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Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 29

Sommer 2013

Marxismus und bürgerlicher Parlamentarismus

Warum wir die Forderung nach einer „konstituierenden Versammlung“ ablehnen

„Nirgends in der Welt gibt es einen Mittelweg und kann es ihn geben. Entweder die Diktatur der Bourgeoisie (getarnt durch bombastische sozialrevolutionäre und menschewistische Phrasen über die Volksherrschaft, die Konstituante, die Freiheiten und ähnliches) oder die Diktatur des Proletariats. Wer das nicht aus der Geschichte des ganzen 19. Jahrhunderts gelernt hat, der ist ein hoffnungsloser Idiot.“

– W. I. Lenin, „Brief an die Arbeiter und Bauern anlässlich des Sieges über Koltschak“ (August 1919)

Die Internationale Kommunistische Liga (und ihre Vorläuferorganisation, die internationale Spartacist Tendenz) hat im Laufe der Jahre bei sozialen Erhebungen in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, von Indonesien bis Chile, wiederholt eine revolutionäre konstituierende Versammlung gefordert. Wir begründeten diese Forderung mit den Schriften und der Praxis des bolschewistischen Führers W. I. Lenin vor der Oktoberrevolution von 1917 und insbesondere mit Leo Trotzkis Schriften über China und Spanien Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre (siehe zum Beispiel „Wann und warum eine revolutionäre Konstituante?“, Kommunistische Korrespondenz Nr. 25, Juni 1979).

In den letzten Jahren hatten wir mehrere interne Debatten über die Frage, wann und unter welchen Umständen man zu einer konstituierenden Versammlung aufrufen könne. Nachdem wir dann diese Losung kurzzeitig in unseren ersten Artikeln über die Erhebungen in Tunesien und Ägypten Anfang 2011 aufgestellt hatten, argumentierten einige führende Genossen, die allgemeine geschichtliche Entwicklung habe gezeigt, dass die Losung unter allen Umständen falsch sei. Dies führte zu weiterhin andauernder ausführlicher historischer Forschung und Überprüfung. Ende 2011 verwarf ein Plenum des Internationalen Exekutivkomitees (IEK) der IKL diese Losung einstimmig. In der dort angenommenen Resolution heißt es:

„Obwohl die konstituierende Versammlung in der großen französischen bürgerlichen Revolution von 1789 eine fortschrittliche Rolle gespielt hat, zeigt die spätere historische Erfahrung, dass das danach nicht mehr zutraf. Schon bei den Revolutionen von 1848 diente die konstituierende Versammlung, wann immer diese oder eine ähnliche bürgerliche gesetzgebende Körperschaft im Kontext eines proletarischen Aufstandes einberufen wurde, dazu, die Kräfte der Konterrevolution gegen das Proletariat zu sammeln und die proletarische Macht zu liquidieren. Das war bei der Pariser Kommune 1871, der Oktoberrevolution 1917 und der Deutschen Revolution 1918/19 der Fall. Obwohl die Kommunistische Internationale (KI) diese Position nie zu einer Prinzipienfrage erhob, lief nach der Oktoberrevolution die Politik der Bolschewiki unter der Führung Lenins und Trotzkis darauf hinaus, die konstituierende Versammlung als eine Agentur der Konterrevolution zu behandeln. Als Trotzki dann die Losung Ende der 1920er-Jahre erneut aufstellte, war sie vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, (verfehlterweise) gegen die ultralinken Idiotien der Komintern der Dritten Periode gerichtet.“

Unsere neue prinzipielle Position gegen jeden Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung haben wir bereits in dem Artikel „Ägypten: Militär, Islamisten bedrohen Frauen, Kopten, Arbeiter“ (Spartakist Nr. 192, März 2012) veröffentlicht.

Unsere Ablehnung der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung spiegelt sowohl die historischen Erfahrungen des Proletariats als auch die weitere Entwicklung des marxistischen Programms wider. Wie Lenin im obigen Zitat klar macht, zeigt die ganze Geschichte des 19. Jahrhunderts, dass diese Forderung dem Kampf für proletarische Herrschaft entgegengesetzt ist. Als Marx 1850 die „Revolution in Permanenz“ formulierte, stützte er sich dabei auf die Erfahrung der Revolutionen von 1848, wo die Bourgeoisien in mehreren europäischen Ländern mit den reaktionären Kräften des Adels gegen das aufständische Proletariat gemeinsame Sache gemacht hatten. Trotzki baute auf Marx’ Erkenntnissen auf, als er zur Zeit der Revolution von 1905 für das zaristische Russland die Theorie der permanenten Revolution entwickelte. Nach der Niederlage der Zweiten Chinesischen Revolution 1927 dehnte Trotzki diese Perspektive auf Länder mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung auf der ganzen Welt aus.

Wesentlich für Trotzkis Theorie ist die Einsicht, dass in solchen Ländern das Verlangen der Werktätigen nach demokratischen Rechten und nationaler und sozialer Emanzipation unter bürgerlicher Herrschaft nicht erfüllt werden kann. Notwendig sind eine proletarische Revolution, die die kapitalistische Ordnung hinwegfegt, und die Ausweitung der revolutionären Errungenschaften auf die Kernländer des Weltimperialismus. Im Unterschied zu den Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Frau, Land für die Bauern, nach allgemeinem Wahlrecht oder der Ablehnung der Monarchie – von denen jede einzelne entscheidend für die Mobilisierung der Massen hinter den Kämpfen des Proletariats sein kann – ist die konstituierende Versammlung keine demokratische Forderung, sie ist vielmehr der Ruf nach einer neuen kapitalistischen Regierung. In Anbetracht des reaktionären Charakters der Bourgeoisie, sowohl in der halbkolonialen Welt wie auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten, kann es kein revolutionäres bürgerliches Parlament geben. Somit steht der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung im Gegensatz zur Perspektive der permanenten Revolution.

Unsere neue Überprüfung der historischen Quellen zeigte, dass jedes maßgebliche kommunistische Dokument in den ersten Jahren nach 1917 die Vorstellung, eine konstituierende oder Nationalversammlung könnte im Interesse des Proletariats sein, rundweg zurückwies. Lenins Schrift Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (Ende 1918) ist nur das bekannteste Beispiel. Die Losung wurde, wie Lenin ausführte, als Teil des angehäuften Opportunismus in der Arbeiterbewegung zur Zeit der Zweiten Internationale verstanden. In Deutschland bekämpfte Rosa Luxemburg mit aller Macht die (letztlich erfolgreichen) Anstrengungen der SPD und ihrer Helfer von den Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), die im November 1918 ausgebrochene Revolution durch das Aufzwingen einer Nationalversammlung abzuwürgen:

„Was gewinnt man also durch diesen feigen Umweg der Nationalversammlung? Man stärkt die Position der Bourgeoisie, man schwächt und verwirrt durch leere Illusionen das Proletariat, man verzettelt und verliert Zeit und Kraft auf ,Diskussionen‘ zwischen Wolf und Lamm, man arbeitet mit einem Wort all denjenigen Elementen in die Hand, deren Zweck und Absicht es ist, die proletarische Revolution um ihre sozialistischen Ziele zu betrügen, sie zu einer bürgerlich-demokratischen Revolution zu entmannen.

Aber die Frage der Nationalversammlung ist keine Opportunitätsfrage, keine Frage der größeren ,Bequemlichkeit‘. Sie ist eine Prinzipienfrage, eine Frage der sozialistischen Selbsterkenntnis der Revolution…

Die Nationalversammlung ist ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ,einigen Volk‘, von der ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlichen Staates.“

– Luxemburg, „Die Nationalversammlung“, Die Rote Fahne (20. November 1918)

Bei der Zurückweisung unseres bisherigen Gebrauchs der Losung der konstituierenden Versammlung mussten wir uns zunächst einmal mit den verschiedenen, sich zuweilen widersprechenden Argumenten beschäftigen, die von Trotzki zu ihrer Rechtfertigung vorgebracht worden waren. Die Tatsache, dass Trotzki die Losung genau zu dem Zeitpunkt wieder aufstellte, als er die Theorie der permanenten Revolution verallgemeinerte, stiftete zwangsläufig Verwirrung in den Reihen der Internationalen Linken Opposition und der Bewegung für die Vierte Internationale. In China trug die Verwirrung über die Frage der Nationalversammlung dazu bei, in den 1930er-Jahren die Arbeit der Trotzkisten in bestimmten Bereichen zu lähmen. In Indien, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg die konterrevolutionäre Rolle der konstituierenden Versammlung in der Praxis zeigte, kam es in der trotzkistischen Bolschewistisch-Leninistischen Partei zu einem tief gehenden fraktionellen Kampf, wobei die Befürworter dieser Losung eine insgesamt liquidatorische Politik propagierten. Es gab in der Vierten Internationale auch größere Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Anwendbarkeit der Losung auf europäische Länder, die dabei waren, die faschistische Herrschaft bzw. deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegsperiode abzuschütteln, wofür jedoch in Trotzkis Schriften keine Begründungen zu finden sind.

Beim Untersuchen der Debatten über die konstituierende Versammlung in der trotzkistischen Bewegung seit Ende der 1920er- bis zu den 1940er-Jahren stießen wir auf ein bedeutendes Hindernis. Während Trotzkis Ansichten, nachdem er die Losung 1928 wieder aufstellte, leicht zu finden sind, sind die Argumente derjenigen, die die Losung in Frage stellten oder ablehnten, bestenfalls in verschiedenen Archiven und internen Bulletins greifbar. In einigen Fällen, wie bei der wichtigen Schicht chinesischer Studenten in Moskau, die 1928/29 für die Linke Opposition gewonnen wurde, sieht es so aus, als ob sämtliche einst existierende Dokumente der stalinistischen Zensur zum Opfer gefallen sind. So ist unsere Nachforschung bisher notwendigerweise bruchstückhaft, insbesondere was die Debatten innerhalb der Linken Opposition in dem Zeitraum betrifft, als Trotzki die Losung erstmals wieder aufstellte.

Marxistische Neu-Überprüfung und revisionistische Schindluderei

Unsere neue Überprüfung und Ablehnung der Losung der konstituierenden Versammlung gehört zu unserem Bestreben, den revolutionären Kern des Bolschewismus gegen zunehmende Konfusion und revisionistischen Verrat aufrecht zu erhalten. In der IEK-Resolution der IKL heißt es: „Wie bei der damit zusammenhängenden Frage des Aufstellens von Kandidaten für Exekutivämter des kapitalistischen Staates bzw. der Annahme solcher Ämter handelt es sich hier um eine Frage aus dem Erbe der Zweiten Internationale, die in den ersten vier Kongressen der Kommunistischen Internationale ungelöst blieb.“ Die V. Konferenz der IKL verwarf 2007 aus Prinzip unsere frühere Position, dass Kommunisten für Ämter in der Exekutive des bürgerlichen Staates – z. B. Präsident, Bürgermeister, Gouverneur eines Bundesstaates oder einer Provinz – kandidieren können, solange sie im Voraus erklären, dass sie diese Ämter nicht annehmen werden (siehe „Marxistische Prinzipien und Wahltaktik“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 27, Frühjahr 2009). Gleichzeitig stellten wir fest:

„Unsere frühere Praxis entsprach der der Komintern und der Vierten Internationale. Das heißt nicht, dass wir in der Vergangenheit prinzipienlos gehandelt hätten: Weder unsere Vorgänger noch wir selbst hatten das Prinzip als solches erkannt. Programme entwickeln sich, wenn neue Streitfragen aufkommen und wenn wir die Arbeit unserer revolutionären Vorläufer kritisch untersuchen.“

Als wir diese Position gegen das Kandidieren für Exekutivämter annahmen, stellten wir fest, dass diese Erkenntnis und ihre Kodifizierung sich als logische Folge an Lenins Staat und Revolution (1917) und Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky anschließen – Werke, die eigentlich Gründungsdokumente der Kommunistischen Internationale sind. Hiermit setzen wir die theoretische und programmatische Arbeit der ersten vier Weltkongresse der KI fort.

Bei unserem Kampf zur Wiederschmiedung von Trotzkis Vierter Internationale berufen wir uns auf diese Weltkongresse. Doch angesichts späterer Erfahrungen muss man die Beratungen der frühen KI kritisch betrachten. Schon in den ersten Jahren unserer Tendenz hatten wir Vorbehalte gegenüber den Resolutionen des IV.Weltkongresses (1922) zur „antiimperialistischen Einheitsfront“ und „Arbeiterregierung“. Tatsächlich ist unsere neue Linie zu Exekutivämtern eine Ausweitung unserer langjährigen Kritik an der mangelhaften und Verwirrung stiftenden Resolution des IV.Weltkongresses über „Arbeiterregierungen“. Diese Resolution vermengte die Forderung nach einer Arbeiterregierung – die für Revolutionäre nichts anderes ist als eine populäre Bezeichnung für die Diktatur des Proletariats – mit allen möglichen sozialdemokratischen Regierungen, die den bürgerlichen Staatsapparat verwalten.

Das ließ die Möglichkeit offen, dass sich Kommunisten in einer Koalition mit Sozialdemokraten an einer solchen Regierung beteiligen, was tatsächlich im Oktober 1923 geschah, als die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) den von der SPD-„Linken“ geführten Landesregierungen von Sachsen und Thüringen beitrat. Trotzki kämpfte zwar 1923 für eine revolutionäre Perspektive in Deutschland und bestand darauf, dass die KPD konkrete Vorbereitungen zu einem Aufstand treffen und ein Datum festsetzen sollte, aber seine Unterstützung für den Eintritt der KPD in die Regierungen von Sachsen und Thüringen war falsch; er begründete dies damit, einen „Exerzierplatz“ für die Revolution zu schaffen (siehe „Zur Wiederbewaffnung des Bolschewismus – Eine trotzkistische Kritik: Deutschland 1923 und die Komintern“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 22, Sommer 2001). Die Folge war, dass die KPD und die KI-Führung unter Sinowjew eine revolutionäre Gelegenheit verstreichen ließen. Die darauffolgende Demoralisierung des sowjetischen Proletariats war ein entscheidender Faktor, der 1923/24 die Machtübernahme durch die nationalbornierte, konservative Bürokratie unter J.W. Stalin erst ermöglichte.

Unerlässliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung unserer revolutionären Kontinuität ist die kritische Aneignung der Lehren vergangener Kämpfe der internationalen Arbeiterbewegung. Im Gegensatz dazu höhlen unsere politischen Widersacher die Prinzipien der Oktoberrevolution und die programmatischen Fundamente von Lenins und Trotzkis Kommunistischer Internationale aus oder lehnen sie völlig ab, wobei sie sich diejenigen „Traditionen“ herauspicken, die ihrem opportunistischen Treiben eine Aura historischer Autorität verleihen. Heute erheben weite Teile der pseudotrotzkistischen Linken die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung unter praktisch allen Bedingungen. Für diese Reformisten ist (bürgerliche) Demokratie die Quintessenz aller Politik, und das umso offensichtlicher, seitdem sie die vom Imperialismus unterstützte „demokratische“ Konterrevolution begrüßt haben, die 1991/92 die Sowjetunion zerstörte.

