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Spartakist Nummer 192

März 2012

Frauen und Revolution

Tunesien: Frauenrechte unter Beschuss der Islamisten

Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Der nachfolgende Artikel ist ein Auszug aus einer ausführlichen Analyse der Situation nach den tunesischen Wahlen aus Le Bolchévik Nr. 198 (Dezember 2011), Zeitung unserer Genossen der Ligue trotskyste de France.

Der Volksaufstand in Tunesien, der im Januar 2011 den verhassten Despoten Ben Ali stürzte, führte am 23. Oktober zur Wahl einer neuen konstituierenden Versammlung. Mit dem Segen der Imperialisten errangen die „modernisierenden“ Islamisten der Ennahda-Partei 89 der 217 Sitze in der neuen Versammlung, die nun das Land regieren und eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Ennahda sowie der säkulare Kongress für die Republik (CPR, eine bürgerliche Partei) und Ettakatol (Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit, eine der Zweiten Internationale angeschlossene Partei) haben eine Koalitionsregierung gebildet. Doch die wirkliche Macht in der Koalition haben die Islamisten. Ennahdas Nummer Zwei, Hamadi Jebali, wurde am 14. Dezember 2011 zum Premierminister ernannt, und seine Partei konnte die meisten Schlüsselministerien für sich ergattern, insbesondere die Verantwortlichkeit für die Polizei, aber auch die für die Moscheen.

Wie wir in unseren Artikeln Anfang 2011 schrieben, blieb die organisierte Arbeiterklasse trotz ihrer bedeutenden Rolle in der Volkserhebung, die zum Sturz des verhassten Diktators Ben Ali führte, der Bourgeoisie politisch untergeordnet. Der Hauptgewerkschaftsverband Generalunion der tunesischen Arbeiter (UGTT), unter der Leitung des langjährigen Ben-Ali-Getreuen Abdessalem Jerad, hat sich seit Januar 2011 an einer Reihe politischer Blocks beteiligt und sich bürgerlichen Kräften, darunter den islamischen Reaktionären von Ennahda, in einem sogenannten „Nationalen Rat zum Schutz der Revolution“ untergeordnet, der am 11. Februar 2011 ins Leben gerufen wurde. Jerad & Co. verhalfen so Ennahda, der späteren Wahlsiegerin, zu Glaubwürdigkeit. Wie wir im März 2011 schrieben: „Indem die Gewerkschaftsbürokraten und Reformisten auf diese Weise die Arbeiter an den Klassenfeind ketten, bereiten sie einer blutigen Niederlage der Arbeiter und Unterdrückten den Weg. Es ist notwendig, mit der Klassenkollaboration zu brechen!“ (Le Bolchévik Nr. 195, März 2011).

Bedrohung für Frauenrechte

Verglichen mit der übrigen Region rühmt sich Tunesien verhältnismäßig weitreichender Frauenrechte, von denen die meisten unter Präsident Bourguiba unmittelbar nach der Unabhängigkeit des Landes von Frankreich 1956 erkämpft wurden. Diese Rechte wurden in einem Personenstandsgesetz (CSP, Code du statut personnel) niedergelegt, das, wie wir vor mehr als zwei Jahrzehnten schrieben, als „heikler, fragiler und umkehrbarer Kompromiss zwischen islamischem Recht und bürgerlicher ,Modernität‘ konzipiert“ ist (Le Bolchévik Nr. 79, Januar 1988). Dies erklärt, warum Ennahda das Gesetz als akzeptabel erachtet. Es erklärt formale Gleichheit vor dem Gesetz, Polygamie ist verboten und Scheidung wird zivilrechtlich geregelt. Es gibt das Recht auf Abtreibung, und Verhütungsmittel sind erhältlich, aber nicht kostenlos, was ihre Zugänglichkeit für Arbeiterinnen und Frauen der ärmeren sozialen Schichten einschränkt. Außerdem stehen unverheiratete Frauen von Rechts wegen immer noch unter der Vormundschaft ihrer Väter, arrangierte Ehen sind häufig, und ein Mann muss für seine zukünftige Frau Brautgeld bezahlen. Ein Zauberritus namens Tasfih soll die Jungfräulichkeit heranwachsender Mädchen schützen, während beim Kleinbürgertum Hymenoplastie (chirurgische Rekonstruktion des Hymens, mit der Jungfräulichkeit vorgetäuscht werden soll) praktiziert wird. Sexuelle Belästigung ist gang und gäbe, und das Erbschaftsrecht benachteiligt Frauen erheblich.

