Documents in: Bahasa Indonesia Deutsch Español Français Italiano Japanese Polski Português Russian Chinese
International Communist League
Home Spartacist, theoretical and documentary repository of the ICL, incorporating Women & Revolution Workers Vanguard, biweekly organ of the Spartacist League/U.S. Periodicals and directory of the sections of the ICL ICL Declaration of Principles in multiple languages Other literature of the ICL ICL events

Abonniert Spartakist, Zeitung der Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands

Archiv

Druckversion dieses Artikels

Spartakist Nummer 192

März 2012

Ägypten

Militär, Islamisten bedrohen Frauen, Kopten, Arbeiter

Für eine Arbeiter- und Bauernregierung!

Folgender Artikel ist übersetzt nach Workers Vanguard Nr. 994, 20. Januar, Zeitung der Genossen der Spartacist League/U.S.

14. Januar – Als im November der Beginn der Parlamentswahlen näher rückte, brachen fast ein Jahr nach dem Sturz des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak auf Kairos Tahrir-Platz und in Städten überall in Ägypten Massenproteste aus, die ein Ende der Militärherrschaft forderten. Polizei und Militär griffen Demonstranten mit Peitschen, Elektroschockern, Schlagstöcken und scharfer Munition an und töteten Dutzende. Es ist bei weitem nicht sicher, ob der herrschende Oberste Militärrat überhaupt die Absicht hat, die Errichtung einer Zivilregierung zuzulassen. Es ist sehr beunruhigend, dass die Islamisten, die größte organisierte Oppositionsgruppe, bei den Wahlen haushohe Gewinne einfuhren, wobei die reaktionäre Muslimbruderschaft und die sogar noch verhärteteren Salafisten zusammen etwa 70 Prozent der Stimmen bekamen.

Der Aufstand vom vergangenen Winter stürzte Mubaraks verhasstes vom Militär unterstütztes Regime, endete aber in einer noch unverhüllteren Diktatur der Streitkräfte. Damals bejubelten die bürgerlichen Medien und fast die gesamte internationale Linke dies als ägyptische „Revolution“. Seit seiner Machtübernahme hat der Militärrat die Polizeigewalt des kapitalistischen Staates ausgebaut und gegen soziale Unruhen hart durchgegriffen. Genau davor warnten wir damals entgegen weit verbreiteten Illusionen, dass „Armee und Volk Hand in Hand“ gehen würden.

Die Repressionsmaßnahmen des Militärs richten sich vor allem gegen die widerspenstige Arbeiterklasse. Innerhalb weniger Monate nach Mubaraks Sturz verbot das Regime Streiks und Demonstrationen. Im September weitete der Militärrat das verhasste Notstandsgesetz aus und setzt es jetzt auch bei Beschädigung von Staatseigentum, bei Arbeitsunterbrechungen und bei Demonstrationen, durch die Straßen blockiert werden, durch. Zwischen Februar und September wurden mindestens 12 000 Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, mehr als unter Mubaraks 30-jähriger Herrschaft. Als der erste Jahrestag des Ausbruchs der Massenproteste herannahte, verschob das Regime die Urteilsverkündung im Prozess gegen Mubarak, der wegen Anordnung des Mordes an Demonstranten vor Gericht steht.

Die bedrückenden Lebensbedingungen im neokolonialen Ägypten haben enorme Wut hervorgebracht. In einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung von 1,50 Euro oder weniger am Tag leben, verbrauchen viele Familien über die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel. Als sich 2008 die Preise für Grundnahrungsmittel verdoppelten, brachen im ganzen Land Unruhen aus. Heute droht das Militärregime, die Brotsubventionierung zu kürzen. Arbeitslosigkeit grassiert und betrifft ein Viertel aller Jugendlichen und 60 Prozent der ländlichen Bevölkerung. Die Bauernschaft, über 30 Prozent der Bevölkerung Ägyptens, schuftet unter Bedingungen, die sich seit der Zeit der Pharaonen kaum geändert haben. Unterernährung und Anämie sind weit verbreitet. Die meisten Bauern sind entweder Kleinbauern mit weniger als einem halben Hektar Land, Pächter oder ländliche Wanderarbeiter. Durch Polizeistaatsgewalt wird die schreckliche Verarmung weiterhin nachdrücklich bekräftigt. Wie ein streikender Arbeiter erklärte, gibt es keine Arbeitsplätze, kein Geld, keine Nahrungsmittel, und diejenigen, die sich darüber beschweren, werden ins Gefängnis geworfen.

Die Führung der Proteste vom letzten Frühjahr hatte nichts anzubieten, um die materiellen Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung zu erleichtern, ordnete stattdessen alles der Frage von Wahldemokratie unter und predigte die nationalistische Lüge, Ägypter aller Klassen hätten die gleichen Interessen. Wie wir kurz vor Mubaraks Sturz betonten: „In Ägypten geht es heute dringend darum, dass das machtvolle Proletariat – die einzige Klasse mit der sozialen Macht, die brutale und marode kapitalistische Ordnung zu stürzen – als Führer aller unterdrückten Massen hervortritt“ („Egypt: Mass Upheaval Challenges Dictatorship“ [Ägypten: Massenerhebung fordert Diktatur heraus], WV Nr. 973, 4. Februar 2011).

Die Industriearbeiterklasse hat ihre soziale Macht und ihre Kampfbereitschaft umfassend bewiesen, besonders in der Textilindustrie. Streikwellen überrollen weiterhin das Land. Busfahrer, Textilarbeiter, öffentlich Bedienstete und andere kämpften, um ihre Gewerkschaften und ihren Lebensunterhalt zu verteidigen. Doch damit das Proletariat eigenständig als Anwärter auf die Macht auftreten kann, muss es einen enormen Sprung im politischen Bewusstsein vollziehen. Es muss von nationalistischen Illusionen und religiöser Reaktion gebrochen und für die Verteidigung aller Unterdrückten in der kapitalistischen Gesellschaft gewonnen werden. Dafür ist die Führung durch eine proletarische Avantgardepartei nötig, die sich im Kampf für eine proletarische Revolution gegen alle bürgerlichen Kräfte stellt – vom Militär und der liberalen Opposition bis hin zum reaktionären politischen Islam.

