsprechenden, von der Gerechtigkeit und im Sinne der Demokratie gezogenen Gränzen, welche der souveraine Wille der Völker selbst auf Grund ihrer nationalen Eigenheiten vorzeichnet! … [Nie ist] die Wohlfahrt der Nationen gesichert, so lange noch irgendwo in Europa ein einziges Volk unter dem Drucke lebt.“
Auf der allgemeinen theoretischen Ebene warfen Marx und Engels Bakunin eine utopische Gleichmacherei angewendet auf Nationen vor, was ihren späteren Konflikt mit dem Bakuninschen Anarchismus vorwegnimmt, wo die gleichen Prinzipien auf Individuen angewendet werden. So polemisierte Engels im Februar 1849 gegen Bakunin:
„Von den in der Wirklichkeit bestehenden Hindernissen einer solchen allgemeinen Befreiung, von den so durchaus verschiedenen Zivilisationsstufen und den dadurch bedingten ebenso verschiedenen politischen Bedürfnissen der einzelnen Völker ist keine Rede. Das Wort ,Freiheit‘ ersetzt das alles. Von der Wirklichkeit ist überhaupt keine Rede, oder soweit sie etwa in Betracht kommt, wird sie als etwas absolut Verwerfliches, von ,Despotenkongressen‘ und ,Diplomaten‘ willkürlich Hergestelltes geschildert.“ („Der demokratische Panslawismus“)
Auf einer konkreteren Ebene sahen Marx und Engels den sogenannten demokratischen Panslawismus als etwas Utopisches an, das in der Praxis lediglich dem zaristischen russischen Expansionismus dienen würde.
Marx’ Position in der slawischen Frage 1848 zog ganz erhebliche Kritik auf sich, nicht zuletzt aus den Reihen der späteren marxistischen Bewegung selbst. Diese Rede hat nicht den Zweck, Marx’ und Engels’ empirische Einschätzungen zu überprüfen, sondern konzentriert sich auf ihre Methode. Ich will jedoch die beiden Kritikpunkte an ihrer Position zur slawischen Frage erwähnen, die ich für die stärksten halte.
Zunächst ist da eine zu enge Identifizierung von politischer Dominanz mit kulturellem Entwicklungsstand. Die Tschechen Böhmens hatten gewiss denselben ökonomischen und kulturellen Entwicklungsstand wie die Ungarn und Polen, wenn nicht sogar einen höheren. Zweitens ist da eine Überschätzung der Attraktivität des Panslawismus und damit der Allianz aller slawischen Völker unter russischer Oberherrschaft und eine damit einhergehende Unterschätzung der Nationalismen der einzelnen slawischen Nationen.
Bürgerliche Reaktion
und bürgerlicher Fortschritt
Infolge der Niederlage der radikalen Demokratie in den Revolutionen von 1848 modifizierte Marx sein Programm erheblich. Er machte für die Niederlage der radikalen Demokratie und der proletarischen Avantgarde eine objektive ökonomische Rückständigkeit verantwortlich, nicht nur in Deutschland und Österreich, sondern auch in Frankreich. Deshalb legte der klassische Nach-1848-Marxismus großes programmatisches Gewicht auf die Schaffung der objektiven Bedingungen, die das Proletariat in die Lage versetzen würden, die Macht zu ergreifen.
Dies bedeutete die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, wofür die Einigung Deutschlands und Italiens als extrem wichtig angesehen wurde. Nur ökonomische Entwicklung würde die Grundlage für die Organisierung des Proletariats und die Ausweitung der demokratischen Rechte schaffen und so die Bedingungen für die proletarische Macht herstellen.
Ein wichtiger Bestandteil des Nach-1848-Programms blieb das Eintreten für die Zerschlagung der militärischen Macht des Zarenreiches … durch wen auch immer. Marx unterstützte die Briten und Franzosen im Krimkrieg und unterstützte stets die Türkei gegen Russland, weil er Russland als die reaktionäre Großmacht in Europa ansah.
Das nächste größere Ereignis nach 1848, das die nationale Frage berührte, war der österreichisch-italienische Krieg von 1859. Hier bekräftigte Marx erneut sein grundlegendes Bekenntnis zur Einigung Deutschlands als der fortschrittlichsten nationalen Entwicklung in Kontinentaleuropa. Er unterstützte nicht die Italiener, obwohl er für die Einigung Italiens eintrat, weil der deutschfeindliche Napoleon III. von Frankreich ein Verbündeter Italiens war. Marx glaubte, dass ein Sieg der italienisch-napoleonischen Allianz eine Bedrohung für die Einigung Deutschlands sein würde. In dem Glauben, wählen zu müssen, was fortschrittlicher sei – die Einigung Italiens oder Deutschlands –, entschied er sich für die Deutschlands.