In Lateinamerika sind Aufrufe zu einer konstituierenden Versammlung gang und gäbe, insbesondere unter den zahlreichen Ablegern der einstmals von dem argentinischen Abenteurer Nahuel Moreno geführten Tendenz. Moreno propagierte ungeniert die „demokratische Revolution“. Die in Frankreich ansässige Tendenz des verstorbenen Pierre Lambert ruft nicht nur in halbkolonialen Ländern zu einer konstituierenden Versammlung auf, sondern auch in Frankreich, wo sie für die Ersetzung der 1958 von Charles de Gaulle eingeführten halb-bonapartistischen Verfassung der Fünften Republik zu Felde zieht. Die politische Linie der früher von Ernest Mandel geführten sogenannten „Vierten Internationale“, bekannt als Vereinigtes Sekretariat (VS), sieht im wesentlichen genauso aus. Eine Erklärung der belgischen Sektion dieser Strömung rief kürzlich zum „demokratischen Aufbau eines Europas der Solidarität und Zusammenarbeit (zum Beispiel durch eine konstituierende Versammlung)“ auf (International Viewpoint online, 10. Juni 2012).

Diese und viele andere Gruppen stellten bei den Anfang 2011 in Nordafrika ausgebrochenen Volkserhebungen (dem „arabischen Frühling“) die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung in den Mittelpunkt. Dem VS zufolge war sie ein wesentlicher Bestandteil des „Programms für eine demokratische Regierung, die den Interessen der Arbeiter und der Bevölkerung dienen würde“ („In Tunisia and Egypt the Revolutions Are Underway“ [In Tunesien und Ägypten sind die Revolutionen im Gange], International Viewpoint online, Januar 2011). Doch die Erfahrung von mehr als anderthalb Jahrhunderten Klassenkampf zeigt, dass der Kampf für eine bürgerlich-parlamentarische „demokratische Regierung“ für das Proletariat eine Falle darstellt. Die Bourgeoisie kooptiert die Hoffnungen der unruhigen Massen, wobei sie immer und überall die „demokratische Etappe“ der Revolution dazu benutzt, ihre Herrschaft zu festigen und die Kämpfe der Arbeiterklasse zu zerschlagen.

Von der Französischen Revolution 1789 zur Pariser Kommune 1871

Das Modell einer „revolutionären konstituierenden Versammlung“ entstammt der französischen bürgerlichen Revolution. Die konstituierende Versammlung von 1789 markierte das Emporkommen der gegenüber der Monarchie aufsteigenden Bourgeoisie. Drei Jahre später wurde durch allgemeines Männerwahlrecht ein von den gemäßigten Girondisten dominierter Nationalkonvent gewählt. Die Macht eroberten die radikalen Jakobiner 1793 durch einen Aufstand der plebejischen Massen von Paris, durch den die Girondisten gestürzt und aus dem Konvent hinausgesäubert wurden. Von 1789 bis zum Sturz des jakobinischen Regimes 1794 war die Revolution durch eine Doppelherrschaft zwischen den verschiedenen Versammlungen und den unteren Klassen von Paris gekennzeichnet, die die Bourgeoisie in jeder Phase dazu drängten, radikalere Maßnahmen zu ergreifen. Die Versammlungen konnten eine revolutionäre Rolle spielen, weil die Bourgeoisie damals eine revolutionäre Klasse war, als Rivale der Feudalordnung, die ihrerseits seit langem einer absoluten Monarchie untergeordnet war.

Der Parlamentarismus war für die klassischen bürgerlichen Revolutionen keineswegs unerlässlich. In der Englischen Revolution der 1640er- und 1650er-Jahre war das Zentrum der revolutionären Macht nicht das Parlament, sondern die New Model Army von Oliver Cromwell. Wie Trotzki ausführte:

„Der revolutionäre Realist Cromwell formte eine neue Gesellschaftsordnung. Das Parlament ist kein Selbstzweck, das Recht ist kein Selbstzweck, und haben Cromwell selbst und seine ,Heiligen‘ die Verwirklichung der göttlichen Vermächtnisse als Selbstzweck betrachtet, so wären diese Vermächtnisse in Wirklichkeit nur das Ideenmaterial für den Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft. Indem Cromwell ein Parlament nach dem anderen auseinanderjagte, bewies er genau so wenig Ehrfurcht vor dem Fetisch der ,nationalen‘ Vertretung, wie er durch die Hinrichtung Karls I. den Mangel jeder Ehrfurcht vor der Monarchie von Gottes Gnaden bewies.“

– Wohin treibt England? Europa und Amerika (1925), Verlag Neuer Kurs, Berlin 1972

Die Große Französische Revolution war für Marx und seinen Kampfgefährten Friedrich Engels in den 1840er-Jahren bei ihrer Entwicklung von radikalen Demokraten zu kommunistischen Führern ein entscheidender Bezugspunkt. Im Kommunistischen Manifest, geschrieben Ende 1847 bis Anfang 1848, gingen sie von einem notwendigen Bündnis mit der Bourgeoisie in Deutschland aus, „sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei“. Doch sie revidierten diese Auffassung im Lichte der Revolutionen von 1848/49, die gezeigt hatten, dass sich die Bourgeoisie mit dem reaktionären Adel verbündet, sobald die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft handelt.

Das offenbarte sich am deutlichsten in Frankreich. Nach einem Volksaufstand im Februar 1848 machte die neue Provisorische Regierung anfangs Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, doch schon im April hatten sich die radikalen bürgerlichen Demokraten gegen die Arbeiter gewendet, als die Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung der rechtsgerichteten Ordnungspartei einen überwältigenden Sieg brachten. Im Juni schlug die neue Regierung dann einen mehr oder weniger spontanen Aufstand des Pariser Proletariats nieder, was eine ganze Generation lang den Arbeitern in Frankreich das Rückgrat brach.

Das war in der modernen Geschichte das erste Beispiel einer „demokratischen Konterrevolution“. Konfrontiert mit der großen Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse griff die Bourgeoisie auf eine gewählte konstituierende Versammlung zurück, in der die Bauern und andere kleinbürgerliche Schichten die Stimmenmehrheit hatten, um dadurch die Unruhe zu unterdrücken und ihre Herrschaft erneut zu festigen. Das Ergebnis war ein brutaler, einseitiger Bürgerkrieg mit Massakern und Massendeportationen von Arbeitern und Sozialisten.

Die Niederschlagung der Arbeiter von Paris durch die republikanische Bourgeoisie im Juni 1848 und die Unterstützung der deutschen Bourgeoisie für die monarchische Reaktion führten im Denken von Marx und Engels zu einer Radikalisierung. Auf den Verrat der demokratischen Kleinbourgeoisie hinweisend, bekräftigten sie, dass die Aufgabe darin bestehen muss, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert“ ist und die Revolution sich international ausgebreitet hat („Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850“).

In diesem Stadium war das Proletariat noch sehr klein im Vergleich zur Bauernschaft und zu anderen kleinbürgerlichen Schichten – zu schwach, um die Macht im eigenen Namen zu ergreifen. Doch die geschichtliche Entwicklung zeigte, wie Marx zwei Jahre später schrieb: ,,Das Interesse der Bauern befindet sich also nicht mehr, wie unter Napoleon, im Einklange, sondern im Gegensatze mit den Interessen der Bourgeoisie, mit dem Kapital. Sie finden also ihren natürlichen Verbündeten und Führer in dem städtischen Proletariat, dessen Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1852). Marx führte dazu später aus: „The whole thing in Germany wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasants’ war [Die ganze Sache in Deutschland wird abhängen von der Möglichkeit, die proletarische Revolution durch eine Art zweiter Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen]. Dann wird die Sache vorzüglich“ (Marx an Engels, 16. April 1856). Später sollte Lenin auf diese Äußerung als eine erstaunliche Vorwegnahme der bolschewistischen Revolution hinweisen.

Die Pariser Kommune vom März bis Mai 1871 war das erste Beispiel einer Diktatur des Proletariats in der Geschichte. Weit davon entfernt, sich auf eine parlamentarische Körperschaft zu stützen, begann sie unter der Schirmherrschaft der Nationalgarde, einer Streitkraft, die sich auf die bewaffnete Arbeiterklasse stützte und von einem gewählten Zentralkomitee geführt wurde. Dieses Instrument des Aufstands stand im Gegensatz zur Nationalversammlung, die durch die Stimmen reaktionärer Schichten auf dem Lande gewählt worden war.

Marx solidarisierte sich völlig mit der Kommune, trotz seiner Kritik an ihrer Führung, die von Anhängern des jakobinischen Rebellen Auguste Blanqui und des kleinbürgerlichen Flügels der Ersten Internationale um Pierre-Joseph Proudhon beherrscht wurde. Das Zentralkomitee beschloss vorzeitige Gemeindewahlen anzusetzen, anstatt entschieden die Kräfte der Reaktion anzugreifen, die sich in Versailles versammelt hatten, und diese niederzuschlagen. Marx argumentierte, dass die erst vor kurzem aus der Stadt geflohene Bourgeoisie desorganisiert war und nur wenige Truppen hatte; daher hätte das Zentralkomitee „gleich nach Versailles“ marschieren sollen, aber „der richtige Moment wurde versäumt aus Gewissensskrupel“ (Marx an Kugelmann, 12. April 1871). Letzten Endes konnten sich die Kräfte der bürgerlichen Reaktion solche Schwächen zu Nutze machen und die Kommune brutal zerschlagen.

Das war ein klares Beispiel für den Gegensatz zwischen Arbeiterrevolution und parlamentarisch-demokratischem Fetischismus. Später schrieb Paul Lafargue, Marx’ Schwiegersohn und einer der Gründungskader der französischen Parti Ouvrier (Arbeiterpartei), über die Kommune: „1871 fiel dem Volk die Macht in die Hand, das nicht darauf vorbereitet war, sie zu übernehmen. In einer revolutionären Periode die Macht zu ergreifen ist verhältnismäßig einfach, doch sie zu behalten und, was noch wichtiger ist, zu gebrauchen, ist weit schwieriger“ (Lafargue, „Le lendemain de la révolution“ [Der Tag nach der Revolution], Le Socialiste, 31. Dezember 1887). In einer impliziten Polemik gegen die Eile der Nationalgarde, Wahlen anzusetzen, argumentierte Lafargue:

„Revolutionäre Macht wird dadurch errichtet, dass man sie einfach ergreift, und erst, wenn die Revolution Herr der Lage ist, ziehen Sozialisten das Ratifizieren ihrer Handlungen durch das sogenannte allgemeine Wahlrecht überhaupt in Betracht. Die Bourgeois haben die besitzlosen Klassen schon so lange von den Wahlurnen ferngehalten, dass sie nicht allzu überrascht sein sollten, wenn wir allen Ex-Kapitalisten das Wahlrecht entziehen, bis das revolutionäre Spiel gewonnen ist.“

Die Pariser Kommune bildete den Kern eines Arbeiterstaates. Sie schaffte die stehende Armee zugunsten der bewaffneten Arbeiter ab. Sie war, wie Marx bemerkte, „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft … vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“ (Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1871). Ein halbes Jahrhundert später betonte Trotzki in einer Polemik gegen den deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky:

„Die Kommune war die lebendige Verneinung der formalen Demokratie, denn in ihrer Entwicklung bedeutete sie die Diktatur des werktätigen Paris über das bäuerliche Land…

Es war die Aufgabe der Kommune, die Nationalversammlung aufzulösen. Leider gelang ihr dies nicht.“

– „Die Kommune von Paris und Sowjetrussland“ (1920), in: Terrorismus und Kommunismus – Anti-Kautsky

Die SPD und die Zweite Internationale

Die Zerschlagung der Kommune führte zu einer ausgedehnten Periode der bürgerlichen Reaktion. Als Marx und Engels die Lehren aus dieser Niederlage zogen, stießen sie innerhalb der Ersten Internationale, die dann 1873 praktisch zerbrach, auf erheblichen Widerstand. Engels glaubte, „die nächste Internationale wird – nachdem Marx’ Schriften einige Jahre gewirkt – direkt kommunistisch sein und gradezu unsre Prinzipien aufpflanzen“ (Engels an Friedrich Adolph Sorge, 12.–17. September 1874). Doch die Zweite Internationale, offiziell 1889 gegründet und auf die deutsche Sozialdemokratie ausgerichtet, war von ganz anderer Beschaffenheit. Zwar spielte sie eine wichtige Rolle beim Aufbau von Arbeitermassenparteien sowie bei der Propagierung von Aspekten von Marx’ und Engels’ Auffassungen, doch passte sie sich zunehmend dem parlamentarischen Reformismus an, der zu ihrem wesentlichen Charakterzug wurde.

Das Programm der SPD sowie der anderen Parteien der Zweiten Internationale wurde in ein „Minimal“- und ein „Maximal“-Programm aufgeteilt. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass das Maximalprogramm nur Augenwischerei war, die den linken Flügel beschwichtigen sollte, während das Minimalprogramm die reformistische Praxis der meisten Parteiführer widerspiegelte. Marx und Engels stimmten mit dem Konzept eines Minimal/Maximalprogramms überein, doch in ihren Augen zielten die Forderungen im Minimalprogramm darauf ab, der sozialistischen Revolution den Weg zu ebnen. Im Gegensatz dazu betrachteten „die Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie“, wie Lenin bemerkte, „die bürgerlichen politischen Formen des parlamentarischen demokratischen Staates als die unüberschreitbare Grenze“ (Staat und Revolution).

Marx und Engels lebten vor der imperialistischen Epoche, noch bevor sich viele dieser Eigenschaften der Sozialdemokratie voll manifestierten. Doch sie bekämpften wiederholt die parlamentarische Politik der kleinen Schritte und standen der SPD-Führung äußerst kritisch gegenüber, und zwar schon seit der Entstehung der Partei 1875 durch eine Fusion mit den Anhängern von Ferdinand Lassalle. In seiner „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) kritisierte Marx seine deutschen Anhänger dafür, dass sie vor den Lassalleanern kapituliert hatten, wobei er besonders deren Konzept eines „freien Volksstaats“ ablehnte. In der Hoffnung, das allgemeine Männerwahlrecht zu erlangen, hatte Lassalle 1863/64 geheime Kontakte mit der preußischen Regierung unter Fürst Otto von Bismarck aufgenommen, um mit diesem eine Abmachung gegen die liberale Bourgeoisie zu treffen. Im Gründungsprogramm der SPD wimmelte es geradezu von Illusionen in den Bismarck’schen deutschen Staat.