Das Militär und die Islamisten

Es fehlt eine revolutionäre proletarische Alternative, die die Lebensbedürfnisse der Volksmassen aufgreifen kann, und derweil sind die Wahlergebnisse ein Ausdruck davon, wie sehr die politisch organisierte Religion die Geknechteten im Griff hat. Das reaktionäre Ziel der Muslimbruderschaft findet Ausdruck in der Losung „der Koran ist unsere Verfassung“. Sie preist sich als zivile Alternative zur Militärherrschaft an und würde heute jede gewählte Regierung dominieren. Ihre selbsterklärte „Toleranz“ gegenüber koptischen Christen wird von ihrer langen Geschichte des organisierten Terrors Lügen gestraft. Das historische Ziel der Bruderschaft, einen islamischen Staat zu errichten, brachte sie oft in gewaltsamen Konflikt mit der ägyptischen Regierung; dennoch haben aufeinanderfolgende Regime die Islamisten auf vielfältige Weise ermutigt und als Rammbock gegen Arbeiter, Linke, Frauen und Minderheiten benutzt.

Das Militär, die Polizei und die Islamisten haben sich alle an den jüngsten Angriffen auf Frauen und die koptisch-christliche Minderheit, die etwa 10 Prozent der Bevölkerung ausmacht, beteiligt. Am 9. Oktober wurden Demonstranten, die sich aus Protest gegen das Niederbrennen koptischer Kirchen vor dem staatlichen TV-Sender im Kairoer Maspero-Viertel versammelten, von uniformierten Militärs und islamistischem Mob angegriffen. Im Zusammenspiel mit Armee und Bereitschaftspolizei zogen bewaffnete Schläger durch die Straßen, um Christen aufzuspüren, darunter Frauen und Kinder, ermordeten mehr als 20 Leute und verletzten und verstümmelten Hunderte.

Frauen gerieten bald nach der Machtübernahme des Militärs ins Fadenkreuz. Brutale Schläger griffen am 8. März 2011 eine Demonstration zum Internationalen Frauentag in Kairo unter Rufen wie „das Volk will, dass Frauen sich unterordnen“ und „der Koran ist unser Herrscher“ an. In einem Akt kalkulierter Demütigung wurden Frauen, die am nächsten Tag bei einer Protestveranstaltung festgenommen wurden, zwangsweise einem „Jungfräulichkeits“test unterzogen. Das Bild einer jungen Frau mit teilweise heruntergerissener Kleidung, die bei einer Demonstration im Dezember von Schlägern des Militärs durch die Straßen gezerrt wurde, wurde zum Symbol für die öffentliche Erniedrigung von Frauen. Dies brachte dem Regime eine Zurechtweisung durch seine US-Schutzherren ein; Hillary Clinton kommentierte, ein solches Betragen „entehrt die Revolution“.

Reformismus ist eine Sackgasse

Im Dezember begannen die Islamisten eine bösartige Kampagne gegen die Revolutionären Sozialisten (RS), welche von staatlichen Sicherheitskräften aufgegriffen und in einem Großteil der bürgerlichen Medien verbreitet wurde. Die Zeitung der Muslimbruderschaft verleumdete die RS in einem Titelseitenartikel als gewalttätig, und die salafistische Partei Al Nur bezichtigte die Organisation der „Anarchie“ und der Finanzierung durch die CIA, was sie direkt staatlicher Repression ausliefert. Es liegt im Interesse der gesamten Arbeiterklasse, die RS zu verteidigen und solch verleumderische Angriffe zurückzuschlagen, die als Botschaft an alle Linken und die Arbeiterbewegung als Ganzes gedacht sind.

Zusammen mit ihren Gesinnungsgenossen der vom verstorbenen Tony Cliff gegründeten internationalen Tendenz begegneten die RS diesem Angriff durch die Organisierung einer öffentlichen Verteidigungskampagne. Gleichzeitig waren sie bestürzt darüber, dass sich die Muslimbruderschaft an der Hexenjagd beteiligt hatte: „Der Angriff prominenter Mitglieder der Bruderschaft auf die Revolutionären Sozialisten rief Empörung hervor, weil die RS auf dem Höhepunkt von Mubaraks Kampagne gegen die Islamisten eine solch zentrale Rolle bei der Verteidigung der Bruderschaft gespielt hatten“ (socialistworker.co.uk, 26. Dezember). Bei den Massenprotesten vom letzten Jahr begrüßten die RS die Bruderschaft als Verbündete im Kampf gegen die Diktatur und posteten auf der RS-Website sogar eine Erklärung der Bruderschaft, komplett mit deren Emblem, den gekreuzten Schwertern als Wiege des Koran. Die eingefleischten Nachtrabpolitiker der RS verfolgen weiterhin ein Bündnis mit den Kräften der religiösen Reaktion, selbst jetzt, wo sie deren Opfer sind.

Im März 2011 gab die Militärregierung ein Gesetz heraus, das die Bildung von Parteien regelt. Unter dem Vorwand der Verteidigung des Säkularismus gegen die Islamisten nimmt das Gesetz sowohl Organisationen der Arbeiterklasse ins Visier als auch jene, die Frauen und unterdrückte Minderheiten vertreten wollen. Es bekräftigt ein reaktionäres Verbot von 1977 für Parteien, die auf „Religion, Klasse, Sekte, Beruf oder Geografie“ basieren, oder „auf der Grundlage von Geschlecht, Sprache, Religion oder Glauben“ beruhen („The Main Features of the Amended Law on Political Parties 2011“, www.sis.dov.eg).

Wie wir letztes Jahr in einer Polemik gegen die RS und ihre internationalen Gesinnungsgenossen schrieben, sind wir gegen den „bankrotten reformistischen Bezugsrahmen, der der Arbeiterklasse in Ägypten nur zwei ,Wahlmöglichkeiten‘ lässt: entweder vor dem ,säkularen‘ vom Militär gestützten bürgerlich-nationalistischen Regime zu kapitulieren oder vor dem politischen Islam. Tatsächlich sind dies nur alternative Arten kapitalistischer Klassenherrschaft, des Systems, das seinen Herrschern riesigen Reichtum und den städtischen und ländlichen Massen schreckliche Armut garantiert“ („Pandering to Reactionary Muslim Brotherhood“ [Appelle an reaktionäre Muslimbruderschaft], WV Nr. 974, 18. Februar 2011).