Seit 1848 wurde Marx und Engels von ihren Kritikern innerhalb der Linken oft vorgeworfen, deutsche Chauvinisten zu sein. Sie wiesen das mit dem Argument zurück, ihre Position zur Einigung Deutschlands sei objektiv begründet und spiegele nicht subjektive nationalistische Vorurteile wider. Ein geeintes Deutschland würde der ökonomischen Entwicklung Europas enormen Schwung verleihen und würde die am weitesten fortgeschrittene Arbeiterbewegung in Europa hervorbringen. Darin sollten sie objektiv Recht behalten. Indessen sollten sie erst 1870 die Chance bekommen, zu beweisen, dass sie keine deutschen Chauvinisten waren.
In den 1850er-und 1860er-Jahren hatten Marx und Engels folgende Vorstellung davon, wie Europa einmal aussehen sollte: Es war ein Europa aus multinationalen Staaten, die sich um die großen fortschrittlichen Nationen gruppierten – Großpolen, Großungarn, Großdeutschland, Großfrankreich und Großbritannien (Großengland). Die anderen Völker, die sie Völkertrümmer nannten, sollten sich assimilieren. Zu diesen Völkertrümmern zählten sie die Schotten, die Waliser, die Basken und die Tschechen.
In seiner Schrift „Po und Rhein“ von 1859 über den österreichisch-italienischen Krieg verdeutlicht Engels diese Konzeption:
„Dass die Karte von Europa definitiv festgestellt sei, wird kein Mensch behaupten. Alle Veränderungen, sofern sie Dauer haben, müssen aber im ganzen und großen darauf hinausgehn, den großen und lebensfähigen europäischen Nationen mehr und mehr ihre wirklichen natürlichen Grenzen zu geben, die durch Sprache und Sympathien bestimmt werden, während gleichzeitig die Völkertrümmer, die sich hier und da noch finden und die einer nationalen Existenz nicht mehr fähig sind, den größeren Nationen einverleibt bleiben und entweder in ihnen aufgehen oder sich nur als ethnographische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.“ [Hervorhebung im Original]
Irische Unabhängigkeit und englische proletarische Revolution
Das erste größere Abweichen von diesem Schema erfolgte Ende der 1860er-Jahre in Britannien, wo Marx seine Position zur irischen Frage änderte: von der Assimilation der Iren, die gewiss kein historisch bedeutendes Volk waren, zur Unabhängigkeit für Irland.
Die Erfolglosigkeit des organisierten Marxismus in England überdeckt die Tatsache, dass der klassische Marxismus die englische Revolution für zentral erachtete. Marx widmete eine Menge seiner Energie der englischen Arbeiterbewegung. Wenn Marx in den 1850er-Jahren Deutschland und Italien als noch nicht reif genug für die Revolution hielt, so hielt er Britannien für überreif. All die Dinge, für die Marx in Deutschland kämpfte, waren in Britannien Wirklichkeit: ein großes, gut organisiertes Industrieproletariat, stabile bürgerliche Rechtsverhältnisse und Freiheit von russischer Invasion.
Doch politisch bewegte sich die britische Arbeiterklasse zu jener Zeit rückwärts; sie war 1865 weniger fortgeschritten als 1845. So war die englische Frage für Marx nicht nur deshalb wichtig, weil die englische Revolution von strategischer Bedeutung war, sondern auch weil der Widerspruch zwischen dem fortgeschrittenen Charakter der englischen Gesellschaft und der politischen Rückständigkeit des Proletariats Marx’ gesamtes Weltbild in Frage stellte.
In den späten 1860er-Jahren glaubte Marx eine Teillösung dieses Problems in einer ungelösten nationalen Frage gefunden zu haben, nämlich der irischen Frage. In England hatte Marx mit dem Problem einer gespaltenen Arbeiterklasse in einem multinationalen Staat zu kämpfen. 1870 schrieb er an zwei seiner amerikanischen Anhänger:
„Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland… Der Irländer pays him back with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.
Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewusst…
England, als Metropole des Kapitals, als bis jetzt den Weltmarkt beherrschende Macht, ist einstweilen das wichtigste Land für die Arbeiterrevolution, dazu das einzige Land, wo die materiellen Bedingungen dieser Revolution bis zu einem gewissen Reifegrad entwickelt sind. Die soziale Revolution in England zu beschleunigen, daher der wichtigste Gegenstand der Internationalen Arbeiterassoziation. Das einzige Mittel, sie zu beschleunigen, ist die Unabhängigkeitmachung Irlands.“ [Hervorhebungen im Original] (Marx an S. Meyer und A. Vogt, 9. April 1870)
Gerade der fortgeschrittene Charakter der englischen Gesellschaft brachte Marx dazu, die künftigen Probleme der Arbeiterbewegung in einem multinationalen Staat vorherzusehen. Ich sollte betonen, dass Marx’ Position in der irischen Frage zwar die orthodoxe leninistische Position vorwegnahm, aber nicht identisch mit ihr war. Marx erwartete, dass ein unabhängiges Irland die Iren aus England herausziehen würde – dass die ökonomische Entwicklung Irlands die Repatriierung der irischen Arbeiterklasse aus England bewirken würde. Er trachtete nach einer physischen Trennung der englischen und irischen Arbeiterklassen als Vorbedingung für ihre politische Einheit. Nicht einfach um die Befürwortung der Unabhängigkeit ging es, sondern um ihre Realisierung in der Praxis. Wie wir sehen werden, wird bei Lenin die Befürwortung des Rechts auf Selbstbestimmung zum entscheidenden Punkt.
Der französisch-preußische Krieg:
Ende einer Epoche
Die nächste größere Veränderung, die das, was man das 1848er Programm nennen könnte, hinfällig machte, war der französisch-preußische Krieg von 1870. Marx unterstützte anfänglich die Preußen mit dem Argument, dass der Krieg zur Verteidigung der zerbrechlichen deutschen Einheit geführt wurde. Als die Preußen aber Napoleon III. besiegt hatten und sich anschickten, Elsass-Lothringen zu erobern und das Pariser Proletariat zu zerschmettern, wechselte Marx die Seite und unterstützte die Franzosen. Und in der Tat arbeitete Engels, der ein fähiger Militärkritiker war, offenbar für die französische Armee einen Plan zur Niederwerfung der Preußen aus. Eduard Bernstein, der Engels’ literarischer Nachlassverwalter war, zerstörte diesen Plan, damit er, sollte er in die Hände der Regierung fallen, die deutsche Sozialdemokratie nicht in Schwierigkeiten bringen konnte.
Marx’ und Engels’ Verteidigung der Franzosen gegen Bismarcks Expansionismus war äußerst wichtig für die Festigung ihrer moralischen Autorität als sozialistische Führer. Nach 1870 war die Beschuldigung, Marx und Engels seien in Wirklichkeit deutsche Chauvinisten, die sich hinter pseudowissenschaftlichen Doktrinen versteckten, offensichtlich unhaltbar geworden. Die vorherrschende Stellung, die der Marxismus in den 1890er-Jahren in der internationalen Arbeiterbewegung erlangte, war eine direkte Folge von Marx’ und Engels’ völlig außer Zweifel stehendem Internationalismus.
Engels und die osteuropäische Frage
Der französisch-preußische Krieg von 1870 machte Marx’ großdeutsche Position – unter Einschluss des deutschsprachigen Österreichs – hinfällig. Diese war nun ein unsinnigen Programm. Marx gefiel es nicht, aber er musste akzeptieren, dass Deutschland – mit der Ausnahme Elsass-Lothringens – seine Grenzen erlangt hatte. Dies stellte natürlich von Neuem die Frage, was mit dem österreich-ungarischen Reich geschehen sollte. Marx starb, bevor er versuchte, eine Lösung dieses unlösbaren Problems zu finden. Es blieb an Engels, der länger lebte, hängen.