Bei den jüngsten Wahlen durften nur Parteien antreten, deren Liste zur Hälfte aus Frauen bestand. Aber Frauen bekamen nur 49 der 217 Sitze – darunter 42 Ennahda-Mitglieder, von denen viele verschleiert sind und glauben, dass nach ihrer Auffassung vom Gesetz der Scharia auch andere Frauen leben sollten. Mit Hilfe der Quotenregelung konnte sich Ennahda als frauenfreundlich darstellen. Als Marxisten sind wir dagegen, dass der Staat vorschreibt, wen eine politische Partei, einschließlich einer revolutionären Partei, aufstellen darf – Mann oder Frau, „Staatsbürger“ oder „Ausländer“.

Fast 30 Prozent der Beschäftigten im Land sind Frauen, auch in der Arbeiterklasse (ein Drittel der UGTT-Mitglieder sind Frauen). Außerdem stellen Frauen die Mehrzahl der Studenten und im Kleinbürgertum 31 Prozent der Rechtsanwälte, 40 Prozent der Hochschullehrer und 42 Prozent der Ärzte. Diese Schicht hochqualifizierter Frauen aus dem Kleinbürgertum hat zahlreiche Frauenrechtsgruppen hervorgebracht, die sich in erster Linie als Wächter des CSP verstehen. Viele dieser Frauen sind nun zu Recht darüber beunruhigt, was der Wahlsieg Ennahdas für die Frauenrechte bedeutet.

Der Ennahda-Führer Rachid Ghannouchi hat besonders betont, dass seine Partei die gegenwärtig in Tunesien bestehenden Frauenrechte garantieren will, und er bekräftigt, dass Frauen nicht zum Tragen des Schleiers gezwungen werden sollen. Regelmäßig führt er die in der Türkei herrschende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) als sein Vorbild für ein zukünftiges Tunesien an. Doch wie wir im Spartakist Nr. 170, März 2008, nach der Wiederwahl der AKP im Jahr 2007 schrieben:

„Der Entwurf einer neuen Verfassung wurde angekündigt, die das seit langem bestehende Verbot für Kopftücher an Universitäten und in öffentlichen Einrichtungen aufhebt und eine Klausel der gegenwärtigen Verfassung, die die Regierung verpflichtet, ,Gleichheit für Männer und Frauen sicherzustellen‘, durch eine Klausel ersetzt, die Frauen als eine ,verletzliche Gruppe, die besonderen Schutz braucht‘ beschreibt. Gleichzeitig beginnen die Kräfte der islamischen Reaktion, die sich ermutigt fühlen, die politische und soziale Landschaft der Türkei zu verändern, auch in Städten wie Istanbul. Einige Behörden organisieren die Arbeitszeiten entsprechend der Gebetszeiten, und in höheren Schulen werden Jungen und Mädchen getrennt, eine völlig reaktionäre Maßnahme. Während des Ramadan letzten Herbst, der für Muslime heilig ist, servierten die meisten Restaurants keinen Alkohol mehr und die Polizei verprügelte brutal Menschen, die rauchten und Alkohol tranken. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der politische Islam im Nahen Osten im Aufstieg begriffen, und das hat Auswirkungen, wie man ganz offensichtlich in Istanbul sieht, wo Schleier und Kopftuch immer mehr in den Vordergrund treten – heute verhüllen sich mehr als 60 Prozent der türkischen Frauen in irgendeiner Form.“

Heute, vier Jahre später, hat sich die Lage noch verschlimmert: Die Türkei ist in Europa eines der Länder, in dem Gewalt gegen Frauen am weitesten verbreitet ist (Economist, 12. Mai 2011).

Wir sind Gegner des Schleiers, egal in welcher Form, er ist sowohl ein Symbol als auch ein Instrument der Frauenunterdrückung. Gleichzeitig sind wir aber gegen staatliche Verbote oder Restriktionen gegen den Schleier. Als Marxisten treten wir für die Trennung von Religion und Staat ein und fordern kostenlose säkulare Bildung für alle. Uns ist klar, dass islamische Fundamentalisten jede Lockerung des Kopftuch- und Schleierverbots dazu benutzen, Druck auf Frauen auszuüben, sich zu bedecken. Genau das passiert zurzeit in Tunesien: Berichten zufolge wurden Lehrerinnen, die keinen Schleier trugen, niedergebrüllt, so dass sie ihren Unterricht nicht abhalten konnten, ihr Unterricht wurde boykottiert oder sie wurden sogar selbst tätlich angegriffen. Frauen, die in Geschäften arbeiten, werden von Männern angegangen, sie sollten zu Hause bleiben und nicht arbeiten. An der Universität von Gabès im Südosten des Landes gelang es Salafisten, eine Aufteilung der Mensa in getrennte Bereiche für Männer und Frauen durchzusetzen. Ein Artikel in La Presse de Tunisie (7. November 2011) bemerkte, dass „Belästigungen von Frauen auf der Straße, an der Universität und an bestimmten Arbeitsplätzen tatsächlich schon im letzten Februar begannen, einige Wochen nach der Revolution von Freiheit und Würde. Doch diese Belästigungen haben sich seit den Wahlen vom 23. Oktober verschlimmert, als Ennahda eine relative Mehrheit in der konstituierenden Versammlung bekam.“