Die drei wichtigsten Wahlblöcke – die der Muslimbruderschaft, der Salafisten und der bürgerlichen Liberalen – haben in ihren Wahlkampagnen alle die Arbeiterklasse ins Visier genommen und Streiks ausdrücklich verurteilt. Die weit verbreiteten Streiks und Proteste letztes Jahr ermöglichten es linken Organisationen, stärker in der Öffentlichkeit aufzutreten, aber in dieser Situation wurde auch deutlich, welches Hindernis die reformistischen Organisationen darstellen beim Kampf für den Aufbau einer revolutionären Partei, die die Arbeiterklasse, armen Bauern und alle Unterdrückten vertritt.

Die mit den RS verbundene Demokratische Arbeiterpartei (DWP) wirbt für sich als Vertreterin der Interessen der Arbeiterklasse. Zusammen mit anderen linken Organisationen und prominenten Persönlichkeiten, wie der feministischen Schriftstellerin Nawal El-Saadawi, rief die DWP aus Protest gegen die Brutalität des Militärregimes zum Boykott der Wahlen auf. Das Programm der DWP erhebt keinen Anspruch auf Sozialismus, fordert stattdessen „die Errichtung einer parlamentarischen Republik“ (International Socialism, 28. Juni 2011). Dies ist einfach nur der Ruf nach einer bestimmten Art von bürgerlicher Regierung.

Die Reformisten werben für die Forderung nach einer parlamentarischen Republik und verknüpfen so zu Unrecht die demokratischen Sehnsüchte der Bevölkerung mit der Klassenherrschaft der ägyptischen Bourgeoisie. In Ägypten, wo aufeinanderfolgende Parlamente der Militärdiktatur als Feigenblatt gedient haben, haben die Massen zu Recht den tief empfundenen Wunsch nach politischer Demokratie einschließlich Presse- und Versammlungsfreiheit. Doch die brennenden Bedürfnisse der ägyptischen Massen – von grundlegenden demokratischen Rechten über Frauenemanzipation und Beseitigung der extremen städtischen und ländlichen Armut – können nur durch die Abschaffung der kapitalistischen Ordnung und die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung in Angriff genommen werden. Wie der bolschewistische Führer W. I. Lenin schrieb:

„Allein die Diktatur des Proletariats ist imstande, die Menschheit vom Joch des Kapitals, von Lug und Trug, von der Heuchelei der bürgerlichen Demokratie, dieser Demokratie für die Reichen, zu befreien, sie allein ist imstande, eine Demokratie für die Armen zu errichten, d. h. die Vorzüge der Demokratie den Arbeitern und den armen Bauern wirklich zugänglich zu machen, während diese Vorzüge jetzt (selbst in der demokratischsten – bürgerlichen – Republik) der übergroßen Mehrheit der Werktätigen in Wirklichkeit versagt sind.“ (W. I. Lenin, „Über ,Demokratie‘ und Diktatur“, Dezember 1918)

Imperialismus und die Maske der „Menschenrechte“

Die imperialistischen Herrscher sind schon immer Experten darin, ihre blutigen Raubzüge mit Phrasen von „Menschenrechten“ und „Demokratie“ zu bemänteln. Bürgerliche Liberale, die angeblichen „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs) und die reformistische Linke haben ihren Teil dazu beigetragen, dieses Bild auszuschmücken. In Libyen führten die Imperialisten ihr Terrorbombardement, das zum Sturz und zur Ermordung von Oberst Muammar al-Gaddafi führte, mit Genehmigung durch die Vereinten Nationen unter einem „humanitären“ Banner durch. Ein Großteil der reformistischen Linken weltweit bejubelte die „arabische Revolution“ gegen Diktatur, marschierte bei der Kampagne der Imperialisten mit und pries die libyschen „Aufständischen“, die willige Werkzeuge des NATO-Angriffs waren. Die RS begeisterten sich über das von Aufständischen kontrollierte „befreite Libyen“, wo „alle Institutionen einschließlich der Gerichte, der Streitkräfte, der Polizei und der Gefängnisse unter der demokratischen Kontrolle des Volkes sind“ (Center for Socialist Studies, 4. März 2011).

Die libyschen „Aufständischen“ setzten sich zusammen aus einer Ansammlung von Abtrünnigen des Gaddafi-Regimes, Monarchisten, islamischen Fundamentalisten, ehemaligen CIA-Agenten, Stammesführern und anderen. Sie lieferten einen Vorwand für das imperialistische Bombardement, dienten den Imperialisten als Bodentruppen und verübten in den von ihnen eroberten Gebieten Pogrome gegen schwarzafrikanische Immigranten. Am Tag nach Beginn des imperialistischen Bombardements veröffentlichte die Internationale Kommunistische Liga eine Erklärung mit einer Perspektive des proletarischen Internationalismus. Wir gaben Gaddafi keine politische Unterstützung, riefen aber „die Arbeiter aller Länder dazu auf, Stellung zu beziehen für die militärische Verteidigung des halbkolonialen Libyens“. Wir fügten hinzu: „Von Indochina und der koreanischen Halbinsel bis zur heutigen Besetzung des Iraks und Afghanistans unter Führung der USA waten die imperialistischen Herrscher im Blut von Millionen und Abermillionen ihrer Opfer“ („Verteidigt Libyen gegen imperialistische Angriffe!“, abgedruckt in Spartakist-Extra, 20. März 2011).

Ägypten war und bleibt ein Hauptempfänger von US-Militärhilfe in Höhe von knapp einer Milliarde Euro im Jahr. Gleichzeitig haben die Imperialisten – worüber sich der Militärrat bitter beklagt – auch „demokratische“ Oppositionsgruppen gefördert, um ihren Operationen ein humanitäres Mäntelchen umzuhängen und die Protestbewegungen zu beeinflussen. Und jetzt, wo die Islamisten wegen ihres Wahlsiegs obenauf sind, hielt die Obama-Regierung hochrangige Treffen mit der Muslimbruderschaft ab, um engere Beziehungen zu knüpfen.