Als Engels 1895 starb, hatte er sich sehr weit von der 1848er Position in der sogenannten Ostfrage – der osteuropäischen Frage – entfernt, hatte sie aber nicht vollständig aufgegeben. Marx und Engels hatten in den späten 1870er-Jahren im zaristischen Russland dann doch eine radikal-demokratische Revolution erwartet. Dies ließ die strategische Bedeutung der Unabhängigkeit Polens in den Hintergrund treten. Trotzdem betrachtete Engels selbst in den 1880er-Jahren Russland immer noch in gewisser Weise als den Gendarmen Europas. Er begegnete deshalb der Vorstellung vom Auseinanderbrechen des österreich-ungarischen Reiches mit großem Widerwillen, da er der Ansicht war, es würde hauptsächlich dem zaristischen Expansionismus zugute kommen. Engels’ Umschwenken von der Vorstellung „progressiver Nationen“ hin zur Befürwortung des Rechts auf Selbstbestimmung lässt sich aus einem 1882 geschriebenen Brief und einem 1890 geschriebenen Artikel ersehen.
In den frühen 1880er-Jahren trat Engels dem „Luxemburgismus“ in der nationalen Frage entgegen – noch bevor Rosa Luxemburg ihn formuliert hatte. Aus guten Gründen wollten einige polnische Sozialisten nicht für die Unabhängigkeit Polens kämpfen, sondern stattdessen lieber an der großrussischen Revolution Anteil haben. Engels widersetzte sich dieser Position, aber mit einem neuen Argument. Polen wurde nun nicht mehr als eine Art demokratischer Bastion gegen das reaktionäre Russland betrachtet – das war nicht das Hauptargument. Stattdessen sei ein unabhängiges Polen notwendig, um die Klassengegensätze innerhalb der polnischen Gesellschaft zu verschärfen. Er schrieb an Kautsky (7. Februar 1882):
„Nun ist es für ein großes Volk geschichtlich unmöglich, irgendwelche innere Fragen auch nur ernsthaft zu diskutieren, solange die nationale Unabhängigkeit fehlt. Vor 1859 war von Sozialismus in Italien keine Rede, sogar die Anzahl der Republikaner war klein… Erst seit 1861 haben die Republikaner sich ausgebreitet und später ihre besten Elemente an die Sozialisten abgegeben…
Solange Polen geteilt und unterjocht, kann sich also weder eine kräftige sozialistische Partei im Lande selbst entwickeln noch mit andern Polen als der Emigration ein wirklicher internationaler Verkehr der übrigen proletarischen Parteien in Deutschland etc…
Eine internationale Bewegung des Proletariats ist überhaupt nur möglich zwischen selbständigen Nationen.“ [Hervorhebung im Original]
Immer noch gilt das empirisch nur für „große Nationen“, nicht alle Nationen. Im selben Brief hält Engels immer noch nicht viel von Unabhängigkeit für die Tschechen, Kroaten, Rumänen usw.:
„Nun könnten Sie mich fragen [und das an Kautsky gerichtet, der übrigens ein halber Tscheche war], ob ich denn gar keine Sympathien habe für die kleinen slawischen Völker und Volkstrümmer, die von den drei ins Slawentum eingetriebnen Keilen: dem deutschen, magyarischen und türkischen auseinandergesprengt sind? In der Tat, verdammt wenig.“
Jedoch gesteht Engels zu, dass es nach dem Sturz des Zaren in Ordnung gehen würde, wenn die slawischen Völker ihre Unabhängigkeit erhielten: danach, nicht vorher. Dann fügt er hinzu: „Ich bin sicher, sechs Monate Unabhängigkeit reichen hin bei den meisten östreich-ungarischen Slawen, um sie dahin zu bringen, wieder um Aufnahme zu flehen.“ Engels hielt also noch immer die kleineren Völker Osteuropas für ökonomisch lebensunfähige Einheiten und den österreich-ungarischen Staat in gewisser Weise für fortschrittlich.
Bis 1890 hatte seine Position eine beträchtliche Entwicklung hin zur klassischen Position der Zweiten Internationale für das Recht auf Selbstbestimmung durchgemacht. Während der 1880er-Jahre, dem Beginn der imperialistischen Epoche, wurden jene Allianzen geformt, die schließlich in den Ersten Weltkrieg mündeten: das zaristische Russland und das bürgerlich-demokratische Frankreich gegen das wilhelminische Deutschland und Österreich-Ungarn. Engels sah voraus, dass solch ein Krieg einen völlig reaktionären Charakter haben würde. Darüber hinaus war ihm bewusst, dass die Weiterentwicklungen in der Militärtechnologie den Krieg unglaublich destruktiv machen würden und dass es unmöglich sein würde vorauszusagen, wer einen solchen Krieg gewinnen würde.