Ennahda erklärt, dass sie mit diesen Angriffen auf Frauenrechte nichts zu tun habe, doch ihren Sprechern wird häufig vorgeworfen, dass sie der jeweiligen Zuhörerschaft nach dem Munde reden. Eine der prominentesten Vertreterinnen von Ennahda während des Wahlkampfes war eine gewisse Souad Abderrahim, eine 47-jährige Geschäftsfrau und Apothekerin, die keinen Schleier trägt und oft als Verkörperung des „Glamours“ der modernen tunesischen Frau dargestellt wird. In einer Rundfunkdebatte tönte Abderrahim, dass unverheiratete Frauen mit Kindern „eine Schande“ seien und „keinen gesetzlichen Rahmen erwarten sollen, der ihre Rechte schützt“. Einfach nur ekelerregend war, was sie noch hinzufügte: Solche Frauen hätten „ethisch gesehen kein Existenzrecht“ (Libération, 10. November 2011).

Für Abderrahim und ihresgleichen haben nur verheiratete Frauen innerhalb des Rahmens der Familie ein „Existenzrecht“ und das Recht, Kinder zu bekommen. Dies berührt den eigentlichen Kern der Frauenunterdrückung, die in der Klassengesellschaft und der repressiven Institution der Familie wurzelt. Die Familie ist für die kapitalistische Gesellschaft grundlegend. Man kann sie nicht einfach abschaffen. Stattdessen müssen die von ihr erfüllten sozialen Aufgaben wie Hausarbeit, Kinderbetreuung, Essenszubereitung usw. durch gesellschaftliche Einrichtungen übernommen werden. Doch die Perspektive der Ersetzung der Familie erfordert einen enormen Sprung in der gesellschaftlichen Entwicklung, der nur durch das Hinwegfegen der kapitalistischen Herrschaft weltweit und deren Ersetzung durch eine rationale, demokratisch geplante Wirtschaft zu erreichen ist. Weil die Frauenunterdrückung ein fester Bestandteil der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse ist und von der Religion ideologisch gestützt wird, kann Frauenunterdrückung in der kapitalistischen Gesellschaft nicht beseitigt werden. Gleichzeitig wird es ohne einen Kampf zur Abschaffung der Frauenunterdrückung, die alle Formen gesellschaftlicher Rückständigkeit verstärkt, keine proletarische Revolution geben.

Für permanente Revolution in Tunesien

In Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung wie Tunesien bindet die angeborene Schwäche der nationalen Bourgeoisie das Land so fest an den Imperialismus, dass selbst die elementarsten demokratischen Aufgaben, wie zum Beispiel rechtliche Gleichheit der Frauen, völlige Trennung von Religion und Staat und eine Agrarrevolution, die den Bauern Land gibt, nicht ohne den Sturz der kapitalistischen Ordnung zu lösen sind. Darüber hinaus erfordert die Konsolidierung proletarischer Herrschaft ihre internationale Ausweitung auf die imperialistischen Zentren, insbesondere auf Frankreich, den ehemaligen kolonialen Unterdrücker. Genau darum geht es im Wesentlichen bei Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.

Eine Arbeiterrevolution in Tunesien, die der Kapitalistenklasse in einem arabischen Land die Macht entreißt, hätte gewaltige Auswirkungen auf die gesamte Region. Sie würde sofort in den imperialistischen Ländern Widerhall finden, vor allem in Frankreich, wo mehrere Millionen Menschen nordafrikanischer Herkunft leben, konzentriert im Proletariat und in den unterdrücktesten Schichten der Bevölkerung. Sie sind die lebendige Brücke für eine sozialistische Revolution auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Um die kapitalistische Ordnung zu stürzen, braucht die Arbeiterklasse eine revolutionäre Arbeiterpartei, die nur in unversöhnlichem Kampf gegen alle bürgerlichen Kräfte aufgebaut werden kann. Wir kämpfen für die Wiederschmiedung der Vierten Internationale, die von Trotzki auf der Grundlage des Vermächtnisses der Oktoberrevolution gegründet wurde.

 

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