Seit Mubaraks Sturz haben die USA mehr als 30 Millionen Euro an ägyptische „Menschenrechts“gruppen verteilt. Im Dezember kündigte Britannien an, es wolle die an NGOs im Nahen Osten vergebenen Hilfsgelder verdoppeln. Einer der Hauptsponsoren von NGOs weltweit sind die Vereinten Nationen, die ihrerseits gegründet wurden, um den Raubzügen des Imperialismus, vor allem des amerikanischen, einen humanitären Anstrich zu verleihen. Die von den Imperialisten gebilligten und finanziell unterstützten NGOs sind von ihren imperialistischen Geldgebern also wohl kaum unabhängig.

Wie wenig Toleranz das ägyptische Militärregime für politische Aktivitäten aufbringt, selbst wenn diese von seinen eigenen imperialistischen Paten unterstützt werden, zeigte sich, als am 29. Dezember in den Büros von 17 NGOs Razzien durchgeführt wurden. Es traf auch die mit der CDU verbundene Konrad-Adenauer-Stiftung sowie das berüchtigte CIA-nahe Freedom House. Nachdem das US-Außenministerium seine „tiefe Besorgnis“ bekundet und mit einer Kürzung der Militärhilfe an Ägypten gedroht hatte, versprach das Regime, alles beschlagnahmte Material zurückzugeben und den NGOs die Wiederaufnahme ihrer normalen Tätigkeit zu gestatten.

Ein Artikel der New York Times vom 14. April 2011 über den „Arabischen Frühling“ berichtete: „Die Kampagnen der Vereinigten Staaten zur Schaffung von Demokratie haben bei der Entfachung der Proteste eine größere Rolle gespielt als bisher bekannt, zentrale Führer der Bewegungen wurden von Amerikanern ausgebildet.“ Ein Instrument dafür ist das Center for Applied NonViolent Action and Strategies (CANVAS) [Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategie], das „demokratiefreundliche“ Aktivisten darin unterweist, wie man Regime stürzt, die die Imperialisten ins Visier genommen haben, von Simbabwe über Iran bis Venezuela. In Ägypten ist die Aufgabe von Organisationen wie CANVAS, Massenproteste in für die Imperialisten akzeptable Bahnen zu lenken.

CANVAS stellt sich selbst in sehr verschwommenen Begriffen dar und erklärt, es erhalte keine Gelder irgendeiner Regierung und seine Zielsetzung sei „erzieherisch, nicht politisch“ (canvasopedia.org). Doch die Ziele von CANVAS werden durch seine Geschichte zur Genüge beleuchtet. Das Zentrum wurde von Slobodan Djinovic, dem Chef der größten privaten Internet- und Telefongesellschaft Serbiens, und Srdja Popovic, einem ehemaligen Parlamentsabgeordneten, gegründet. Beide waren Führer der serbischen Studenten-Oppositionsgruppe Otpor, die über imperialistische Kanäle wie National Endowment for Democracy, eine CIA-Frontorganisation, und die U.S. Agency for International Development, ebenfalls mit der CIA verbunden, finanziert wurde. Otpor stand an der Spitze der Proteste, die im Herbst 2000 den serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic stürzten. Diese Proteste waren im Grunde nichts anderes als die Fortsetzung des Bombenkriegs der NATO 1999 gegen Serbien, der unter dem Vorwand der Verteidigung der Kosovo-Albaner geführt wurde, nur mit anderen Mitteln. Die Jugendbewegung des 6. April, die von den bürgerlichen Medien wegen ihrer Rolle in der ägyptischen „Revolution“ gefeiert wird, nahm sich für ihr Logo das von Otpor zum Vorbild und benutzte CANVAS-Materialien zur Ausbildung ihrer Mitglieder.

Die Bewegung des 6. April gehört dem Revolution Youth Council (RYC) an, einem im vergangenen Winter gegründeten Block, der behauptet, für die Demonstranten vom Tahrir-Platz zu sprechen. Dem RYC gehören auch Vertreter der Muslimbruderschaft und Unterstützer des „demokratischen“ Oppositionellen Mohammed ElBaradei an. Die International Socialist Organization (ISO) aus den USA, ehemals der Cliff-Tendenz angeschlossen, bejubelte den RYC als „Ägyptens junge Revolutionäre“. Sowohl die Bewegung des 6. April als auch der RYC forderten, der Militärrat solle die Macht an eine „Regierung der nationalen Rettung“ unter ElBaradei abgeben, der nun bekanntgab, er werde sich aus dem Präsidentschaftswahlkampf zurückziehen, da das Militär nicht gewillt sei, die Macht an eine gewählte Regierung abzutreten. ElBaradei hat den Imperialisten schon seine Nützlichkeit bewiesen: Als Chef der UN-Nuklear-Überwachung trug er im Vorfeld der US-Invasion des Irak 2003 die Verantwortung für die Ermittlungen gegen dessen angebliche „Massenvernichtungswaffen“.

Für vom kapitalistischen Staat unabhängige Gewerkschaften!

In dem Jahrzehnt vor Mubaraks Sturz führte das ägyptische Proletariat eine ganze Welle von Kämpfen, über zwei Millionen Arbeiter beteiligten sich an über 3000 Streiks, Besetzungen und anderen Aktionen. Und dies trotz der korrupten Führung des unter staatlicher Leitung stehenden Ägyptischen Gewerkschaftsbundes (ETUF), der einzigen legal anerkannten gewerkschaftlichen Organisation, dessen Vorläufer von Oberst Gamal Abdel Nasser 1957 ins Leben gerufen worden war. Mehr als zwei Jahrzehnte lang war üblicherweise der Präsident des Gewerkschaftsbundes gleichzeitig Arbeitsminister. Die ETUF-Führung, die als Statthalter der ägyptischen Diktatur innerhalb der Arbeiterbewegung fungierte, weigerte sich Streiks zu genehmigen, sabotierte Arbeiterkämpfe und denunzierte kämpferische Gewerkschafter, die sie so der Repression auslieferte.