In den 1880er-Jahren beginnt man in Engels’ Schriften und in der sozialdemokratischen Propaganda eine starke Antikriegs- und antimilitaristische Stoßrichtung wahrzunehmen, die in der Vor-1870-Periode nicht vorhanden war. Aufgrund dessen gibt es eine viel wohlwollendere Einstellung gegenüber der Selbstbestimmung in Osteuropa. Während Engels 1890 erörtert, was am Tage nach dem Sturz des Zarismus passieren werde, schreibt er:
„Österreich verliert an demselben Tage seine einzige historische Existenzberechtigung, die einer Barriere gegen den russischen Vormarsch auf Konstantinopel… Magyaren, Rumänen, Serben, Bulgaren, Arnauten, Griechen und Türken werden dann endlich in die Lage kommen, ohne Einmischung fremder Gewalt ihre gegenseitigen Streitpunkte zu erledigen, ihre einzelnen nationalen Gebiete untereinander abzugrenzen, ihre inneren Angelegenheiten nach eignem Ermessen zu ordnen.“ („Die auswärtige Politik des russischen Zarentums“)
Kautsky: Multinationale Staaten sind reaktionär
Nach Engels’ Tod kann man in der Periode der Zweiten Internationale vier charakteristische Pole in der nationalen Frage unterscheiden: das deutsche sozialdemokratische Zentrum, dessen theoretischer Wortführer Kautsky war; die deutsch-dominierte österreich-ungarische Sozialdemokratie, deren Sprecher Karl Renner und Otto Bauer waren; Rosa Luxemburgs polnische Gruppe; und Lenins Bolschewiki.
Die Differenzen und Übereinstimmungen zwischen diesen Tendenzen sind äußerst komplex und passen in kein einfaches Schema. Zum Beispiel würde man in der Frage des Selbstbestimmungsrechts finden, dass Kautsky und Lenin dafür und Bauer/Renner und Luxemburg dagegen waren. In der Frage, ob man eher eine zentralisierte als eine national föderative Partei haben sollte, würde man finden, dass Kautsky, Luxemburg und Lenin dafür waren und Bauer/Renner dagegen. In gewissen Aspekten der Methodologie, würde ich jedoch behaupten, tendierten Kautsky und Luxemburg dazu, den objektiven ökonomischen Faktor bei der Ausgestaltung von Nationalstaaten hervorzuheben, obgleich sie genau entgegengesetzte programmatische Schlussfolgerungen zogen. Auf der anderen Seite tendierten Bauer/Renner und Lenin dazu, den subjektiven Faktor und die Frage hervorzuheben, wie man in einem multinationalen Staat die Einheit der Arbeiterbewegung herstellen kann. Und schließlich werde ich darlegen, dass Lenins Position mit ihrer starken Betonung des Rechts auf Selbstbestimmung, anstatt irgendeiner speziellen Beschaffenheit von Nationalstaaten, einzigartig ist.
Unter Kautskys Führung schaffte die marxistische Bewegung die veraltete Auffassung ab, dass das zaristische Russland irgendwie reaktionärer sei als das wilhelminische Deutschland. Konsequenterweise konnte nun die Zweite Internationale auf ihrem Londoner Kongress von 1896 das allgemeine Prinzip des Rechts auf Selbstbestimmung aufstellen.
Kautskys Position war, dass das russische, das türkische und das österreich-ungarische Reich im Grunde feudale Überbleibsel waren – dass sie Fälle gehemmter Entwicklung darstellten. Er behauptete, dass eine normale, gesunde bürgerliche Entwicklung in Osteuropa das Aufbrechen dieser multinationalen Einheiten in ihre Bestandteile verlangte. Mit anderen Worten: Kautsky sah die nationale Befreiung der kleineren slawischen Völker als eine Aufgabe der bürgerlich-demokratischen Revolution in Osteuropa an.
Weil die österreichische Sozialdemokratie mit dieser Position nicht übereinstimmte, hat Kautsky sich nie öffentlich dafür eingesetzt. Doch tatsächlich war er für die Auflösung der multinationalen Staaten in Osteuropa. Dies wird ganz deutlich in einem Brief (5. Juni 1901) Kautskys an Victor Adler, den Vorsitzenden der österreichischen Partei:
„Die meisten unserer Leute leiden an dem Wahn, es sei möglich, für jede Frage eine Lösung zu finden, wenn man nur schlau genug dazu sei. Aber es gibt Fragen, die unlösbar sind, und dazu gehört auch die Herstellung eines lebensfähigen Österreich. Auch die Autonomie der Nationen brächte nicht die Lösung. Sie ist notwendig für uns als Agitationsparole und Leitpunkt bei der Organisation, aber eine Lösung bringt sie bei den gegebenen Kräften und Verhältnissen auch nicht!