Engels widersprach Bebel, der den schädlichen Einfluss radikal-demokratischer Ideologie in Deutschland abtat, und betonte die Rolle, die derartige bürgerlich-demokratische Kräfte als Sammelbecken für die Konterrevolution spielen würden. Mit Hinweis auf die Lehren von 1848 hob Engels hervor: „Jedenfalls ist unser einziger Gegner am Tag der Krise und am Tag nachher – die um die reine Demokratie sich gruppierende Gesamtreaktion“ (Engels an August Bebel, 11./12. Dezember 1884). In einem Artikel zum ersten Todestag von Marx stellte er fest, dass die deutsche Bourgeoisie 1848 immer noch schwach gewesen sei, das Proletariat aber, „in gleichem Verhältnis unentwickelt“, „nur das dumpfe Gefühl seines tiefen Interessengegensatzes gegen die Bourgeoisie [besaß]. So, obgleich der Sache nach ihr drohender Gegner, blieb es anderseits ihr politisches Anhängsel“ („Marx und die ‚Neue Rheinische Zeitung‘ 1848–49“, März 1884). Der Artikel erklärte, wie Marx und Engels dazu kamen, das Verhältnis vom Proletariat zur bürgerlichen Demokratie zu überdenken:

„Endlich deckten wir den parlamentarischen Kretinismus (wie Marx es nannte) der verschiedenen sogenannten Nationalversammlungen auf... Neben neugestärkten, reaktionären Regierungen standen in Berlin wie in Frankfurt machtlose Versammlungen, die trotzdem sich einbildeten, ihre ohnmächtigen Beschlüsse würden die Welt aus den Angeln heben. Bis auf die äußerste Linke herrschte diese kretinhafte Selbsttäuschung. Wir riefen ihnen zu: ihr parlamentarischer Sieg werde zusammenfallen mit ihrer wirklichen Niederlage.“

Engels’ Stellungnahme zum Entwurf des Erfurter Programms der SPD von 1891 fiel positiver aus, doch blieb er dem Opportunismus der Partei gegenüber sehr kritisch eingestellt. In einem Brief, der von den Parteiführern über ein Jahrzehnt lang unter Verschluss gehalten wurde, griff er die verhängnisvolle Auffassung an, die bestehende Rechtsordnung Deutschlands könne „der Partei genügen“, um „alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen“ („Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891“, Juni 1891). In diesem Jahr hatte Engels die „Kritik des Gothaer Programms“ von Karl Marx erstmals veröffentlicht, gegen Widerstand aus der SPD-Führung. Ebenfalls in diesem Jahr gab er Marx’ Der Bürgerkrieg in Frankreich neu heraus, mit einer Einleitung, in der er die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats aufrecht erhält in direktem Gegensatz zu den Auffassungen der „sozialdemokratischen Philister“, wie er sie nannte. (Die SPD-Führer bestanden darauf, dass Engels diese Bezeichnung vor der Veröffentlichung in „deutsche Philister“ abänderte!)

Die häufigen Versuche, kritische Schriften von Marx und Engels zu unterdrücken oder zu zensieren, unterstrichen die zunehmende Distanz der SPD zum authentischen Marxismus. In seiner Kritik des Erfurter Programmentwurfs bemerkte Engels: „Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin“, unter anderem über die Abschaffung der Monarchie und die Schaffung einer neuen republikanischen Verfassung. Er schrieb: „Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat“ (ebd.). Und er fügte hinzu: „Aber das Faktum, dass man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.“ Lenin griff später den Missbrauch von Engels’ Brief durch die Opportunisten scharf an:

„Engels wiederholt hier in besonders plastischer Form jenen Grundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Werke von Marx zieht, nämlich, dass die demokratische Republik der unmittelbare Zugang zur Diktatur des Proletariats ist. Denn diese Republik, die in keiner Weise die Herrschaft des Kapitals und somit die Unterdrückung der Massen und den Klassenkampf beseitigt, führt unvermeidlich zu solcher Ausdehnung, Entfaltung, Entblößung und Verschärfung dieses Kampfes, dass, sobald einmal die Möglichkeit entsteht, die Grundinteressen der unterdrückten Massen zu befriedigen, diese Möglichkeit unausbleiblich und allein durch die Diktatur des Proletariats verwirklicht wird, dadurch, dass das Proletariat die Massen führt.“

Staat und Revolution

Die Guesdisten und der Parlamentarismus in Frankreich

Bei den französischen Sozialdemokraten verlief die politische Degeneration parallel dazu. Die marxistischen Kräfte unter der Führung von Jules Guesde und Paul Lafargue hatten sich 1880 von den Proudhonisten abgespalten; zwei Jahre später gründeten sie nach einer Spaltung mit den offen reformistischen Possibilisten die Parti Ouvrier. Marx war an der Ausarbeitung des Programms der Guesdisten stark beteiligt, die anfänglich versuchten, einen revolutionären Kurs zu verfolgen. Doch 1890–92 vollzogen sie eine scharfe Rechtswende in Richtung Parlamentarismus. Wie ein Historiker des französischen Sozialismus bemerkte, „war es offensichtlich geworden, dass die von den Guesdisten so lange erwartete revolutionäre Situation doch viel weiter entfernt war, als es 1880 erschien, wo republikanische Institutionen in keiner Weise stabil und gesichert waren“ (Aaron Noland, The Founding of the French Socialist Party [1893–1905], Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1956). Noland weiter:

„Die guesdistische Führung hatte erkannt, dass es galt, demokratische politische Institutionen wie allgemeines Wahlrecht und gewählte Gemeinde- oder Staatsorgane in größerem Maße als bisher zu benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen, während sie auf die Herausbildung der erhofften revolutionären Situation wartete. Die guesdistische Partei beschloss daher, den Wahlerfolgen der Possibilisten nachzueifern, und auch sie nahmen attraktive, gemäßigte Wahlprogramme an mit dem Ziel, die Stimmen verschiedener nichtproletarischer wie proletarischer Wählerschichten zu gewinnen.“

Die Guesdisten machten bald ihren Frieden mit Frankreichs Dritter Republik, die auf dem Leichnam der Pariser Kommune errichtet worden war, und sie begannen bei den Gemeindeeinrichtungen. Sie hatten keinen Grund, eine konstituierende Versammlung zu fordern, da sie verstärkt davon ausgingen, sie könnten durch das schon bestehende Parlament an die Macht kommen. Bei den Wahlen von 1892 gewannen sie die Kontrolle in einigen Kommunalverwaltungen und schnitten bei den Parlamentswahlen von 1893 so gut ab, dass Guesde es „geradezu eine Revolution“ nannte (zitiert nach ebd.). Engels war entsetzt und hoffte, dass die Parteipresse Guesdes Äußerung nicht veröffentlichen würde, da diese „einfach grotesk“ klinge.

Das Streben der Guesdisten nach einem Erfolg bei den Wahlen führte zu politischen Bündnissen mit verschiedenen pseudosozialistischen bürgerlichen Radikalen. Schließlich händigten sie die Führung ihrer Parlamentsfraktion dem durch und durch reformistischen Jean Jaurès aus, der dann auf einem Kongress 1905 die vereinigte Sozialistische Partei übernahm. Für Jean Jaurès bedeutete Sozialismus im Grunde die erfolgreiche Vollendung der Ideale der Französischen Revolution von 1789. So unterstützte er (und die Guesdisten) im November 1895, unmittelbar nach dem Tod von Engels, die erste bürgerliche Regierung der Radikalen. Vier Jahre später trat Jaurès’ Freund Alexandre Millerand in eine ähnliche bürgerliche Regierung ein, was bei linken Elementen der Zweiten Internationale einen Proteststurm auslöste. Auch wenn die Entwicklung unterschiedlich verlief, glichen die französischen Sozialdemokraten schließlich doch der SPD in ihrer reformistischen Unterwürfigkeit gegenüber dem Parlamentarismus.

Der russische Marxismus und die konstituierende Versammlung

Die Zeit der politischen Aktivität von Marx und Engels umspannte zwei gigantische gesellschaftliche Umbrüche, die Revolution von 1848 und die Pariser Kommune 23 Jahre später. Doch die marxistische Kontinuität ging in dem darauffolgenden reaktionären Tief nach und nach verloren, als die imperialistische Welt Gestalt annahm und der Opportunismus in der Zweiten Internationale immer mehr um sich griff. Sozialdemokratische Parteien wurden parlamentaristisch, beteiligten sich an bürgerlichen Regierungen und leiteten Gemeinderäte. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts debattierte die Zweite Internationale schließlich sogar darüber, ob der Kolonialismus fortschrittlich sei, wobei eine beträchtliche Minderheit die chauvinistische Linie der „sozialistischen Kolonialpolitik“ vertrat. Das waren die Vorboten des Zusammenbruchs der Internationale 1914, als ihre Hauptparteien (mit Ausnahme der Bolschewiki und u. a. der bulgarischen „Engherzigen“) im Ersten Weltkrieg die Kriegsziele ihrer eigenen bürgerlichen Herrscher unterstützten. Von den linksgerichteten Kräften in der Zweiten Internationale eignete sich vor allem Lenin, dessen Wirken sich über die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 erstreckte, die Lehren von Marx und Engels wieder an und wandte diese auf die Aufgaben des Proletariats in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs an.

Die Forderungen nach einer demokratischen Verfassung und einer konstituierenden Versammlung in Russland lassen sich eindeutig auf die Zweite Internationale zurückverfolgen. Doch trennte den russischen Marxismus seit seinen Anfängen in der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ von Georgi Plechanow 1883 ein wirklicher Unterschied von den sozialdemokratischen Hauptparteien West- und Mitteleuropas: Russland war wirtschaftlich und politisch rückständig, mit einer absoluten Monarchie, einer riesigen Bauernschaft und einer erst entstehenden Industriearbeiterklasse. So bemerkte der Historiker G. D. H. Cole:

„In den eher fortgeschrittenen Ländern und besonders dort, wo es einige Erfahrung und die Tradition bürgerlicher Demokratie gab, beinhaltete ‚die Revolution‘ nicht notwendigerweise Blutvergießen. Man konnte sich vorstellen, dass sie sich auf unblutige oder fast unblutige Weise ereignen würde…

Ein Russe konnte sich so etwas kaum vorstellen. Für die Russen war die Revolution nicht die letzte Etappe eines Prozesses, der eine Reihe von konstitutionellen Stadien durchlaufen hatte, sondern vielmehr die notwendige erste Etappe zur Ingangsetzung des ganzen Prozesses. Man musste – so meinten die Russen – mit dem Erringen einer Verfassung anfangen, was nur mittels einer Revolution möglich war.“

– The Second International 1889–1914, Teil 2, Macmillan & Co., London 1960

Anders als die SPD-Führer, denen der parlamentarische Weg zum Sozialismus zur zweiten Natur geworden war, verstanden die russischen Marxisten, dass selbst eine demokratische Verfassung erst durch einen revolutionären Aufstand errungen werden konnte, vielleicht ähnlich dem Konvent unter den Jakobinern.

Die Forderung nach einer solchen Verfassung tauchte im ersten Programmentwurf der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ auf, der 1884 von Plechanow verfasst wurde. Zwar forderte er in diesem Entwurf (und in einem zweiten drei Jahre später) nicht ausdrücklich eine konstituierende Versammlung, doch er sprach sich für die Verwirklichung „freier politischer Institutionen“ durch „Agitation für eine demokratische Verfassung“ aus (Plechanow, Sozialismus und politischer Kampf, VTK, Frankfurt/Gelsenkirchen 1980).

Lenin stützte sich auf Plechanows Entwürfe, als er Anfang 1902 ein Programm für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands entwarf. In diesem stellte er fest, die „nächste politische Aufgabe“ sei der „Sturz der zaristischen Selbstherrschaft und ihre Ersetzung durch die Republik auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung“, und er führte aus, dass „die vollständige, konsequente und dauerhafte Verwirklichung der genannten politischen und sozialen Umgestaltungen nur erreicht werden kann durch den Sturz der Selbstherrschaft und die Einberufung einer vom gesamten Volk frei gewählten Konstituierenden Versammlung“ („Entwurf des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands“, Januar/Februar 1902).

Für Lenin war das Gewinnen der riesigen Bauernmassen, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, entscheidend, um die Revolution voranzutreiben. Lenins Losung einer konstituierenden Versammlung war aufs Engste mit seinem damaligen Gedankenkomplex verknüpft, nämlich der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft und der Losung einer provisorischen revolutionären Regierung, die diese konstituierende Versammlung einberuft. In vielen Artikeln, die er in der ersten Jahreshälfte von 1905 schrieb, betonte er vor allem das Ziel einer provisorischen revolutionären Regierung und einer verfassunggebenden Versammlung. In der zweiten Jahreshälfte verschob er den Schwerpunkt seiner Polemiken gegen die Liberalen und Opportunisten auf die Mittel, durch die die Konstituante zu erreichen sei. Ständig hob er hervor, dass das Proletariat unabhängig von der liberalen Bourgeoisie handeln müsse, einschließlich durch politische Streiks, einen bewaffneten Aufstand usw.

So lobte Lenin Anfang 1905 Alexander Parvus dafür, dass er mit den Menschewiken der „neuen Iskra“ gebrochen hatte, kritisierte ihn aber für die Behauptung, „die provisorische revolutionäre Regierung in Russland wird eine Regierung der Arbeiterdemokratie sein“ („Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung“, März/April 1905). Sieben Monate später, nach der Bildung des Petrograder Sowjets, schrieb er:

„Der Sowjet muss sich zur provisorischen revolutionären Regierung ausrufen oder eine solche bilden und hierzu unbedingt neue Deputierte nicht nur der Arbeiter, sondern auch erstens der Matrosen und Soldaten, die allerorts schon ihre Hand nach der Freiheit ausstrecken, zweitens der revolutionären Bauernschaft und drittens der revolutionären bürgerlichen Intelligenz heranziehen.“

– „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ (November 1905)

Einige Monate später führte Lenin das näher aus und bemerkte, die Sowjets seien „erforderlich, um die Massen zusammenzuschweißen ... um die Massen zu interessieren, sie aufzurütteln und in den Kampf einzubeziehen“, dass diese aber nicht ausreichten, „um die Kräfte für den unmittelbaren Kampf, um den Aufstand im engsten Sinne des Wortes zu organisieren“, wozu „militärische Organisationen“ bestehend aus bewaffneten (und unbewaffneten) Arbeitern und Bauern unerlässlich wären („Die Auflösung der Duma und die Aufgaben des Proletariats“, Juli 1906).