Seit Mubaraks Sturz sind eine ganze Reihe neuer Gewerkschaften entstanden. Der Historiker Joel Beinin führt aus: „Einige unabhängige Gewerkschaften – wie die Cairo Joint Transport Authority der Busfahrer und Garagenarbeiter und die RETA-Gewerkschaft [Real Estate Tax Authority – Angestellte der Finanzbehörden] – sind recht groß und können auf die Loyalität einer großen Mehrheit in der potenziellen Tarifverhandlungseinheit rechnen. Andere wiederum haben nur fünfzig bis hundert Mitglieder in Betrieben, die Hunderte oder Tausende beschäftigen“ („What Have Workers Gained from Egypt’s Revolution?“ [Wie haben Arbeiter von der ägyptischen Revolution profitiert?] Foreign Policy, 20. Juli 2011). Der im vergangenen Januar gegründete Ägyptische Verband unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) wurde von den Führern der AFL-CIO [US-Gewerkschaftsdachverband] und des britischen Trades Union Congress, Gewerkschaftsbürokraten, die als Agenten ihrer imperialistischen herrschenden Klassen agieren, wie auch von reformistischen „Sozialisten“ gefeiert.

Wenngleich der EFITU nicht unmittelbar unter der Leitung des ägyptischen Staates steht, ist er politisch nicht unabhängig von den kapitalistischen Herrschern. Beinin berichtet anerkennend, dass der EFITU und andere Organisationen einen Prozess anstrengten mit der Forderung, das Militärregime solle die ETUF auflösen und ihre Guthaben beschlagnahmen, was das Militär auch tat. Dies war eine offene Einladung an den Staat der Bosse, nicht nur die ETUF-Gewerkschaften, sondern auch die Arbeiterbewegung insgesamt anzugreifen, und führt dazu, die Bindungen der Gewerkschaftsbewegung an den Staat zu erneuern. Die Herausbildung einer neuen, klassenkämpferischen Führung in den Gewerkschaften – einer Führung, die für starke, vom kapitalistischen Staat unabhängige Industriegewerkschaften kämpft – ist ein entscheidender Teil des Kampfes zum Aufbau der dringend benötigten revolutionären Arbeiterpartei.

Bankrotter Nationalismus brütet religiöse Reaktion

Der ägyptische Nationalismus, der aus einer Geschichte imperialistischer Unterjochung geboren wurde, dient den kapitalistischen Herrschern des Landes seit langem dazu, die Klassenkluft zwischen der winzigen Schicht Stinkreicher an der Spitze und der brutal ausgebeuteten und verarmten Arbeiterklasse zu verschleiern. Anstatt dafür zu kämpfen, die Arbeiterklasse von diesen Illusionen zu brechen, haben linke Organisationen, darunter die RS, sie darin noch bestärkt. Unter Bezugnahme auf die 1950er-/60er-Jahre, als der linksnationalistische starke Mann Nasser im Nahen Osten beträchtlichen Einfluss hatte, erklärten die RS: „Die Revolution muss Ägyptens Unabhängigkeit, Würde und Führerschaft der Region wiederherstellen“ (siehe „Ägypten: Militär übernimmt kapitalistisches Regime“, Spartakist Nr. 187, März 2011).

Nassers bürgerliches Regime, das heute von der ägyptischen Linken immer noch verklärt wird, kam in einer Periode von Massenprotesten und Streiks nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Militärputsch an die Macht. Streitkräfte unter der Führung von Oberst Nasser stürzten 1952 die Monarchie von König Faruk, kurz danach folgte der Abzug der britischen Truppen. Nasser wurde weithin als „Antiimperialist“ anerkannt, vor allem nach der Verstaatlichung des Suez-Kanals, aber Ägypten blieb ein letztendlich dem Imperialismus untergeordnetes verarmtes Land.

Nasser gelang es, die Herrschaft der Kapitalistenklasse zu stabilisieren, zum Teil durch Zugeständnisse – wie z. B. partielle Landverteilung, Lohnerhöhungen und erweiterten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung –, aber ganz besonders durch brutale Repression. Um seine Herrschaft zu festigen, unterdrückte Nasser die Kommunisten, er kerkerte sie ein, folterte und tötete sie. Doch trotz dieser brutalen Unterdrückung führte die stalinistische Kommunistische Partei ihre auf Klassenzusammenarbeit ausgerichtete Unterstützung Nassers fort und löste sich 1965 in seine Arabische Sozialistische Union auf. Die Sowjetunion stellte Nassers Regime wirtschaftliche und militärische Hilfe zur Verfügung, was ihm einen gewissen Grad der Unabhängigkeit von imperialistischer Kontrolle gestattete, der heutzutage nicht mehr möglich wäre.

Der Bankrott des säkularen Nationalismus wie auch des Stalinismus – Kräfte, die einst unter den Armen und Unterdrückten der Region eine beherrschende Rolle spielten – nährte den dramatischen Aufstieg des politischen Islam. Die Islamisten, von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten großzügig finanziert, bauten sich trotz offiziellen Verbots eine Massenbasis auf, hauptsächlich durch die Bereitstellung wohltätiger und sozialer Dienste für die Volksmassen, denen der bürgerliche Staat nichts zu bieten hat als elende Armut und Polizeirepression. Die amerikanische Journalistin Mary Anne Weaver beschrieb ihre Erfahrungen in Kairos Slum Imbaba folgendermaßen:

„Die Islamisten unter der Führung der Bruderschaft hatten hier ihr eigenes Sozial- und Wohlfahrtssystem errichtet, das mit dem des Staates konkurrierte. Von der Dschama’a [islamistische Hardliner] kontrollierte ,Volks‘-Moscheen hatten Gesundheitsambulanzen und Schulen errichtet, für die man nur wenig bezahlen musste, ebenso Kindertagesstätten und Möbelfabriken zur Beschäftigung der Arbeitslosen, und sie boten den Armen Fleisch zu Großhandelspreisen an. Trotz eines aggressiven, Ende 1994 von der Regierung aufgelegten Zehn-Millionen-Dollar-Sozialprogramms blieben die Einrichtungen der Islamisten im Allgemeinen weit effizienter und den heruntergekommenen Regierungseinrichtungen weit überlegen.“ (A Portrait of Egypt, 1999)

Heute versuchen die Islamisten wieder in der organisierten Arbeiterklasse Fuß zu fassen, wo sie historisch wenig Unterstützung hatten. Im Jahre 1946, als sie bei einer Schicht von Industriearbeitern Gehör fanden, spielten sie eine Streikbrecherrolle. Die Muslimbrüder wandten sich gegen bedeutende Streiks in der Textilfabrik von Schubra al-Chaima und ihre Zeitung verbreitete antikommunistisches und antisemitisches Gift. Als die Streikführer bei einem Streik im Januar jenes Jahres verhaftet wurden, verurteilte die Bruderschaft sie mit den Worten, sie seien „Mitglieder kommunistischer Zellen, die von Juden angeführt werden“. Bei einem Streik in derselben Fabrik im Juni „gab [die Bruderschaft] Namen und Adressen des Streikkomitees an die Polizei weiter“ (Joel Beinin und Zachary Lockman, Workers on the Nile, 1998).