Gerade in Österreich aber ist an eine schrittweise Entwicklung zu irgendeiner Lösung gar nicht zu denken. Da hilft nur der Zusammenbruch. Dass Österreich noch so lange existiert, ist für mich kein Beweis seiner Lebensfähigkeit, noch auch ein Beweis, dass wir nun die politischen Grundlagen für eine langsame friedliche Entwicklung gewonnen haben, sondern nur dafür, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht einmal mehr die Kraft hat, die verrottetsten Gebilde zu beseitigen, den Sultan, das Zarentum, Österreich.“ (in: Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, Wien 1954)
Bauer/Renner:
den österreich-ungarischen Staat retten
Das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokratie, niedergelegt auf dem Brünner (Brno im heutigen Tschechien) Kongress von 1898, trat für einen föderativen demokratischen österreich-ungarischen Staat ein und forderte nicht das Recht auf Selbstbestimmung. Das nationale Programm der russischen Sozialdemokratie, niedergelegt 1903 vor der Spaltung, trat für einen Einheitsstaat mit lokaler Autonomie ein und forderte das Recht auf Selbstbestimmung. Dieser bedeutende Unterschied kann nicht einfach auf der Grundlage von links kontra rechts erklärt werden. Auch die russischen Menschewiki unterstützten das Recht auf Selbstbestimmung, während sogar Radikale in der österreichischen Partei wie Friedrich Adler nicht dafür eintraten.
Warum war die einfache Lösung, das Reich in seine nationalen Bestandteile aufzuspalten, unter österreichischen Sozialdemokraten aller Schattierungen unpopulär? Das Problem war – und aus diesem Grund hatte Kautsky Recht, es unlösbar zu nennen –, dass jedermann wusste, dass das Auseinanderbrechen Österreich-Ungarns einen Krieg zwischen Russland und Deutschland um die Beute heraufbeschwören würde. Die verschiedenen Nationalitäten im österreich-ungarischen Reich hassten sich gegenseitig, aber noch mehr fürchteten sie das zaristische Russland und das wilhelminische Deutschland. Im Gegensatz zu allen Schattierungen des polnischen Nationalismus war das Programm der Hauptströmung des tschechischen Nationalismus nicht Unabhängigkeit. Stattdessen war es extremer Föderalismus – Schaffung eines Staats im Staate – verbunden mit einer Art extraterritorialer Kontrolle über alle Tschechen im Reich.
(Ich habe den Eindruck, dass der frankokanadische Nationalismus unserer Tage dem tschechischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg ziemlich ähnelt. Das Ziel ist nicht ausgesprochene Unabhängigkeit, sondern eher wirklich unbegrenzte Autonomie für Quebec plus eine Art von Vereinigung aller Frankokanadier in ganz Kanada.)
So versuchte die österreichische Sozialistische Partei ein Programm zu entwickeln, das Österreich-Ungarn angesichts zerstörerischer nationaler Gegensätze bewahren konnte. Der Kernpunkt dieses Programms war die sogenannte „national-kulturelle Autonomie“, wonach Nationen nicht länger Territorien zugeordnet wurden, sondern sich in Individuen verkörperten. In der Praxis bedeutete dies, dass ein Tscheche in Wien eine ausschließlich tschechische Schule besuchen konnte und ein Deutscher in Prag eine ausschließlich deutsche Schule. Tatsächlich verglich Karl Renner Nationalität mit Religion und war der Meinung, dass Nationen wie Kirchen organisiert werden sollten. Er schreibt 1906:
„Wir aber müssen – wenn wir an der territorialen Regelung festhalten – das Land zweimal, nach verschiedenen Grundsätzen vermessen, ein doppeltes Netz in die Landkarte eintragen, ein ökonomisches und ein ethnisches, wir müssen einen Schnitt durch die Summe der Staatsagenden machen, nationale und politische Geschäfte scheiden, die Bevölkerung zweimal organisieren, einmal national, das andere Mal staatlich und jedesmal in anderen Konfigurationen der Sprengel.“ („Grundlagen und Entwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“, Wien 1906)
Vom Standpunkt des revolutionären Marxismus aus betrachtet war das Schlimmste an der Position von Bauer/Renner, dass sie Nationalität als etwas Positives ansahen. Sie präsentierten ihren Entwurf, das marode österreich-ungarische Reich zu retten, wirklich als Vorwegnahme der kommunistischen Gesellschaft. Bauer schreibt in seinem Werk „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ von 1907, die
„Gliederung der Menschheit in autonome nationale Gemeinwesen, die ihre nationalen Kulturgüter genießen und die Fortentwicklung ihrer nationalen Kultur bewusst regeln, ist das nationale Endziel der internationalen Sozialdemokratie.“
Für Bauer mag der Staat zwar absterben, aber nationale Zugehörigkeit wird für immer bestehen bleiben.