Selbst als Lenin die Sowjets als Form oder Kern einer neuen revolutionären Regierung verstand und die Bewaffnung des Proletariats zur Durchführung eines Aufstands als notwendig erkannte, blieb für ihn die konstituierende Versammlung das krönende Element. In demselben Artikel vom Juli 1906 erklärte er: „Dieser Aufstand wird die Selbstherrschaft stürzen und eine wirklich machtbefugte Volksvertretung, d. h. die konstituierende Versammlung, schaffen.“ Er blieb im theoretischen Gerüst des Minimalprogramms befangen – doch im Gegensatz zu den Menschewiki, die am Rockzipfel der liberalen Bourgeoisie hingen, kämpfte Lenin dafür, im Proletariat Misstrauen gegenüber der Bourgeoisie zu wecken und es zu immer kühnerem unabhängigem Kampf anzuspornen.

Zu dieser Zeit begann Trotzki die Theorie der permanenten Revolution auszuarbeiten, anfangs in Zusammenarbeit mit Parvus. In seinem Artikel „Vor dem 9. Januar“, geschrieben größtenteils Ende 1904 kurz vor dem Ausbruch der Revolution von 1905, widmete Trotzki mehrere Seiten der Frage der konstituierenden Versammlung, wobei er zu dem Schluss kam, „aufrichtige und konsequente Demokraten“ müssten „unermüdlich und unablässig an den allmächtigen Willen des Volkes appellieren, der in einer Konstituierenden Versammlung durch allgemeine, direkte und geheime Abstimmung, bei der jeder die gleichen Rechte besitzt, zum Ausdruck kommt“ (veröffentlicht in Richard Day und Daniel Gaido [Hrsg.], Witnesses to Permanent Revolution, Haymarket Books, Chicago 2011).

Doch schon gegen Ende des Jahres hatte Trotzki jeden Bezug auf eine konstituierende Versammlung fallen gelassen. In seinem Vorwort vom Dezember 1905 zur russischen Ausgabe von Marx’ Die Pariser Kommune – im Grunde ein Grundriss seiner Ergebnisse und Perspektiven (1906) – greift Trotzki Illusionen in eine demokratische Republik an und zitiert Engels’ Einleitung zu Der Bürgerkrieg in Frankreich (1891): „In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie“. Trotzki weiter:

„Die Bourgeoisie ist unfähig, das Volk durch den Sturz des Absolutismus zum Erringen einer parlamentarischen Ordnung zu führen…

Das Proletariat ist die einzige Kraft, die die Revolution führen kann, und sie ist ihr wichtigster Vorkämpfer. Das Proletariat erobert das gesamte Terrain und gibt sich weder jetzt noch in der Zukunft mit Zugeständnissen zufrieden; ungeachtet jeder Unterbrechung und zeitweiligen Rückzugs wird es die Revolution zu jenem Sieg führen, in dem es die Macht ergreift.“

– „Foreword to Karl Marx, Parizhskaya Kommuna“ [Vorwort zu Karl Marx, Die Pariser Kommune] (Dezember 1905), in: Witnesses to Permanent Revolution

Hier verwarf Trotzki implizit die Trennung zwischen Minimal- und Maximalprogramm, die er später in Ergebnisse und Perspektiven explizit verwarf. Er hob die Bedeutung der Sowjets hervor, deren Arbeit „deutlich zeigt, dass die Politik des an die Macht gelangten russischen Proletariats im Vergleich zur Pariser Kommune von 1871 ein neuer und kolossaler Schritt vorwärts sein wird“.

In der ursprünglichen Ausgabe von Ergebnisse und Perspektiven von 1906 erwähnte Trotzki die konstituierende Versammlung nicht, doch ging er auf die Frage in einem Anhang ein, der im Oktober 1915 veröffentlicht wurde. Hier griff er den bürgerlich-demokratischen Rahmen der Politik der Menschewiki an und schrieb: „Die Losung einer konstituierenden Versammlung setzt eine revolutionäre Situation voraus. Ist diese gegeben? Ja, aber sie ist am allerwenigsten von der endlichen Geburt einer bürgerlichen Demokratie in Russland bestimmt, der man zuschreibt, sie sei jetzt bereit und in der Lage, mit dem Zarismus abzurechnen.“ Zwar stellt er fest, die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung würde „eine ungeheure Rolle in der Agitationsarbeit der Sozialdemokratie spielen“, doch er warnt: „Die Losung der Verfassunggebenden Versammlung oder der Konfiszierung des Bodens der Gutsbesitzer verlieren unter den gegenwärtigen Bedingungen alle unmittelbar revolutionäre Bedeutung ohne die direkte Bereitschaft des Proletariats, für die Eroberung der Macht zu kämpfen.“

Fast zu gleicher Zeit schrieb Lenin: „Die Losung ,Konstituierende Versammlung‘ ist als selbständige Losung falsch, da die ganze Frage jetzt darum geht, wer sie einberufen wird. Die Liberalen akzeptierten diese Losung im Jahre 1905, da sie im Sinne einer vom Zaren einberufenen und mit ihm paktierenden Versammlung gedeutet werden konnte“ („Einige Thesen“, Oktober 1915). Lenin hielt zwar an seiner Forderung einer provisorischen revolutionären Regierung fest, wandte aber ein, die Hauptlosungen bestünden im Kampf für eine demokratische Republik, für die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien und den Achtstundentag unter Hinzunahme „des Appells an die internationale Solidarität der Arbeiter im Kampf für den Sozialismus, für die revolutionäre Niederwerfung der kriegführenden Regierungen“ (ebd.).

Die konstituierende Versammlung in der Russischen Revolution

Die permanente Revolution und die konstituierende Versammlung sind eng miteinander verknüpft, weil es grundsätzlich um die Frage des Staatstypus geht, der imstande sein wird, die demokratischen Aufgaben der Revolution zu vollenden: die Diktatur der Bourgeoisie oder die des Proletariats? Die Debatten über diese Fragen zogen sich über mehr als ein Jahrzehnt hin, gekennzeichnet durch die Rechtsentwicklung Plechanows und der Menschewiki und durch den endgültigen Bruch Trotzkis sowie der Mehrheit von Lenins Bolschewiki mit der Auffassung, dass die Revolution notwendigerweise in zwei Etappen stattfinden würde. Wie die Geschichte zeigen sollte, besteht das „Zwei-Etappen“-Programm der Revolution aus einer ersten Etappe, in der die Opportunisten dabei mithelfen, einen Flügel der Bourgeoisie an die Macht zu bringen, und einer zweiten Etappe, in der die Bourgeoisie die Kommunisten und Arbeiter im Blut ertränkt.

Selbst nachdem die wesentlichen Grundsätze der Perspektive der permanenten Revolution Anerkennung fanden – bei Trotzki 1905, bei Lenin Anfang 1917 –, musste das Verhältnis zwischen Sowjets und konstituierender Versammlung in der Praxis getestet werden. Erst durch die Erfahrung der Oktoberrevolution kamen Lenin und Trotzki dazu, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung zu unterstützen, trotz ihres vorhergehenden Eintretens für ihre Einberufung.

Anfang 1917 verwarf Lenin in seinen berühmten Aprilthesen endgültig die Konzeption der „demokratischen Diktatur“ und der provisorischen revolutionären Regierung. Er kämpfte gegen rechte Bolschewiki wie Lew Kamenjew und Stalin, als diese zu einer bedingten Unterstützung der bürgerlichen Provisorischen Regierung aufriefen, die nach dem Sturz des Zaren ins Leben gerufen wurde. Lenin stellte fest, dass die Sowjets die „einzig mögliche Form der revolutionären Regierung“ sind („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, April 1917).

Im Gegensatz zu 1905, als Lenin eine konstituierende Versammlung als Ziel eines Aufstands sah, benutzte er nun die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung als Entlarvungstaktik, um die Massen dafür zu gewinnen, sich gegen die Provisorische Regierung zu stellen und für Sowjetmacht zu kämpfen:

„Ich habe die Provisorische Regierung angegriffen, weil sie weder einen baldigen noch überhaupt einen Termin für die Einberufung der Konstituierenden Versammlung festsetzte und mit bloßen Versprechungen davonzukommen trachtet. Ich habe nachzuweisen versucht, dass ohne die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Einberufung der Konstituierenden Versammlung nicht gesichert, ihr Gelingen unmöglich ist.“

– ebd.

Die Menschewiki und andere versöhnlerische Parteien verschoben ständig die Einberufung der Konstituierenden Versammlung; diese Verzögerung lieferte ihnen einen Vorwand für die Fortsetzung des Krieges und die Weigerung, das Land an die Bauern zu verteilen. Gleichzeitig setzten sie den immer stärkeren Forderungen nach einer Sowjetregierung die Losung der Konstituierenden Versammlung entgegen. Im Juli 1917 prangerten die Menschewiki in einer Resolution die bolschewistische Losung „Alle Macht den Sowjets!“ als „gefährlich“ an, da die Sowjets „nur von einer Minderheit der Bevölkerung unterstützt“ würden. Die Resolution schließt mit den Worten: „Erst dann, in der Konstituierenden Versammlung, die die Geschicke Russlands auf viele Jahre hinaus bestimmen wird, wird die Stimme der Arbeiterklasse voll ertönen“ (zitiert in Robert H. McNeal [Hrsg.], Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union [Resolutionen und Beschlüsse der Kommunistischen Partei der Sowjetunion], Bd. 1, University of Toronto Press, 1974).

Auch innerhalb seiner eigenen Partei hatte Lenin mit „konstitutionellen Illusionen“ zu kämpfen. Das spitzte sich im Oktober zu, als Kamenjew und Sinowjew die Unterstützung der Konstituierenden Versammlung dem Aufruf zum Aufstand entgegensetzten. Sie drängten auf einen „kombinierten“ Staatstypus, und anstatt die Macht zu ergreifen argumentierten sie: „Die Sowjets sollen die Pistole sein, der Regierung auf die Brust gesetzt mit der Forderung, die Konstituierende Versammlung einzuberufen“ (zitiert in Lenin, „Brief an die Genossen“, 17. Oktober 1917). Lenin erwiderte scharf: „Der Verzicht auf den Aufstand ist der Verzicht auf die Übertragung der Macht an die Sowjets, ist ,Übertragung‘ aller Hoffnungen und aller Erwartungen auf die gütige Bourgeoisie, die ,versprochen‘ hat, die Konstituierende Versammlung einzuberufen“ (ebd.).

Nach der Eroberung der Sowjetmacht ließen die Bolschewiki die angesetzten Wahlen zur Konstituierenden Versammlung bald stattfinden. Das Ergebnis war eine konterrevolutionäre Körperschaft. Als die Konstituierende Versammlung sich weigerte, die Sowjetmacht anzuerkennen, wurde sie aufgelöst (siehe „Bürgerlicher Demokratismus kontra Oktoberrevolution“, Seite 4).

Die Debatten zur Konstituierenden Versammlung zusammenfassend, hob Trotzki in seiner Geschichte der russischen Revolution (1930) die „Unzulänglichkeit der formalen Demokratie an der tiefen historischen Wende“ hervor: „Die Macht der Tradition zeigte sich darin, dass noch am Vorabend des letzten Waffengangs nicht eines der Lager auf den Namen der Konstituierenden Versammlung verzichtete.“ Er führte aus:

„Aber fast unmerklich war die wichtigste demokratische Losung, die während anderthalb Jahrzehnten dem heroischen Kampf der Massen Farbe verliehen hatte, im Laufe der Revolutionsereignisse ausgeblichen und verblasst, als sei sie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, leere Spreu, nackte, inhaltlose Form geworden, Tradition, aber nicht Perspektive. An diesem Prozess war nichts Rätselhaftes. In ihrer Entwicklung geriet die Revolution an den unmittelbaren Waffengang der zwei Kernklassen der Gesellschaft um die Macht: Bourgeoisie und Proletariat. Weder der einen noch der anderen vermochte die Konstituierende Versammlung noch etwas zu bieten.“

Deutschland 1918/19

Die Erfahrung von 1917 und die Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918 hatten eine entscheidende Wirkung. Als sich gegen Ende dieses Jahres in Deutschland die Revolution zu entfalten begann, unterstützte kein einziges Mitglied des revolutionären Flügels der Sozialdemokratie die Forderung zur Nationalversammlung. Diese wurde, in offenkundig konterrevolutionärer Absicht, allein von der reformistischen SPD erhoben, sowie von der Führung der zentristischen USPD, einer heterogenen, 1917 aus der SPD ausgeschlossenen Gruppierung, zu der eingefleischte Opportunisten wie Kautsky, Rudolf Hilferding und Eduard Bernstein gehörten. Ähnlich wie Sinowjew und Kamenjew im Oktober 1917 verfochten die zentralen Führer der USPD einen „kombinierten“ Staat, der Arbeiterräte und eine Nationalversammlung vereinigen sollte, wobei letztere eindeutig vorherrschen würde.

Die revolutionäre Situation explodierte Anfang November 1918 nach einem Matrosenaufstand in Kiel, der in vielen deutschen Städten Massenstreiks und die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten auslöste. Der Spartakusbund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, damals der linke Flügel der USPD, erhob die Forderung: „Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs-Arbeiter- und Soldatenrates“ (Rote Fahne, 10. November 1918). Am nächsten Tag verkündete die bolschewistische Regierung in einer Botschaft an das deutsche Proletariat: „Es gilt, mit den Waffen in der Hand, wirklich die Macht überall zu übernehmen, eine Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenregierung, mit Liebknecht an der Spitze, zu bilden. Lasst Euch keine Nationalversammlung aufschwatzen“ (ebd.).

Die SPD, mit den Ereignissen in Russland vor Augen, machte die Forderung nach einer Nationalversammlung zum Schwerpunkt ihrer Manöver, um die bürgerliche Herrschaft wieder zu stabilisieren. Als proletarische Massendemonstrationen die Straßen Berlins eroberten, gelangte der Kanzler Prinz Max von Baden zu der Überzeugung, dass nur die Abdankung Kaiser Wilhelms II. und die Schaffung einer von der SPD geführten Regierung das deutsche Kapital noch retten könne. Er fragte den SPD-Führer Friedrich Ebert: „Wenn es mir gelingt, den Kaiser zu überzeugen, habe ich Sie dann an meiner Seite im Kampf gegen die soziale Revolution?“ Und Ebert antwortete: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde“ (Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente, Bd. 2).

Der Prinz und sein SPD-Verbündeter fanden einen Weg, die revolutionäre Flut aufzuhalten: Als der Kaiser sich weigerte abzudanken, gab von Baden den Versuch auf, ihn zur Einsicht in die Realität zu bringen, und verkündete einfach seine Abdankung. Der andere SPD-Vorsitzende Philipp Scheidemann trug seinen Teil dazu bei, indem er die Republik ausrief – zum Leidwesen von Ebert, der es vorgezogen hätte, ähnlich dem Kaisertum in Japan die Monarchie als Stütze von Recht und Ordnung zu erhalten.