Cliff-Anhänger und Islam: die Hand füttern, die einen beißt

Die RS und ihre Gesinnungsgenossen in der britischen Socialist Workers Party (SWP) haben keine Mühen gescheut, Illusionen in die Muslimbruderschaft zu verstärken und sie als potenziellen Verbündeten der Arbeiterklasse im Kampf gegen Imperialismus und kapitalistische Unterdrückung zu propagieren. In einem im Middle East Report (Frühjahr 2007) veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Comrades and Brothers“ [Genossen und Brüder] prahlte der RS-Wortführer Hossam El-Hamalawy, seine Organisation „drängte auf enge Zusammenarbeit“ mit der Bruderschaft, und er pries deren „brüderlichen Geist“. Vor einem halben Jahr beklagte der ägyptische Cliff-Unterstützer Sameh Naguib in einem in der Socialist Review (Juni 2011) der SWP abgedruckten Artikel mit dem Titel „The Islamists and the Egyptian Revolution“ [Die Islamisten und die ägyptische Revolution] den „Zustand der Hysterie“ unter Linken und Liberalen über die wiederaufsteigende islamistische Bewegung. Naguib ging so weit, jene zu verurteilen, „die sich in Diskussionen über Artikel 2 der Verfassung hineinziehen lassen, in dem der Islam als ,Staatsreligion … und das islamische Recht als höchste Quelle der Rechtsprechung‘ verankert sind“.

Lange zuvor schon hatte sich der SWP-Führer Chris Harman in einem grundlegenden Artikel in International Socialism (Herbst 1994) mit dem Titel „Der Prophet und das Proletariat“ sehr bemüht, den politischen Islam vorteilhaft darzustellen, denn dieser habe „die Gesellschaft transformieren und nicht in den alten Bahnen konservieren“ wollen und „antiimperialistische Losungen aufgenommen und manche antiimperialistische Handlung getätigt, die sehr bedeutsame nationale und internationale kapitalistische Interessen in Verlegenheit gebracht haben“ (deutsche Übersetzung entnommen aus VGZA e. V., Frankfurt am Main — Edition Aurora). Dies war die gleiche kriminelle Linie, die vom Großteil der internationalen Linken vertreten wurde, um beim Massenaufstand im Iran Ende der 1970er-Jahre gegen den bluttriefenden, von den USA unterstützten Schah die Kräfte des Ajatollah Chomeini zu unterstützen. Das Ergebnis war die Enthauptung der kämpferischen Arbeiterklasse, denn Kommunisten und andere Linke wurden massakriert, Frauen noch mehr versklavt und nationale und andere Minderheiten vom neuen islamischen Regime brutal unterdrückt.

Auch wenn die SWP noch so viele Bände mit Unsinn über die „antiimperialistische Haltung“ der Bruderschaft füllt: Die Islamisten, einschließlich der Bruderschaft, waren von jeher willige Werkzeuge des Imperialismus gegen Kommunisten, modernisierende Nationalisten und säkulare Liberale. Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs förderte und finanzierte der US-Imperialismus die Bruderschaft im Rahmen seines Kalten Krieges gegen den Kommunismus. Dies war ein Ausdruck der Politik, die John Foster Dulles, der später Eisenhowers Außenminister werden sollte, 1950 so beschrieb: „Die Religionen des Ostens sind tief verwurzelt und haben viele kostbare Werte. Ihre geistlichen Überzeugungen können nicht mit kommunistischem Atheismus und Materialismus in Einklang gebracht werden. Das schafft ein gemeinsames Band zwischen uns, und unsere Aufgabe ist, es zu finden und zu entwickeln.“

Die Cliff-Tendenz hat eine lange Geschichte der Parteinahme für die Kräfte der islamischen Reaktion, so bejubelten sie etwa die Mudschaheddin – antisowjetische „heilige Krieger“ – im Afghanistan der 1980er-Jahre. Die Imperialisten schleusten in der größten CIA-Operation der Geschichte riesige Mengen an Waffen und Geld zu den islamistischen Terroristen. Die Muslimbruderschaft stellte ein bedeutendes Kontingent der Mudschaheddin, die ihren Dschihad gegen die von der Sowjetunion unterstützte modernisierende nationalistische Regierung entfachten, als das Regime Reformen wie die Herabsetzung des Brautpreises einführte. Im ersten Krieg der modernen Geschichte, in der die Stellung der Frauen eine zentrale Rolle spielte, kämpfte die sowjetische Rote Armee gegen islamische Fundamentalisten, die unverschleierten Frauen Säure ins Gesicht gossen und Lehrer töteten, die Mädchen das Lesen beibrachten.

Wir begrüßten die Rote Armee in Afghanistan. Ihre Anwesenheit eröffnete die Möglichkeit, die Errungenschaften der Russischen Revolution von 1917 auf Afghanistan auszuweiten – die Teile Zentralasiens, die in die Sowjetunion eingegliedert worden waren, hatten sich um Jahrhunderte über die mittelalterlichen Bedingungen hinaus fortentwickelt, die in Afghanistan vorherrschten. Der Rückzug der sowjetischen Truppen 1988/89 war ein Verrat der stalinistischen Moskauer Bürokratie, die zuließ, dass das Land in Rückständigkeit und mörderischem Blutvergießen versank. Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan war der Vorbote des Zusammenbruchs der Sowjetunion selbst.