Luxemburg: nationale Blindheit und revolutionärer Optimismus
Wir kommen nun zu Bauers Gegenspielerin, Rosa Luxemburg. Man muss hervorheben, dass Luxemburgs Position in der nationalen Frage sehr stark auf Polen ausgerichtet ist, was in gewisser Weise ein Paradox darstellt. Es gab jedoch ziemlich plausible Gründe für polnische revolutionäre Marxisten, sich der Unabhängigkeit Polens zu widersetzen. Luxemburg erbte diese Tradition, sie erfand sie nicht. Man muss sehen, dass Polen der am weitesten fortgeschrittene, am meisten industrialisierte Teil des Russischen Reiches war, mit privilegiertem Zugang zu einem relativ großen Markt. Seit den 1880er-Jahren war polnischer Nationalismus eine kleinbürgerliche Erscheinung, keine großbürgerliche. Luxemburg war davon überzeugt, dass die wirtschaftliche Integration Polens und Russlands soweit fortgeschritten war, dass es die Möglichkeit eines unabhängigen, lebensfähigen Polens nicht gab. So betrachtete sie den polnischen Nationalismus als eine Art von kleinbürgerlichem, reaktionärem Utopismus, analog zum Proudhonismus in Frankreich oder zum bakuninschen Anarchismus in Spanien.
Rosa Luxemburgs Position zur polnischen Unabhängigkeit ist auch aufs Engste verknüpft mit ihrem revolutionären Optimismus über die Möglichkeit des Ausbruchs einer sozialistischen Revolution im Russischen Reich und deren Ausbreitung nach Westen. Sie akzeptierte mehr oder weniger Trotzkis Auffassung über die permanente Revolution in Russland. Tatsächlich wurden Trotzkis bahnbrechende Artikel zu diesem Thema zuerst in Luxemburgs polnischsprachiger Zeitung abgedruckt. So entwickelte Luxemburg gegenüber dem Russischen Reich eine Einstellung, die der Haltung von Marx zur deutschen Nation am Vorabend von 1848 vergleichbar war: Für sie war das Russische Reich fortschrittlich, als machtvolle materielle Basis für die kommende proletarische Revolution.
Luxemburg erkannte nicht, was Lenin erkannte: dass die Antagonismen zwischen der polnischen, ukrainischen und großrussischen Arbeiterklasse ein Hindernis für eine erfolgreiche Revolution im Zarenreich darstellten. Ihre Methode, nationalistischen Einstellungen allein mit internationalistischer Propaganda entgegenzutreten, reichte nicht aus. Eine positive programmatische Opposition zum zaristischen Russland als „Völkergefängnis“ war notwendig.
Lenin: Selbstbestimmung und Arbeitereinheit
Die leninistische Position in der nationalen Frage wurde in ihrer endgültigen Form erst während des Ersten Weltkriegs um 1917 entwickelt, aber sie ist, wie ich meine, für die Periode vor 1914 grundlegend relevant.
Oberflächlich betrachtet scheint die bolschewistische Position orthodox kautskyanisch zu sein. Doch ich denke, die formalen Ähnlichkeiten verschleiern bedeutende Unterschiede. Kautsky befürwortete die Selbstbestimmung, weil er wirklich für Unabhängigkeit war als ein Mittel, die bürgerlich-demokratische Revolution in Osteuropa voranzutreiben. Insoweit Lenin anerkannte, dass die nationale Emanzipation für Polen, die Ukraine, die Tschechen eine unvollendete bürgerlich-demokratische Aufgabe war, gab es hier eine Ähnlichkeit der Positionen.