Der Gedanke, die Nationalversammlung zügig einzuberufen, stammte ebenfalls vom Prinzen von Baden. Er schloss seine Erklärung zur Abdankung des Kaisers mit dem Vorschlag, Ebert zum Kanzler zu ernennen und einen Gesetzentwurf „wegen der Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung“ vorzulegen (Vorwärts, 2. Extraausgabe vom 9. November 1918). In seinem maßgeblichen Buch über die deutschen Arbeiterräte von 1918/19 bemerkt Eberhard Kolb:

„Von großer Bedeutung für den weiteren Ablauf ist es geworden, dass Prinz Max von Baden am 8. November den Gedanken der NV, den er bereits seit Tagen erwogen hatte, lancierte, um durch eine demokratische Gegenaktion der revolutionären Bewegung den Rang abzulaufen. In einem Telefonat mit dem Kaiser empfahl er, nicht eine Regentschaft für den Enkel einzusetzen, sondern … eine NV einzuberufen: auf diese Weise würde die Stimmung der Massen, die zum Kampf drängten, von gesetzlosen in legale Bahnen, von der Straße in die Wahllokale abgelenkt.“

– Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–19, Droste Verlag, Düsseldorf 1962

Um die Arbeiterklasse zu täuschen, musste die SPD den Anschein von „sozialistischer Einheit“ erwecken. So lud Ebert die USPD zur Teilnahme an seiner Regierung ein, die der Rat der Volksbeauftragten genannt wurde, in bewusst irreführender Anspielung auf den revolutionären Rat der Volkskommissare unter den Bolschewiki. Trotz Widerstands von Luxemburg, Liebknecht und ihren Anhängern kam die USPD der Aufforderung willig nach und trat am 10. November in die neue Regierung ein. Die SPD verband Aufrufe zur Demokratie mit der Behauptung, die Nationalversammlung würde die Souveränität des gesamten Volkes verkörpern. In der Ankündigung der Wahlen zur Nationalversammlung führte die Regierung auch das allgemeine Wahlrecht für alle Bürger ab 20 Jahren ein und beendete so das verhasste preußische Dreiklassenwahlrecht. Sie kündigte auch andere Reformen an, wie etwa den Achtstundentag, um die unruhigen Arbeiter dahin zu bringen, die wieder stabilisierte kapitalistische Ordnung hinzunehmen. Das war im Grunde das „Minimalprogramm“.

Eine erbitterte Debatte über die Nationalversammlung fand am 15. Dezember auf einer außerordentlichen Generalversammlung des USPD-Verbands von Groß-Berlin statt. Luxemburg legte im Namen des Spartakusbundes eine Resolution vor, in der die Versammlung aufgefordert wurde, folgende zentrale Forderungen aufzustellen:

„1. den sofortigen Austritt der Vertreter der USP aus der Regierung Ebert-Scheidemann;

2. die Verbandsversammlung lehnt die Einberufung der Nationalversammlung ab, die nur dazu führen kann, die Gegenrevolution zu stärken und die Revolution um ihre sozialistischen Ziele zu betrügen;

3. die sofortige Übernahme der ganzen politischen Macht durch die A.- und S.-Räte.“

Die Freiheit (16. Dezember 1918)

Diese Forderungen waren einem Antrag von Hilferding entgegengesetzt, in dem es hieß: „Die wichtigste politische Aufgabe der U.S.P. ist augenblicklich Organisation der Wahlen zur Nationalversammlung. Es handelt sich darum, alle Kraft des Proletariats aufzubieten, um den Sieg des Sozialismus über die Bourgeoisie zu erringen“ (zitiert nach G. A. Ritter und S. Miller [Hrsg.], Die deutsche Revolution 1918–1919. Dokumente, Frankfurt/M. 1983). Am Ende wurde Hilferdings Resolution mit großer Mehrheit angenommen, was die relative Schwäche der Kräfte der Spartakisten widerspiegelte.

Die Arbeiter- und Soldatenräte, überwiegend unter der Kontrolle von SPD oder USPD, dankten letztendlich zugunsten der Nationalversammlung ab. Nicht genug, dass sich die Räte im Allgemeinen als vorübergehende „Unterstützungsorganisationen“ des Rates der Volksbeauftragten verstanden; dieses falsche Bewusstsein wurde noch durch die Vorstellung verstärkt, dass baldige Wahlen zu einer parlamentarischen Körperschaft führen würden, die vermeintlich strittige Fragen im Sinne der Arbeiter lösen würde. Der Aufruf zu einer Nationalversammlung war für die Hinhaltetaktik des Regimes wichtig, indem er die Verschiebung kritischer Entscheidungen rechtfertigte, bis sich die Bourgeoisie wieder erholt hatte und die Soldatenräte durch Massendemobilisierung entscheidend geschwächt waren. Die Demobilisierung der zerschlagenen Armee ging so schnell vonstatten, wie es die erschöpften Soldaten nach Hause schafften, und Soldaten hatten eine gesetzliche Weiterbeschäftigungsgarantie auf den alten Arbeitsplatz. Der erste Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte, der vom 16.–21. Dezember tagte, stimmte für die Unterstützung der Nationalversammlung, und Wahlen wurden einen Monat später abgehalten, knapp zehn Wochen nach dem Ausbruch der Revolution.

Die überwiegende Mehrheit der deutschen Arbeiter wollte den Sozialismus, wie sie ihn verstanden, und eine autoritative Partei vom bolschewistischen Typus mit politisch gestählten, in den Fabriken verankerten Kadern hätte den Gang der Ereignisse in Richtung Arbeiterrevolution leiten können. Doch Luxemburg und Liebknecht hatten nicht mit der Sozialdemokratie gebrochen, nicht einmal nach dem historischen Verrat der SPD, als diese 1914 für die Kriegskredite stimmte. So blieb der Spartakusbund eine winzige Gruppe isolierter Einzelpersonen inmitten eines sozialdemokratischen Meeres. Das Versäumnis der herausragenden revolutionären Marxisten Deutschlands, eine Abspaltung von der SPD zu organisieren – und ihre spätere Entscheidung, Teil der ständig schwafelnden bürgerlich-pazifistischen USPD zu bleiben – erlaubte es den SPD- und USPD-Führern, die entscheidenden politischen Fragen zu verschleiern, und verhalf dem zynischen Einheitsgehabe der SPD zu noch größerer Wirksamkeit.

Der Spartakusbund und die von ihm in den letzten Tagen des Jahres 1918 endlich mitbegründete KPD konnten in Berlin hunderttausende Arbeiter zum Protest gegen die Schandtaten der Ebert-Regierung auf die Straße bringen. Doch mit nur wenigen hundert Mitgliedern in der Stadt war die neue Partei nicht in der Lage, einen sofortigen Kampf um Arbeitermacht zu führen. Als militante Arbeiter Anfang Januar 1919 die Druckerei besetzten, wo die SPD-Zeitung Vorwärts gedruckt wurde, ließ sich Liebknecht von revolutionärer Ungeduld mitreißen und folgte gegen den Widerstand Luxemburgs den Arbeitern bei ihrem voreiligen Kampf um die Macht. Als das Regime sich daranmachte, die Revolte niederzuschlagen, blieben Luxemburg und Liebknecht in Berlin, anstatt in die Klandestinität zu gehen, und wurden von den SPD-Bluthunden gejagt und sodann von rechten Freikorps ermordet.

In Deutschland war 1918/19 die konterrevolutionäre Rolle der Nationalversammlung noch offensichtlicher als in Russland im Jahr zuvor. Für die Bourgeoisie und ihre SPD-Agenten waren die Aufrufe zur Nationalversammlung der Dreh- und Angelpunkt, um damit die Zeitspanne drastisch zu verkürzen, in der Spartakusbund/KPD die Arbeiterklasse hinter einem revolutionären Programm hätten organisieren können. Allerdings wurde das wahre Ausmaß davon, welchen Dienst die SPD und ihre Handlanger des rechten USPD-Flügels dem deutschen Kapital geleistet hatten, erst Mitte Januar nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands allmählich begriffen. Als die bürgerliche Herrschaft fürs Erste wieder gefestigt war, konnten Ebert & Co. die Freikorps mobilisieren, um andere Inseln des Arbeiterwiderstands in Deutschland niederzuschlagen.

Die Kommunistische Internationale zieht die Lehren

Auf dem I. Weltkongress der Kommunistischen Internationale erklärte Lenin: „Wir gingen in unserer Revolution praktisch, nicht theoretisch vor. Die Frage der Konstituante haben wir früher z. B. nicht theoretisch gestellt, wir haben nicht gesagt, dass wir die Nationalversammlung nicht anerkennen. Erst später, nachdem die Sowjetorganisationen sich über das ganze Land verbreitet und die politische Macht erobert hatten, erst dann sind wir dazu gekommen, die Konstituante auseinanderzujagen“ („Leitsätze über bürgerliche Demokratie und proletarische Diktatur“, März 1919).

Diese Verlagerung vom Praktischen zum Theoretischen beim Umgang mit der konstituierenden Versammlung lässt sich in Lenins Schriften und Erklärungen nachverfolgen. Staat und Revolution, nur wenige Monate vor der Oktoberrevolution geschrieben, ist eine einzige Polemik gegen parlamentarische Illusionen. Zwar thematisierte Lenin die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung nicht als solche, doch er betonte immer wieder, dass der Weg zum Sozialismus über die Diktatur des Proletariats führe, nicht über die bürgerliche Demokratie. Nach Erringen der Sowjetmacht sprach sich Lenin für den Aufschub der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung aus. 1924 zitierte Trotzki Lenin, der in der Parteiführung zu dieser Frage „mit seinem Standpunkt allein“ geblieben war (Über Lenin, Material für einen Biographen): „Der Provisorischen Regierung gegenüber bedeutete die Konstituierende Versammlung einen Schritt vorwärts, oder besser, sie hätte ihn bedeuten können; der Sowjetmacht gegenüber, besonders bei den bestehenden Wahllisten, würde sie aber unweigerlich einen Schritt rückwärts bedeuten.“ Lenin wandte ein, die Entscheidung, diese Wahlen stattfinden zu lassen, sei „ein Fehler, ein offenkundiger Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen kann! Wenn dieser Fehler nur nicht der Revolution den Kopf kostet“ (zitiert ebd.).

Nachdem die Wahlen eine konterrevolutionäre Mehrheit in der Konstituante brachten, schrieb Lenin seine „Thesen über die Konstituierende Versammlung“ (Dezember 1917), im Zuge seines Kampfes gegen das Büro der bolschewistischen Delegierten zur Konstituierenden Versammlung (darunter Kamenjew und Stalin), die vor der bürgerlichen Demokratie kapitulierten. Lenin betonte:

„Jeder direkte oder indirekte Versuch, die Frage der Konstituierenden Versammlung vom formaljuristischen Standpunkt aus, im Rahmen der gewöhnlichen bürgerlichen Demokratie, unter Außerachtlassung des Klassenkampfes und des Bürgerkriegs zu betrachten, ist Verrat an der Sache des Proletariats, bedeutet Übergang zur Position der Bourgeoisie…

Jeder Versuch, der Sowjetmacht in diesem Kampf die Hände zu binden, würde bedeuten, der Konterrevolution Vorschub zu leisten.“

Lenin griff die Frage auf breiterer historischer Basis in dem Buch Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky auf, das er unmittelbar vor Ausbruch der deutschen Revolution Ende 1918 beendete. In seinem Bericht auf dem I.Weltkongress der KI, der knapp zwei Monate nach der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht zusammentrat, erklärte er: „Es zeigt sich hier noch einmal, dass der allgemeine Gang der proletarischen Revolution in der ganzen Welt derselbe ist. Zuerst spontane Gründung der Sowjets, hierauf ihre Verbreitung und Entwicklung, dann die praktisch auftretende Frage: Sowjets oder Nationalversammlung, oder Konstituante, oder bürgerlicher Parlamentarismus; vollste Konfusion der Führer und endlich die proletarische Revolution“ („Leitsätze über bürgerliche Demokratie und proletarische Diktatur“, März 1919).

Im Mai 1920 schrieb Lenin Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus zwecks Verteilung an die Delegierten des II.Weltkongresses der KI. Damit wollte er ultralinke Tendenzen bei den jungen und unerfahrenen Kommunistischen Parteien bekämpfen, die er anspornte, sich die Lehren der bolschewistischen Geschichte anzueignen. Lenin erklärte ihnen, dass die Teilnahme an bürgerlichen Wahlen und die Ausnutzung der parlamentarischen Bühne für die Mobilisierung von Arbeitern eine nützliche kommunistische Taktik sein kann. Er stellte fest, dass „die Bolschewiki die Konstituierende Versammlung nicht boykottiert, sondern … sich sowohl vor als auch nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat an den Wahlen beteiligt“ hatten. Doch nirgendwo in diesem Handbuch kommunistischer Taktik – oder auch sonst auf dem II.Weltkongress, auch nicht in den „Leitsätzen über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus“ – wurde der Versuch gemacht, der Losung einer konstituierenden Versammlung neues Leben einzuhauchen, um die sich die Agitation der „alten Bolschewiki“ 15 Jahre lang gedreht hatte.