Die Sowjetunion repräsentierte trotz ihrer Deformierung durch die parasitäre Herrschaft einer Bürokratenkaste die Diktatur der Arbeiterklasse. Als die UdSSR 1991/92 durch kapitalistische Konterrevolution zerstört wurde, begrüßte die SWP dies und verkündete: „Der Kommunismus ist zusammengebrochen“, und fügte hinzu: „Diese Tatsache sollte für jeden Sozialisten Grund zum Jubel sein“ (Socialist Worker [Britannien], 31. August 1991). Das Ende der Sowjetunion war eine schwere Niederlage der Werktätigen und Unterdrückten weltweit und hatte eine weit gefährlichere Welt zur Folge, in der der US-Imperialismus freie Hand hat und die Kräfte religiöser und sozialer Reaktion stärker geworden sind.

Permanente Revolution

Die bolschewistische Revolution prägte das 20. Jahrhundert. Die Arbeiterklasse ergriff die Staatsmacht und führte die Bauernschaft, die nationalen Minderheiten und alle Unterdrückten zum Sturz der bürgerlichen Herrschaft und fegte dabei auch die zaristische Autokratie und die Staatskirche hinweg. Die Diktatur des Proletariats wurde errichtet und so die Werktätigen von kapitalistischer Ausbeutung befreit. Die Revolution bestätigte die Theorie der permanenten Revolution, die Leo Trotzki 1904–06 entwickelt hatte. Trotzki hatte dargelegt, dass Russland trotz seiner wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit bereits einer kapitalistischen Weltwirtschaft angehörte, die für eine sozialistische Umwandlung reif war, was eine proletarische Revolution erforderte – nicht nur in rückständigen Ländern wie Russland, sondern vor allem in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten. Die Arbeiter in Russland, klein an der Zahl, aber strategisch in der Großindustrie konzentriert, konnten an die Macht kommen, noch bevor das Land eine längere Periode kapitalistischer Entwicklung vollzogen hatte. Ja, die Arbeiter in Russland mussten sogar an die Macht kommen, sollte Russland vom Joch seiner feudalistischen Vergangenheit befreit werden.

Wie Trotzki 1929 in Die permanente Revolution schrieb:

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen…

Die Diktatur des Proletariats, das als Führer der demokratischen Revolution zur Herrschaft gelangt ist, wird unvermeidlich und in kürzester Frist vor Aufgaben gestellt sein, die mit weitgehenden Eingriffen in die bürgerlichen Eigentumsrechte verbunden sind.“

In der gleichen Schrift betonte Trotzki:

„Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“

In Artikeln über die Aufstände vor einem Jahr in Tunesien und Ägypten erhoben wir zusammen mit einer Reihe demokratischer Forderungen auch die Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung, wobei wir aber das Hauptgewicht darauf legten, dass die Arbeiterklasse Fabrikkomitees und andere Organe der Doppelherrschaft errichten muss. Als Ergebnis einer anschließenden Diskussion verwarf die IKL prinzipiell die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung, da letztere nichts anderes sein kann als eine Form des bürgerlichen Staates. Wie wir in „Tunesien und der Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung“ (siehe Seite 6) schrieben: „Unser Verständnis vom reaktionären Charakter der Bourgeoisie, sowohl in den halbkolonialen als auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, bedeutet, dass es kein revolutionäres bürgerliches Parlament geben kann. Der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung steht somit in Widerspruch zur permanenten Revolution.“

Die Theorie der permanenten Revolution ist das einzige Programm, das die grundlegenden Fragen, die sich heute in Ägypten und im ganzen Nahen Osten stellen, zu lösen vermag. Die Region ist gezeichnet von bitterer Armut, finsterer Versklavung der Frauen, der Enteignung des palästinensischen Volkes durch Israel und der Unterdrückung zahlloser anderer nationaler und religiöser Minderheiten durch die arabisch-nationalistischen und islamistischen Regime. Dieses Erbe sozialer Rückständigkeit und Unterdrückung wird noch verfestigt durch die Oberherrschaft der imperialistischen Mächte, deren vorrangiges Anliegen die Kontrolle der Ölversorgung ist. Ägypten, die bevölkerungsreichste arabische Nation, der der strategisch wichtige Suezkanal gehört, wird von einer korrupten Bourgeoisie beherrscht, eine willige Marionette des US-Imperialismus und seit 1979 ein strammer Verbündeter Israels. In den letzten Jahren haben Ägyptens kapitalistische Herrscher bei der Hungerblockade der Palästinenser in Gaza mitgeholfen, etwa durch Abriegelung der Grenze auf der Sinai-Halbinsel.

Heute, fast 60 Jahre nach dem Abzug der letzten britischen Kolonialtruppen, lasten auf Ägypten Auslandsschulden von knapp 27 Milliarden Euro. In den letzten 10 Jahren sind etwa 18 Milliarden Euro an Schuldentilgung aus dem Land abgeflossen, und seine Schuldenlast hat sich um 15 Prozent erhöht. Im Zuge der vom IWF verhängten „Strukturanpassungsprogramme“ wurde die staatliche Kontrolle der Industrie aus Zeiten der Nasser-Ära zunehmend rückgängig gemacht und Fabriken unter Wert an Mubaraks Kumpane und ausländische Investoren verkauft. Gleichzeitig behielt das Militär ausgedehnten Besitz, wenngleich der Umfang geheimgehalten wird. Der Journalist Joshua Hammer beschrieb es so: „Das Militär kontrolliert ein Labyrinth von Unternehmen, die alles herstellen von medizinischer Ausrüstung über Laptops bis hin zu Fernsehapparaten, sowie einen großen Immobilienbesitz … es beherrscht so gut wie 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft“ (New York Review of Books, 18. August 2011).