Aber Lenins Position beinhaltete im Grunde keine Zwei-Etappen-Revolution mit der Erwartung einer relativ langen Periode der Entwicklung bürgerlich-demokratischer Staaten der Polen, Ukrainer oder Tschechen. Was Lenin stattdessen betonte – und er war der erste Marxist, der das tat –, war die Befürwortung des Rechts auf Selbstbestimmung als notwendiges Mittel der Einigung der Arbeiterklasse in einem multinationalen Staat.
Lenin vertrat den Standpunkt, Luxemburgs abstrakte Propaganda für Internationalismus sei nicht angemessen, die Polen und Ukrainer davon zu überzeugen, dass die großrussischen Sozialisten keine Chauvinisten seien. Die Arbeiterbewegung in der Unterdrückernation muss in der Praxis und in unmittelbar programmatischer Form beweisen, dass sie das Recht der unterdrückten Nation auf Unabhängigkeit unterstützt. Für Lenin war die Frage, ob die Unabhängigkeit tatsächlich verwirklicht würde oder nicht, keine grundlegende, sondern eine zweitrangige Frage. Vor der Revolution von 1917 hatten die Bolschewiki keine Position für oder gegen die Unabhängigkeit Polens, der Ukraine oder Finnlands. Der Kern von Lenins Position wird in „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (1914) deutlich:
„Ob es zum Beispiel der Ukraine beschieden sein wird, einen selbständigen Staat zu bilden, das hängt von 1000 Faktoren ab, die im voraus nicht bekannt sind. Und ohne zu versuchen, ins Blaue hinein zu ,raten‘, treten wir entschieden für das ein, was außer Zweifel steht: das Recht der Ukraine auf einen solchen Staat. Wir achten dieses Recht, wir unterstützen nicht die Privilegien der Großrussen gegenüber den Ukrainern, wir erziehen die Massen im Geiste der Anerkennung dieses Rechts, im Geiste der Ablehnung staatlicher Privilegien einer Nation, welche es auch sei.“ [Hervorhebungen im Original]
In neulinken und „Dritte-Welt“-stalinistischen Zirkeln wird Lenins Position systematisch dahingehend fehlinterpretiert, als würde damit jedwede Forderung unterstützt, die von einer unterdrückten nationalen Minderheit vorgebracht wird. Der anti-luxemburgistische Lenin überschattet zu Unrecht den anti-nationalistischen Lenin. Lenin lehnte eine „national-kulturelle Autonomie“ absolut ab, weil sie direkt und unmittelbar nationalistische Ideologie förderte. Er war gegen Föderalismus und für begrenzte regionale Autonomie für Minderheitennationen in einem Einheitsstaat. In diesem letzteren Punkt befand er sich in grundlegender Übereinstimmung mit Luxemburg. Einige bürgerliche Kommentatoren haben angemerkt, dass Lenin in der nationalen Frage eine Alles-oder-nichts-Position zu haben scheine. Dies als Gegensatz zu den österreichischen Sozialdemokraten, die der Bevölkerung eine unbegrenzte Zahl von Abstufungen zwischen Unabhängigkeit und Assimilierung anboten. Richard Pipes schreibt in „The Formation of the Soviet Union“ [Die Herausbildung der Sowjetunion]:
„Lenins Theorie der nationalen Selbstbestimmung, die als die Lösung des nationalen Problems in Russland angesehen wurde, war völlig unangemessen. Indem sie den Minderheiten praktisch keine Wahl ließ außer Assimilierung oder Unabhängigkeit, ging sie über die Tatsache hinweg, dass sie keines von beiden anstrebten.“
Lenins Programm war jedoch nicht dazu entworfen, dass es bei Russlands Minderheiten unbedingt populär sein würde. Es war entworfen worden, um die kämpfende Einheit der Arbeiterklasse innerhalb des russischen Staates zu fördern. Wenn die arbeitenden Massen der verschiedenen Nationen einander so feindlich gegenüberstehen, dass dies einen geeinten Klassenkampf praktisch unmöglich macht, dann muss Separation in unabhängige Staaten gefordert werden. Wo nationale Minderheiten die Wahl treffen, innerhalb desselben staatlichen Rahmens zusammenzuleben, ist es die Aufgabe der Leninisten, alle Barrieren niederzureißen, die die arbeitenden Massen der verschiedenen Nationen trennen. Während wir für die Gleichberechtigung der Sprachen und die damit verbundenen demokratischen Rechte eintreten, setzen wir uns für die graduelle, organische Assimilierung der verschiedenen Nationalitäten ein, die die Arbeiterklasse ausmachen.
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