Zur Zeit des III. Weltkongresses 1921, der wieder zentral der Vermittlung der Lehren des Bolschewismus gewidmet war, war Lenins einziger Hinweis auf die konstituierende Versammlung die Bemerkung, dass sie jetzt „ein Schimpfwort, nicht nur bei den aufgeklärten Kommunisten, sondern auch bei den Bauern“ geworden sei („Referat über die Taktik der KPR“ [Kommunistische Partei Russlands], 5. Juli 1921). Und er fügte hinzu: „Sie wissen aus dem praktischen Leben, dass die Konstituierende Versammlung und die weiße Garde ein und dasselbe bedeuten, dass der ersteren die letztere unweigerlich auf dem Fuße folgt.“

Vor 1917 begründeten die Bolschewiki die Forderung nach der konstituierenden Versammlung zum großen Teil damit, dass man die Bauernmassen gewinnen musste. Doch die Erfahrung der Oktoberrevolution zeigte, dass nicht Agitation für ein demokratisches Parlament, sondern die Erringung der proletarischen Staatsmacht die Grundlage dafür schuf, dass sich die Bauern (insbesondere die armen Bauern) auf die Seite der Arbeiter schlugen. Wie Lenin im Rückblick bemerkte: „Wenige Stunden nach dem Sieg über die Bourgeoisie in Petrograd erließ das siegreiche Proletariat das ,Dekret über den Grund und Boden‘. Und durch dieses Dekret hat es mit einem Schlage und vollständig, mit revolutionärer Schnelligkeit, Energie und Selbstlosigkeit alle brennenden ökonomischen Bedürfnisse der Mehrheit der Bauern befriedigt, hat es die Gutsbesitzer gänzlich und ohne Entschädigung expropriiert“ („Die Wahlen zur konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariats“, Dezember 1919). Und weiter:

„Diese Dialektik haben die Verräter, Dummköpfe und Pedanten der II. Internationale nie begreifen können: das Proletariat kann nicht siegen, ohne die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu erobern. Allein diese Eroberung unter der Herrschaft der Bourgeoisie auf die Erzielung einer Stimmenmehrheit bei Wahlen beschränken oder sie davon abhängig machen zu wollen zeugt von abgrundtiefer Beschränktheit oder läuft auf einen glatten Betrug an den Arbeitern hinaus.“

Die historische Bilanz ist eindeutig. Diejenigen, die den Standpunkt von Lenins Bolschewiki vor dem Oktober 1917 zur Rechtfertigung ihrer Forderung nach der konstituierenden Versammlung heranziehen, müssen alles, was Lenin seit 1918 geschrieben und gesagt hat – als er solche Forderungen konsequent verurteilte – ignorieren. In ihrer revolutionären Periode betrachtete die KI die konstituierende Versammlung als bestenfalls veraltete Losung, ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts und des sozialdemokratischen Minimal/Maximalprogramms. Insbesondere im Lichte der Erfahrungen in Russland und Deutschland erkannte die kommunistische Bewegung unter Lenin und Trotzki, dass die Losung, zumindest in den imperialistischen Ländern, in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs nur antirevolutionären Zwecken dienen konnte.

China und die permanente Revolution

Trotzkis Wiederaufgreifen der Losung der konstituierenden Versammlung kam ein Jahrzehnt später, nach der Niederlage der Zweiten Chinesischen Revolution von 1925–27. Tatsächlich stammt der überwiegende Teil seiner Argumente für diese Forderung aus Artikeln und Briefen aus der Zeit zwischen Ende 1928 und Anfang 1932, von denen viele in Trotzkis Schriften über China (Schriften, Bd. 2.2, Rasch und Röhring, Hamburg 1990) veröffentlicht sind. Doch diese waren bisweilen verworren und widersprüchlich; anstatt den chinesischen Trotzkisten Klarheit zu bringen, riefen sie anhaltende Debatten, Meinungsverschiedenheiten und sogar politische Paralyse hervor.

Was die frühe Komintern außer Acht ließ, war die Frage, ob die Losung für Kolonien und Halbkolonien überhaupt tauglich war, wo das Proletariat weit schwächer war als in Europa und die Imperialisten in der Regel durch brutale Unterdrückung herrschten, ohne selbst den Anschein bürgerlicher Demokratie. Die von Lenin entworfenen und auf dem II. Weltkongress der KI angenommenen „Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“ betonten die Notwendigkeit für Kommunisten in imperialistischen Ländern, den Kampf für koloniale Befreiung aktiv zu unterstützen. Zu dieser Zeit gab es in den Kolonien und Halbkolonien kaum proletarische politische Bewegungen, wenn auch in Ländern wie China und Indien kriegsbedingte wirtschaftliche Verschiebungen die Entstehung wichtiger neuer proletarischer Ballungszentren zur Folge hatten. Lenins Thesen befürworten ein „zeitweiliges Bündnis“ mit bürgerlich-demokratischen Kräften, betonen aber zugleich, dass die Komintern die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung, sogar in ihrer Keimform, gegenüber der nationalen Bourgeoisie wahren muss.

1922 gab es bereits erste Ansätze eines Abrückens von dieser Position, als der IV. Weltkongress der KI zu einer „antiimperialistischen Einheitsfront“ aufrief, was einen andauernden politischen Block mit dem bürgerlichen Nationalismus implizierte. Die Beschlüsse des IV. Weltkongresses hatten Schwächen, doch das Herangehen der KI an diese Frage wurde erst nach ihrer stalinistischen Degeneration qualitativ schlimmer. Schon Ende 1924 propagierte Stalin das antirevolutionäre Dogma vom „Sozialismus in einem Lande“. Lenin war bereits gestorben und Trotzki kaltgestellt, und so schlug die KI-Führung – zuerst unter dem schwankenden Sinowjew und dann unter Nikolai Bucharin – einen Zickzackkurs in Richtung einer immer offeneren Perspektive der Klassenzusammenarbeit ein, bis hin zur regelrechten Auflösung in bürgerlich-nationalistische Parteien.

Schon im August 1922 hatten KI-Emissäre die junge Kommunistische Partei Chinas (KPCh) dazu gedrängt, der bürgerlich-nationalistischen Guomindang (GMD, Kuomintang in der früheren Transliteration) beizutreten (siehe „Die Ursprünge des chinesischen Trotzkismus“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 19, Winter 1997/98). Ursprünglich war die gesamte KPCh-Führung dagegen gewesen, und ebenso Trotzki, als die Frage Anfang 1923 im sowjetischen Politbüro behandelt wurde. Stalin und Bucharin behaupteten, die GMD stelle einen „Block der vier Klassen“ dar und verdiene die volle Unterstützung der Kommunisten. Auf Anweisung der KI blieb die KPCh loyal innerhalb der Guomindang, selbst dann noch, als der GMD-Führer Chiang Kai-shek im April 1927 einen Putsch durchführte und Zehntausende von kommunistisch geführten Arbeitern in Shanghai entwaffnete und abschlachtete.

1927 kämpfte Trotzki hartnäckig das ganze Jahr hindurch gegen diese verheerende Politik. Er und seine Anhänger gehörten damals zur Vereinigten Opposition, einer zusammen mit Sinowjew und Kamenjew nach deren Bruch mit Stalin Ende 1925 gegründeten gemeinsamen Fraktion. Die Vereinigte Opposition lehnte jegliche politische Unterstützung für die bürgerlichen Nationalisten ab und bekräftigte in einer Resolution, die dem Plenum des Exekutivkomitees der KI im Mai 1927 vorgelegt wurde: „Generell ist Kurs auf die Errichtung einer demokratischen Diktatur der Arbeiter- und Bauernräte zu nehmen“ („Es ist Zeit, zu begreifen, zu überdenken und zu verändern“, Mai 1927, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.1). Doch zwischen Trotzki und anderen Mitgliedern der Vereinigten Opposition gab es bedeutende Meinungsverschiedenheiten; insbesondere war Trotzki in der Minderheit mit seiner Position, den sofortigen Austritt der KPCh aus der Guomindang zu fordern. Die Vereinigte Opposition ging Ende 1927 zu Bruch, als die Stalinisten daran gingen, die Opposition massenhaft auszuschließen, woraufhin Sinowjew, Kamenjew und deren Anhänger ihren Standpunkten abschworen und um Wiederaufnahme baten.

Die chinesische Katastrophe bewies, dass es in der kolonialen Welt keine „demokratische“ Zwischenetappe geben kann. Ende 1927 zog Trotzki die Schlussfolgerung, dass in China und anderen Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung die Perspektive der permanenten Revolution den einzigen Weg zur nationalen und sozialen Befreiung darstellt. Er erläuterte dies in seiner im Juni 1928 fertiggestellten Kritik des Programmentwurfs der KI, die später als Die Dritte Internationale nach Lenin veröffentlicht wurde. Trotzkis Anwendung der permanenten Revolution auf die ganze koloniale und halbkoloniale Welt war entscheidend dafür, dass die Linke Opposition neue Anhänger gewann, insbesondere in China selbst.

Die Kritik des Programmentwurfs der KI war nach dem verhängnisvollen, von Stalin im Dezember 1927 befohlenen Aufstand von Kanton (Guangzhou) geschrieben worden, dem endgültigen demoralisierenden Kapitel der Niederlage der chinesischen Arbeiter. Das signalisierte auch Stalins Schwenk zur „Dritten Periode“, die das Festhalten am „Sozialismus in einem Lande“ mit linker bombastischer Phrasendrescherei, idiotischem Abenteurertum und sektiererischem Abstentionismus verband. Obwohl in China alle Organisationen der Arbeiterklasse enthauptet worden waren, leugnete die KI-Führung zynischerweise, dass es überhaupt eine Niederlage gegeben hatte, und begann zur Bildung von Sowjets aufzurufen.

Trotzkis Argumente

Trotzki verurteilte den Kantoner Aufstand als abenteuerlichen Putsch, bemerkte aber gleichzeitig, dass der Aufstand in seinen Formen und Aktionen – z. B. dem Verbot aller Strömungen der bürgerlichen Guomindang – doch zeige, wie Stalins und Bucharins Formel der bürgerlich-demokratischen Revolution ein reines Märchen war (drei Briefe an Preobraschenski von März/April 1928, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.1). Gleichzeitig suchte Trotzki nach Möglichkeiten, wie die KPCh neu entstehen und die Massen wieder aufrütteln könne. Er hatte den Aufruf der KPCh zu einer konstituierenden Versammlung in einem kurz nach dem blutigen Putsch der GMD geschriebenen Dokument unterstützt; dabei betonte er, die Losung werde „zur leeren Abstraktion, manchmal schlicht zur Scharlatanerie, wenn nicht gesagt wird, wer sie wie und aufgrund welchen Programms einberufen will“ („Die chinesische Revolution und die Thesen des Genossen Stalin“, Mai 1927, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.1). Hier muss bemerkt werden, dass Trotzki zu diesem Zeitpunkt auch die Forderung der Vereinigten Opposition nach einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft akzeptierte.

Trotzki stellte die Losung der konstituierenden Versammlung im September 1928 in einer Reihe von Briefen an Mitglieder der Linken Opposition wieder auf, nachdem die Stalinisten erklärt hatten, dass jegliche Forderung nach einer Konstituante opportunistisch sei. In einem Brief vom 24. September an Iwar Smilga heißt es:

„Übergangsforderungen sind notwendig. In erster Linie – die konstituierende Versammlung. Diese Losung kann eine Spaltung zwischen der bürgerlichen Führungsschicht und selbst den städtischen kleinbürgerlichen Massen hervorrufen. Sie könnte es der Kommunistischen Partei ermöglichen – natürlich nicht sofort –, sich aus dem Untergrund hervorzuwagen und eine neue Kampagne zur Mobilisierung der werktätigen Massen zu starten.“

– Juri Felschtinski (Hrsg.), Trotsky L.D. Pis’ma iz ccylki, 1928 [L. D. Trotzki, Briefe aus dem Exil, 1928], Gumanitarnaja Literatura, Moskau 1995

Trotzki ging auf dieses Thema in einem ausführlicheren Artikel näher ein:

„Es ist der Gedanke einer Vertretung des ganzen Volkes, wie wir aus allen bürgerlichen Revolutionen, besonders aber aus den nationalen Befreiungskämpfen wissen, der am elementarsten, einfachsten und geeignetsten ist, wirklich breite Volksmassen zu ergreifen. Je mehr sich die herrschende Bourgeoisie dieser Forderung des ,ganzen Volkes‘ widersetzt, desto dichter wird sich die proletarische Avantgarde um unser Banner scharen und die Volksmassen um die proletarische Avantgarde, und desto besser werden die politischen Bedingungen für einen echten Sieg über den bürgerlichen Staat heranreifen, gleichgültig, ob es sich um eine Militärdiktatur der Guomindang oder eine parlamentarische Demokratie handelt.“

– „Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress“ (Oktober 1928), in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.1

Wie der am Anfang dieses Artikels zitierte Lenin-Brief von 1919 klar macht, ignorierte diese Erklärung die angesammelten Erfahrungen der bolschewistischen Revolution, nämlich dass die Bauernmassen in erster Linie nicht durch Agitation für Demokratie gewonnen wurden, sondern dadurch, dass das siegreiche Proletariat den Hunger der Bauernschaft nach Land stillte. Darüber hinaus untermauerte Trotzki sein Argument damit, dass er die Teilnahme an einem bürgerlichen Parlament und den Aufruf zu einem solchen durcheinander brachte und hierzu Lenins Ablehnung eines Boykotts der zaristischen Duma anführte:

„Doch die Tatsache, dass die Opportunisten die Losung des Kampfes um die Nationalversammlung ausgeben, ist keineswegs ein Argument dafür, dass wir den Parlamentarismus formal ablehnen müssen. Nach dem Staatsstreich vom 3. Juni 1907 in Russland setzten sich die führenden Elemente der bolschewistischen Partei mehrheitlich für einen Boykott der in ihren Rechten beschnittenen und manipulierten Duma ein…

Das konnte Lenin nicht davon abhalten, entschieden für die Ausnutzung sogar des ,Parlamentarismus‘ vom 3. Juni einzutreten. Auf der damals noch gemeinsamen Konferenz beider Fraktionen war Lenin der einzige Bolschewik, der gemeinsam mit den Menschewiki für die Teilnahme an den Wahlen stimmte.“

– ebd.

Trotzki hatte Recht, als er die ultralinken und abenteuerlichen Idiotien der Dritten Periode bekämpfte und gegen den Aufruf zur Bildung von Sowjets eintrat, die nicht mehr unmittelbar auf der Tagesordnung standen. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Aufstellen von Übergangsforderungen sowie demokratischen Forderungen, die wirklich im Interesse der Werktätigen sind, und dem Aufruf zur Schaffung einer neuen Institution der bürgerlichen Herrschaft. In der Periode der Reaktion nach 1927 waren die Aufgaben, vor denen chinesische Marxisten standen, notwendigerweise hauptsächlich propagandistischer Art: das Vorantreiben des selbständigen Kampfes der Arbeiterklasse an der Spitze der Dorfarmut, der allein die Befreiung vom Imperialismus und den Unterdrückern im eigenen Land erreichen kann. Wie können wir die nationale Befreiung, Agrarrevolution, Frauenrechte erringen? Nur wenn die Gesellschaft unter Führung der Werktätigen steht. Wenn man aber stattdessen für den Kampf zur Schaffung eines bürgerlichen Parlaments eintritt, setzt dies implizit eine Zwei-Etappen-Perspektive voraus: heute für die bürgerliche Demokratie kämpfen, die dann irgendwie in der Zukunft in einen Kampf für Sozialismus hinüberwachsen wird.

Debatten innerhalb der sowjetischen Linken Opposition

Trotzkis eigene Schriften lassen erkennen, dass seine Wiederaufnahme der Losung der konstituierenden Versammlung sowohl innerhalb der sowjetischen Opposition als auch bei den neu gewonnenen chinesischen Trotzkisten auf Ablehnung stieß oder zumindest ernsthaft in Frage gestellt wurde. In einem Rundbrief an andere Führer der Linken Opposition bemerkte Trotzki, er habe „schon einige Telegramme erhalten, in denen Einspruch gegen diese Losung erhoben wird“ („Brief an sowjetische Linksoppositionelle“, Oktober 1928, Schriften, Bd. 2.2). Dazu sagte er, dass ihm „einige der in den Telegrammen formulierten Einwände ganz unglaublich vorkommen. So sagen zwei Genossen, die Losung der Konstituierenden Versammlung sei ,keine Klassenlosung‘ und daher abzulehnen… In einigen Telegrammen wird statt der Konstituierenden Versammlung die Losung der Räte vorgeschlagen“.