Die neoliberalen „Reformen“, die die Weltbank 2001 dazu veranlassten, die ägyptische Landwirtschaft zu einem „komplett privatisierten Sektor“ zu erklären, haben das Elend der ländlichen Bevölkerung enorm verschlimmert. Seit Mitte der 90er-Jahre stieg der jährliche Pachtzins von einem Gegenwert von etwa 3 Euro pro Acre (ca. 0,4 ha) auf 45 Euro, so viel wie drei Monatseinkommen. Etwa fünf Millionen Bauern und ihre Familien wurden in großes Elend gestürzt, weil sie ihre Pacht nicht mehr bezahlen konnten und ihnen deshalb gekündigt wurde oder weil sie wegen staatlich sanktionierter Landnahmen zwangsweise vertrieben wurden. Enteignete Bauern wurden in die Slums und Elendsquartiere größerer Städte getrieben und bildeten dort eine fruchtbare Rekrutierungsbasis für islamische Reaktionäre. Der Widerstand gegen die Land„reformen“ hat im Laufe der Jahre nicht aufgehört: Bauern demonstrieren, blockieren Hauptstraßen, brennen die Häuser von Großgrundbesitzern nieder und greifen Regierungsstellen an. Die Regierung antwortet mit harten Repressionsmaßnahmen, Polizei und bewaffnete Banden greifen Bauern an, beschlagnahmen gewaltsam Ernten und besetzen Felder.

Die Abschaffung der gesetzlichen Schutzbestimmungen für Pachtland machte den Weg frei für den Erwerb großer Landflächen durch ausländische Unternehmen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten kam es zu einem zehnfachen Anstieg der landwirtschaftlichen Exporte, weil sich die Produktion verlagerte von Grundnahrungsmitteln für den einheimischen Verbrauch hin zu hochpreisigen Erzeugnissen für den Verkauf in Europa. Ägypten, das einst in der Lage war, genug Nahrungsmittel zur Versorgung seiner Bevölkerung zu produzieren, ist jetzt der weltgrößte Weizenimporteur, was die verarmte Bevölkerung auf Gedeih und Verderb dem von der US-Agrarindustrie beherrschten Weltmarkt ausliefert.

In diesem Land müssen über 90 Prozent der Frauen, muslimische ebenso wie christliche, genitale Verstümmelungen über sich ergehen lassen, Familienstreitigkeiten werden von Gerichten nach islamischem Recht entschieden, und „Ehrenmorde“ grassieren. Für Marxisten ist die Frage der Frauenbefreiung nicht zu trennen vom Kampf für die Emanzipation der gesamten Arbeiterklasse. Arbeiterinnen sind ein wesentlicher Teil des ägyptischen Proletariats. Insbesondere in der Textilindustrie traten sie bei der Streikwelle hervor, die im vergangenen Jahrzehnt Ägypten erfasste. Werden sie für ein revolutionäres Programm gewonnen, so werden sie eine führende Rolle dabei spielen, die Ketten von sozialer Rückständigkeit und religiösem Obskurantismus zu zerbrechen. Wie Trotzki 1924 in seiner Rede „Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten“ betonte: „Es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinen besseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedanken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau.“

Für proletarischen Internationalismus!

Die Befreiung der ägyptischen Massen erfordert den Sturz nicht nur des Militärs, sondern auch der Kapitalisten, der Großgrundbesitzer, des islamischen Klerus und der Imperialisten, die von der qualvollen Unterdrückung der Bevölkerung profitieren. Die Macht dazu liegt in den Händen der Arbeiterklasse, deren Bewusstsein umgewandelt werden muss von dem einer Klasse an sich, die ihre Lage innerhalb des Rahmens des Kapitalismus zu verbessern versucht, zu dem einer Klasse für sich, die ihr historisches Potenzial erkennt, alle Unterdrückten in einem revolutionären Kampf gegen das kapitalistische System anzuführen. Dabei ist es entscheidend, auch die Arbeiterklasse in den imperialistischen Zentren für den Sturz ihrer „eigenen“ Ausbeuter zu mobilisieren. Die kapitalistische Wirtschaftskrise, die auf das Leben und das Auskommen der arbeitenden Menschen von Nordafrika und dem Nahen Osten bis Europa, Nordamerika und Japan verheerende Auswirkungen hat, unterstreicht nur ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer Perspektive, die gleichzeitig revolutionär, proletarisch und internationalistisch sein muss.

In Ägypten muss der Kampf des Proletariats untrennbar mit der Verteidigung der zahlreichen unterdrückten Gesellschaftsschichten verbunden werden, darunter Frauen, Jugendliche und koptische Christen, ebenso Beduinen, Nubier und andere Minderheitengruppen. Eine Arbeiter- und Bauernregierung würde die Kapitalistenklasse, einschließlich der Großgrundbesitzer, enteignen und eine kollektivierte Planwirtschaft errichten. Eine Planwirtschaft in internationalem Maßstab würde der Entwicklung der Industrie auf höchstem Niveau den Weg ebnen und so Arbeitsplätze für die verarmten städtischen Massen schaffen und in der Landwirtschaft die fortgeschrittenste Technologie zur Anwendung bringen.

Der Kampf gegen imperialistische Oberherrschaft und die unterdrückerische Herrschaft der Scheichs, Könige, Obristen, Ajatollahs, nationalistischen und zionistischen Herrscher in der ganzen Region kann unter dem Kapitalismus nicht zu Ende geführt werden. Es wird kein Ende ethnischer und nationaler Unterdrückung, keine Frauenbefreiung, kein Ende der Ausbeutung der Werktätigen geben ohne eine tiefgreifende proletarische Revolution, die den Weg ebnet für die Errichtung einer Sozialistischen Föderation des Nahen Ostens als Teil des Kampfes für proletarische Weltrevolution. Um diese Perspektive in die Arbeiterklasse hineinzutragen, ist der Aufbau einer leninistischen Avantgardepartei notwendig, die im Kampf gegen die reformistischen „Sozialisten“ und andere, die die Arbeiterklasse den Imperialisten, Nationalisten und Kräften der islamischen Reaktion unterordnen wollen, geschmiedet werden wird. Die Internationale Kommunistische Liga hat sich der Schmiedung solcher Parteien verschrieben.

 

Spartakist Nr. 192

Spartakist Nr. 192

März 2012

·

Ägypten

Militär, Islamisten bedrohen Frauen, Kopten, Arbeiter

Für eine Arbeiter- und Bauernregierung!

·

Pseudo-Trotzkisten im Lager der Konterrevolution

Zetergeschrei über Chinas Rolle in Afrika

·

Für volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten!

Nieder mit Polizeiterror gegen die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh!

·

Frauen und Revolution

Tunesien: Frauenrechte unter Beschuss der Islamisten

Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

·

Tunesien und der Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung

·

Fred Zierenberg

1949–2012

·

Verteidigt griechische Elektrizitäts-Gewerkschafter!