Weitere Nachforschungen sind notwendig, zugleich ist es aber offensichtlich, dass der Widerstand gegen Trotzkis Gebrauch der Losung von zwei unterschiedlichen Flügeln der sowjetischen Linken Opposition herkam. Der eine war der Kreis um eine Schicht erfahrener Oppositioneller, darunter Smilga, Karl Radek und Jewgeni Preobraschenski. Diese hatten im Jahr davor mit Sinowjew und anderen versöhnlerischen Elementen in der Vereinigten Opposition hinsichtlich der Perspektiven für China einen Block gebildet. Jetzt lehnten sie nicht nur Trotzkis Wiederbelebung der Losung der konstituierenden Versammlung ab, sondern auch – und das war für sie entscheidend – seine Verallgemeinerung und Anwendung der Theorie der permanenten Revolution auf China. Eingenommen von Stalins Rhetorik der Dritten Periode begrüßten sie dessen scheinbare Linkswende als Schritt in Richtung authentischen Marxismus.

So war dieser Teil der frühen Debatten über die Losung der konstituierenden Versammlung in der sowjetischen Linken Opposition eng verwoben mit umfassenden Kämpfen um die permanente Revolution versus die „Zwei-Etappen-Politik“ und „Sozialismus in einem Lande“. Trotzki zerfetzte Radeks diesbezügliche Argumente in seinem Buch Die permanente Revolution, das größtenteils ebenfalls im Oktober 1928 geschrieben worden war. Radek, Preobraschenski und Co. waren bereits weit fortgeschritten auf dem Weg, der sie im Sommer 1929 zur Kapitulation vor der stalinistischen Bürokratie führen sollte.

Mindestens ein prominenter Gegner der Kapitulanten, Fjodor Dingelstedt, erhob ebenfalls ernsthafte Einwände gegen Trotzkis Wiederbelebung der Losung. Dingelstedt, ein Bolschewik seit 1910 und ein Organisator in Petrograd und bei der Baltischen Flotte im Jahr 1917, war seit 1923 Mitglied der Linken Opposition. Das Trotzki-Archiv in der Houghton Library der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, enthält zwei handgeschriebene Briefe von Dingelstedt, die die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung kritisieren. Dingelstedt wurde von der Bürokratie verhaftet und nach Sibirien verbannt; er blieb bis zu seiner Hinrichtung im Gefangenenlager von Workuta Ende der 1930er-Jahre ein aktiver Linksoppositioneller.

Im ersten Brief vom 25. September 1928 unterstützte Dingelstedt die von Trotzki in seiner Kritik des Programmentwurfs der KI formulierte Strategie und Taktik zu China. Er führte Trotzkis Argument an, dass der Versuch, „die chinesische Bourgeoisie durch organisatorische und personelle Manöver zu bändigen, … kein Manöver, sondern ein verachtenswerter Selbstbetrug“ ist (Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993), argumentierte aber gegen Trotzki, dass diese Auffassung „im Grunde die taktische Bedeutung der Losung einer konstituierenden Versammlung in China unterminiert“ (Houghton Library, MS Russ 13 [T2659], unsere Übersetzung). In seinem zweiten Brief, vom 11. Oktober 1928, wandte Dingelstedt ein, die Losung der konstituierenden Versammlung in China „ist gleich Null … ja sie muss sogar einen negativen Wert haben“ („Brief von Fjodor Dingelstedt“, siehe unten).

In einem Rundbrief vom Dezember 1928 spielte Trotzki auf Dingelstedts ersten Brief an. Der Großteil des Rundbriefs bestand aus der politisch korrekten Verteidigung der Notwendigkeit, demokratische Losungen aufzustellen. Doch am Anfang erklärte Trotzki: „Zu meiner großen Überraschung sieht einer der Genossen, die die Losung der Konstituierenden Versammlung kritisieren, darin allen Ernstes ein Manöver meinerseits zur ,Täuschung‘ der chinesischen Bourgeoisie“ („Demokratische Losungen in China“, Dezember 1928, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.2). Trotzki nennt dies ein „Missverständnis“ und verweist auf die Argumente in seiner Schrift „Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress“, doch auf den wesentlichen Inhalt von Dingelstedts Kritik geht er nicht ein. Auf Dingelstedts zweiten Brief scheint Trotzki nicht geantwortet zu haben.

Differenzen innerhalb der chinesischen Opposition

Die Losung der konstituierenden Versammlung rief auch unter den Hunderten chinesischen Studenten, die während ihres Studiums in Moskau für die Linke Opposition gewonnen wurden, eine Kontroverse hervor. In seinen Erinnerungen eines chinesischen Revolutionärs 1919–1949 (isp-Verlag, Frankfurt/M. 1983) erzählt Wang Fanxi, wie chinesische Studenten, die aus der Niederlage der Revolution die Lehren ziehen wollten, sich in aufeinander folgenden Wellen das Programm der permanenten Revolution zu eigen machten. Im Winter 1928/29 waren fast 150 der 400 chinesischen Studenten an der Sun-Yat-sen-Universität in Moskau Mitglieder oder Sympathisanten der Opposition.

Ende 1929 führte Stalins GPU in Studentenwohnheimen Razzien durch und verhaftete mehr als 200 chinesische Trotzkisten. Wang berichtet, dass einige wenige ihre Ansichten widerriefen und zwei aus der sibirischen Verbannung schließlich zurück nach China fliehen konnten, doch sei „nirgends belegt, was mit den übrigen geschah, aber zweifellos starben viele in Stalins Gefängnissen oder vor einem Exekutionskommando der GPU“ (ebd.).

Wang, der später der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung zustimmte, schildert die Wirkung von Trotzkis „Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress“: „Bis jetzt hatten wir Trotzkis Positionen durchgängig als ,links‘ betrachtet; als wir jedoch seinen Artikel lasen, besonders den Abschnitt über die Losung einer konstituierenden Versammlung, schien es uns jungen Fanatikern, als wäre er plötzlich rechts von Stalin gelandet.“ Liu Renjing (Niel Sih), ein weiterer chinesischer Oppositioneller in Moskau, der schon früh Unterstützer der Losung einer konstituierenden Versammlung war, berichtet Ähnliches. In einem ausführlichen Dokument von 1934 mit der Überschrift „Five Years of the Left Opposition in China – An Attempt to Explain Its Failure to Make Progress“ [Fünf Jahre Linke Opposition in China – Ein Erklärungsversuch für ihre mangelnden Fortschritte] stellt Liu fest:

„Genosse Trotzkis Artikel ,Die chinesische Frage nach dem VI. Weltkongress‘ wurde unter den Genossen verbreitet, doch vor der Rückkehr des Schreibers dieser Zeilen nach China wurde die Losung der Nationalversammlung nicht im Oppositionsblatt veröffentlicht.

Für diese Passivität hinsichtlich der Losung der Nationalversammlung gab es zwei Gründe. Erstens war es die allgemeine Ansicht, dass sehr bald eine neue revolutionäre Welle anrollen werde, da die Bourgeoisie keine einzige der Aufgaben gelöst hatte, die zur Zweiten Chinesischen Revolution geführt hatten. Zweitens gab es starke Vorbehalte gegenüber der Losung selbst, die bis heute weiter bestehen.“

Soweit wir wissen, sind keine Dokumente aus den Debatten von 1928/29 unter diesen chinesischen Mitgliedern der Opposition, die klandestin arbeiten mussten, erhalten geblieben. Doch Differenzen über die Losung köchelten weiterhin innerhalb der Opposition in China, die vor ihrer Vereinigung auf einer Konferenz im Mai 1931 in vier Organisationen gespalten war. Die Dokumentation über diese späteren Debatten ist unvollständig und bruchstückhaft, doch offensichtlich war die Konfusion enorm. Selbst die Formulierung „konstituierende Versammlung“ (lixian Huiyi) war heftig umstritten: Das chinesische Wort „lixian“ galt weitgehend als reaktionär dank wiederholter Versuche der untergehenden Qing-Dynastie und später der Warlords, eine Verfassung zu entwerfen und eine konstituierende Versammlung einzuberufen. Trotzki verwendete schließlich nach 1930 als Kompromissformel im Allgemeinen für China den Ausdruck „Nationalversammlung“ (Guomin Huiyi), doch am wesentlichen Inhalt seiner Argumente änderte das nichts.

Trotzki trat „Für eine Strategie der Aktion, nicht der Spekulation“ ein (3. Oktober 1932, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.2). Er sagte: Macht euch keine Gedanken darüber, wann und wie eine konstituierende Versammlung einberufen wird, sondern benutzt die Forderung zur Mobilisierung der Arbeiter. Doch in mehreren Schriften stellte Trotzki selbst weitläufige Spekulationen an. So versuchte er im April 1930 in einer Antwort an eine chinesische Gruppe der Opposition, die Losung zu rechtfertigen, indem er über alternative Szenarien der Russischen Revolution spekulierte:

„Wenn die Konstituierende Versammlung, sagen wir, im April 1917 einberufen worden wäre, hätten wir alle sozialen Fragen in voller Schärfe aufgeworfen, dann wären die besitzenden Klassen gezwungen gewesen, ihre Karten offenzulegen, die verräterische Rolle der Versöhnler wäre ganz klar geworden und die bolschewistische Fraktion der Konstituierenden Versammlung hätte größte Popularität erlangt und die Sowjets befähigt, zu einer bolschewistischen Mehrheit zu finden. Unter diesen Umständen hätte die Konstituierende Versammlung nicht nur einen Tag, sondern wahrscheinlich einige Monate lang existiert, sie hätte die politischen Erfahrungen der arbeitenden Massen außerordentlich bereichert und den proletarischen Umsturz nicht verzögert, sondern eher noch beschleunigt.“

– „Die Losung der Nationalversammlung in China“ (April 1930), in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.2

In diesem Szenario ignoriert Trotzki die vielen historischen Beispiele, wo die Bourgeoisie und ihre reformistischen Agenten eine gewählte Versammlung als Werkzeug gegen das aufständische Proletariat benutzt haben. Er sagt nichts über die Erfahrung in Deutschland 1918/19, als die Nationalversammlung in aller Eile einberufen wurde, genau um eine Arbeiterrevolution zu verhindern. Die Vorstellung, eine frühere Einberufung der Konstituierenden Versammlung in Russland hätte den Kampf um die Sowjetmacht nicht beeinträchtigt, widerspricht jeder historischen Erfahrung sowie zahlreichen Analysen Lenins, der frühen KI und ja sogar Trotzkis selbst.

In einem Anfang 1931 geschriebenen Brief zitiert Trotzki folgenden Einwand einer Gruppe chinesischer Mitglieder der Opposition: „Wir denken, dass die Nationalversammlung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verwirklicht wird. Und auch wenn sie realisiert würde, könnte sie sich nicht in eine ,provisorische Regierung‘ verwandeln, weil sich gegenwärtig alle materiellen Kräfte in den Händen der Guomindang-Militaristen befinden. Was die nach dem Aufstand organisierte Regierung angeht, so wird sie ohne Zweifel eine Regierung der proletarischen Diktatur sein, die ganz sicher keine Nationalversammlung mehr einberufen wird“ (zitiert in „An die chinesische Linke Opposition“, Januar 1931, in: Trotzki, Schriften, Bd. 2.2).

Trotzki bezeichnet dieses Argument als „unvollständig und einseitig“ und erwidert: „Würde das Proletariat die Dorfarmut unter den Losungen der Demokratie (Land, Nationalversammlung u. a.) um sich scharen und durch gemeinsamen Druck die Militärdiktatur der Bourgeoisie stürzen, so wäre es, an die Macht gekommen, gezwungen, eine Nationalversammlung einzuberufen, um nicht das Misstrauen der Bauernschaft hervorzurufen und der bürgerlichen Demagogie Tür und Tor zu öffnen“ (ebd.).

Die Vorstellung, das Proletariat an der Macht wäre „gezwungen, eine Nationalversammlung einzuberufen“, um die Unterstützung durch die Bauernschaft zu stärken, ist den Schlussfolgerungen Lenins und der frühen KI ebenfalls fremd. Erstaunlicherweise fehlt in Trotzkis Schriften zur konstituierenden Versammlung in dieser Periode jeglicher Hinweis auf Lenins Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky oder andere wichtige Werke aus den Jahren 1918–21, die die klaren Lehren ziehen aus dem Gegensatz von Sowjetmacht und bürgerlichem Parlamentarismus.

Verwirrung bei den chinesischen Trotzkisten

Trotzki hielt den Beitritt von Chen Duxiu, dem Gründer des chinesischen Marxismus und zentralen Führer der KPCh bis Mitte 1927, zur Opposition zu Recht für sehr wichtig. Er drängte die jüngeren Trotzkisten, die Chen als einen Opportunisten heftig angriffen – weil er als Vorsitzender der KPCh Stalins Politik ausgeführt hatte –, den Wert seiner Erfahrung anzuerkennen und ihre Kräfte zu vereinen. Durch das Gewinnen von Chen und auch anderen KPCh-Veteranen für den Trotzkismus hatte die Linke Opposition enorme Autorität in der Linken und der Arbeiterbewegung Chinas erlangt.

Die chinesischen Trotzkisten kämpften trotz gewaltiger Hindernisse heroisch für eine proletarische Perspektive. Ihre unmittelbaren Aussichten waren durch die Niederlage von 1927, die allseitige Repression und die weitere Dezimierung des Proletariats infolge der Wirtschaftskrise von 1929 äußerst begrenzt. Die meisten Führer der Opposition wurden kurz nach der Konferenz von 1931 durch die Guomindang verhaftet und die Sektion wurde noch tiefer in die Klandestinität getrieben. Dennoch gelang es ihr, nach dem japanischen Einfall in Shanghai Anfang 1932 beträchtlich zu wachsen; bis zum Herbst dieses Jahres waren viele der verbliebenen Industriezellen der KPCh in der Stadt zur Opposition übergegangen. Chen und andere zentrale Führer wurden allerdings bald darauf verhaftet und erst 1937 freigelassen.

Zheng Chaolin – ein chinesischer Trotzkist, der fast 30 Jahre in Maos Gefängnissen verbracht hatte, bis er endlich 1979 freigelassen wurde – berichtet in seinen Memoiren, dass Chen, als er sich 1929 der Opposition annäherte, anfangs gezögert hatte, die Forderung nach der Diktatur des Proletariats zu unterstützen; er war der letzte der für den Trotzkismus gewonnenen KPCh-Kader, der von der Anwendbarkeit der permanenten Revolution überzeugt wurde (siehe Zheng Chaolin, Siebzig Jahre Rebell – Erinnerungen eines chinesischen Oppositionellen, isp-Verlag, Frankfurt/M. 1991). Chen befürwortete in der kurzen Zeit, als er die chinesische Opposition aktiv führte, die Losung der Nationalversammlung. Und damit war er bei weitem nicht der einzige.

In einem redaktionellen Vorwort zum International Bulletin der Linken Opposition (Nr. 8, Mai/Juni 1931) wird über die Vereinigungskonferenz von 1931 berichtet: „Einige Genossen zögerten, die demokratischen Losungen anzunehmen, insbesondere die Losung der konstituierenden Versammlung in der gegenwärtigen Periode, weil sie fürchteten, die KI werde ihnen Opportunismus vorwerfen. Andere betrachteten die Losung der konstituierenden Versammlung als ,populäre Formulierung für die Diktatur des Proletariats‘ “. Letztere Position wurde mit Liu Renjing in Verbindung gebracht, dessen Dokument von 1934 den Anspruch erhob, die jahrelange Diskussion zusammenzufassen. Während Lius rechte Ansichten und seine fraktionelle Feindseligkeit gegenüber jedermann sein Dokument als nicht verlässlich erscheinen lassen, enthält es doch lange Zitate aus der trotzkistischen Presse und den internen Bulletins. Liu schreibt, die Nationalversammlung sei „die am heftigsten diskutierte Frage unter der Mitgliedschaft der chinesischen Linken Opposition“ gewesen und fügt hinzu:

„Jeder hat seine eigene Ansicht oder eigene Interpretation der Losung, aber alle widersprechen und lähmen sich gegenseitig. Die Verwirrung ist so groß, dass die Organisation nicht fähig sein wird, auch nur einen Schritt voranzukommen, wenn uns das Internationale Sekretariat nicht hilft, die Frage zu klären.“

– „Five Years of the Left Opposition in China“

Anscheinend hielten sich einige Mitglieder der Opposition, insbesondere Zheng Chaolin und Wang Fanxi, an die von Trotzki dringend empfohlene Argumentationslinie. Andere wiederum stritten darüber, wer die Versammlung einberufen sollte. Sollten wir Chiang Kai-shek dazu drängen? Oder einen anderen Flügel der Guomindang? Sollte sie von den aufständischen Arbeitern einberufen werden? Sollten sie dies vor oder nach der Machteroberung tun?

Ein im Januar 1932 verfasster (aber anscheinend nicht abgeschickter) Brief Chens an das Internationale Sekretariat der Opposition (IS) vermittelt eine Vorstellung von der Verwirrung. Geschrieben nach dem japanischen Einmarsch in die Mandschurei, heißt es dort:

„Unsere schwierigste Aufgabe auf dem Gebiet der Propaganda hängt mit der Losung der Nationalversammlung zusammen. Viele Parteimitglieder sind mit dem Regime der stalinistischen Bürokratie unzufrieden und behaupten, mit der Linken Opposition übereinzustimmen, doch aufgrund der Tatsache, dass sie die Losung der Nationalversammlung nicht verstehen, lehnen sie es ab, unserer Organisation beizutreten…

Es gibt nicht wenige Genossen in der Linken Opposition, die eine revolutionäre Interpretation der Losung von der Nationalversammlung nicht für möglich halten. Sie betrachten die Nationalversammlung ausschließlich als eine Form bürgerlicher Herrschaft, wohingegen das Ziel der Linken Opposition die Diktatur des Proletariats in der Form von Sowjets ist. Dieses Ziel ist jedoch Teil einer zukünftigen revolutionären Flut. Und wenn wir in der Zwischenzeit die Losung von der Nationalversammlung auf revolutionäre Weise interpretieren, indem wir sie mit der Losung ,Nieder mit der Guomindang!‘ und auch mit der Machtfrage verbinden, werden wir des Abenteurertums beschuldigt! So sind wir uns selbst nicht einig. Hier liegt unser Problem. In dieser Frage brauchen wir dringend eure Anweisungen.“

– zitiert ebd.

Zheng Chaolin vermittelt in seinen Erinnerungen ebenfalls eine Vorstellung von den negativen Auswirkungen der Forderung auf die Arbeit der chinesischen Trotzkisten. Er berichtet, dass um 1931 ein ehemaliger Führer der Guomindang-Linken ein Mitglied der Linken Opposition konfrontiert habe: „ ,Ihr Trotzkisten behauptet, dass die Revolution in China proletarisch sei‘, sagte er, ,aber ihr ruft zu einer Nationalversammlung auf; während die Stalinisten sagen, die Revolution sei bürgerlich, aber zur Bildung von Sowjets aufrufen. Widersprechen nicht die Positionen beider Seiten sich selbst?‘ “ (Zheng Chaolin, ebd.). Eine gute Frage. Die Trotzkisten erhoben weiterhin die Forderung der Nationalversammlung. Eine Resolution des Zentralen Exekutivkomitees von 1937 schloss mit den Losungen: „Nieder mit der Kuomintang! Lang lebe die aus demokratischen Wahlen hervorgegangene allmächtige Nationalversammlung!“ („The Present Situation and Our Tasks“ [Die gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben], Februar 1937). Weit entfernt davon, eine Brücke zur proletarischen Macht darzustellen, blieb die Agitation der Trotzkisten für eine Nationalversammlung in China sowohl öffentlich als auch intern ein Hindernis für politische Klarheit.

Die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung in Spanien

In China hatte Trotzki die Losung der konstituierenden Versammlung während einer durch Niederlage und Rückzug des Proletariats gekennzeichneten Zeit erhoben, in Spanien aber, wenn auch nur kurz, zu Beginn einer Periode sozialen Aufruhrs. Der Sturz der Diktatur von Primo de Rivera Anfang 1930 leitete eine Periode von revolutionären Unruhen ein, die im Spanischen Bürgerkrieg gipfelte, der im Juli 1936 begann. (Siehe dazu auch: „Trotzkismus kontra Volksfrontpolitik im Spanischen Bürgerkrieg“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 27, Frühjahr 2009.) Primo de Riveras Nachfolger, Dámaso Berenguer Fusté, schlug ein neues Parlament (Cortes) vor, um die Monarchie zu legitimieren; weit verbreitete Boykottaufrufe waren die Folge davon. Am Ende trat Berenguer zurück und König Alfons XIII. verlegte sich auf Kommunalwahlen, die am 12. April 1931 in den städtischen Zentren zu einem haushohen Sieg für die Parteien der Sozialisten und der bürgerlichen Republikaner führten. Alfons floh, eine Republik wurde ausgerufen, und Wahlen zu neuen verfassunggebenden Cortes wurden angekündigt.

Sowohl vor als auch nach dieser Periode hob Trotzki richtigerweise die Bedeutung demokratischer Forderungen in der Spanischen Revolution hervor (siehe: Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–39, isp-Verlag, Frankfurt/M. 1975/76). Aber in einigen Briefen und Artikeln im Januar/Februar 1931 erhob er die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung bzw. konstituierenden Cortes. Als dann die Sozialisten und Republikaner tatsächlich ihre konstituierenden Cortes bekanntgaben, stellte Trotzki dem entgegen: „Die zentrale Losung des Proletariats ist die des Arbeitersowjets“ („Die Zehn Gebote der spanischen Kommunisten“, 15. April 1931, ebd.).

Im Mittelpunkt von Trotzkis Schriften über Spanien stehen ganz klar seine Feindschaft gegen jedes Bündnis, das auf Klassenzusammenarbeit basiert (von den Stalinisten Mitte der 1930er-Jahre „Volksfronten“ getauft) sowie die Notwendigkeit, authentisch leninistische Avantgardeparteien aufzubauen. In ihrer Ablehnung aller Formen von Klassenkollaboration gehören sie zu seinen stärksten Werken. Doch wie zu China waren seine Argumente für die konstituierende Versammlung verwirrend und widersprüchlich. Trotzki erhob die Losung erstmals in einem Brief vom 12. Januar 1931, in dem er den Boykott der Berenguer-Cortes unterstützte:

„Aber boykottiert man die Cortes, dann in wessen Namen? Im Namen von Sowjets? Eine derartige Fragestellung wäre meiner Meinung nach falsch. Die Stadt und die Dorfmassen kann man jetzt nur unter den Parolen der Demokratie vereinigen. Hierzu gehören die gesetzgebenden Cortes aufgrund des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts. Ich glaube nicht, dass Ihr in der jetzigen Lage ohne diese Parole auskommen könnt. Sowjets gibt es ja noch nicht. Die spanischen Arbeiter wissen nicht – wenigstens nicht aus eigener Erfahrung – was Sowjets sind. Von den Bauern gar nicht zu reden. Indes wird der Kampf um die Cortes in der nächsten Periode den Inhalt des gesamten politischen Lebens des Landes bilden. Unter diesen Umständen wäre es falsch, die Losung der Sowjets der Losung der Cortes gegenüberzustellen.“

– „Sowjets und die Konstituierenden Cortes“ (12. Januar 1931), in: Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–39, Bd. 1

Zwei Wochen später schrieb Trotzki in einer ansonsten beeindruckenden Erläuterung der Perspektive der permanenten Revolution:

„Aber selbst bei einem Boykott der Cortes von Berenguer müssen die fortgeschrittenen Arbeiter ihnen die Losung der revolutionären gesetzgebenden Cortes gegenüberstellen. Wir müssen unnachgiebig den Betrug bei der Losung der gesetzgebenden Cortes im Munde der ,linken‘ Bourgeoisie aufdecken, die in Wirklichkeit vermittelnde Cortes von des Königs und Berenguers Gnaden haben wollen, um mit den alten herrschenden und privilegierten Cliquen zu feilschen. Eine echte gesetzgebende Versammlung kann nur von einer revolutionären Regierung einberufen werden, als Ergebnis eines siegreichen Aufstandes der Arbeiter, Soldaten und Bauern.“

– „Die Revolution in Spanien“ (24. Januar 1931), ebd.

In einer sich entwickelnden vorrevolutionären Situation, wo die Bourgeoisie, konfrontiert mit allgemeinen Unruhen, verzweifelt an ihrer Herrschaft festhält, wird der Aufruf zu einer „revolutionären“ Form der bürgerlichen Herrschaft die Illusionen in die demokratischen Gelöbnisse der bürgerlichen Herrscher nur stärken, anstatt sie zu entlarven. Die Geschehnisse in Spanien bieten ein klassisches Beispiel, denn Berenguer stellte nicht die einzige Alternative für die spanischen Herrscher dar. Die neue republikanische Regierung, in der auch der Führer der Sozialisten Francisco Largo Caballero saß, begann umgehend, die revolutionäre Flut durch Ansetzung der Wahlen zu konstituierenden Cortes einzudämmen. Diese wurden zur Grundlage für eine Koalitionsregierung mit dem Zweck, die soziale Revolution zu verhindern.

Trotzki begründete die Losung in einem späteren kurzen Artikel abermals mit der Notwendigkeit, die Bauernschaft zu gewinnen („Arbeiterrepublik und konstituierende Cortes“, 13. Februar 1931). Während Trotzki bemerkte, dass „wir aus der Parole keinen Fetisch“ machen, argumentierte er weiter: „Es ist richtig, in Spanien sind viele Möglichkeiten schon in der Vergangenheit ausprobiert worden. Aber es bleibt immerhin noch die ,volle‘, ,konsequente‘, auf revolutionärem Wege errungene Demokratie. Das eben sind die konstituierenden Cortes“ (ebd.). Doch die Geschichte – meisterhaft analysiert in Trotzkis Schriften zur permanenten Revolution – hatte bereits bewiesen, dass es diese Möglichkeit nicht gibt! Das Aufwerfen der Möglichkeit einer idealisierten Form der bürgerlichen Demokratie konnte nur irreführend sein. Die logische Konsequenz war die Rückkehr zu einer Variante von Lenins Programm der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft aus der Zeit vor dem April 1917.

Trotzki stellte die Losung der konstituierenden Versammlung nicht mehr auf, sobald klar wurde, dass sie tatsächlich dem Kampf für proletarische Macht entgegengesetzt war. Doch brachte ihn die spanische Erfahrung nicht dazu, in Hinblick auf diese Forderung irgendwelche theoretischen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Trotzki über Italien

Als Trotzki im Januar 1931 argumentierte, dass nur eine revolutionäre Regierung eine „echte gesetzgebende Versammlung“ einberufen könne, scheint er eine Art kombiniertes revolutionäres Regime vor Augen gehabt zu haben, wo Sowjets und eine parlamentarische Körperschaft nebeneinander existieren. Trotzki selber hat gegen solche Vorstellungen mehr als einmal argumentiert. So erklärte er in einem Brief von 1930 an die Neue Italienische Opposition (NOI), weshalb er in den 1920er-Jahren den Vorschlag der Kommunistischen Partei Italiens scharf kritisiert hatte, als diese eine „Republikanische Versammlung auf Grundlage der Arbeiter- und Bauernkomitees“ forderte:

„Eine ,Republikanische Versammlung‘ stellt ganz offensichtlich eine Institution des bürgerlichen Staates dar. Was jedoch sind die ,Arbeiter- und Bauernkomitees‘? Offensichtlich entsprechen sie irgendwie den Arbeiter- und Bauernsowjets. Dann sollte man das auch sagen. Denn Klassenorgane der Arbeiter und armen Bauern, ob man sie nun Sowjets oder Komitees nennt, stellen immer Kampforganisationen gegen den bürgerlichen Staat dar, werden dann zu Organen des Aufstands, um sich schließlich, nach dem Sieg, in Organe der proletarischen Diktatur zu verwandeln. Wie kann unter diesen Umständen eine Republikanische Versammlung – als oberstes Organ des bürgerlichen Staates – Organe des proletarischen Staates zur ‚Grundlage‘ haben?“

– „Problems of the Italian Revolution“

Als Beispiele nannte Trotzki die Fehler von Sinowjew und Kamenjew im Jahr 1917 sowie die Unterstützung der zentristischen USPD-Führer für einen „kombinierten Staat“, die zum Scheitern der Deutschen Revolution von 1918/19 beitrug.

In verschiedenen Polemiken gegen die italienische Prometeo-Gruppe, die an den ultralinken Ansichten von Amadeo Bordiga festhielt und damals noch zur Linken Opposition gehörte, bestand Trotzki zu Recht auf der Notwendigkeit demokratischer Forderungen. Doch sein Brief vom Mai 1930 an die NOI enthält eine zweideutige Passage, die später benutzt wurde, um die Aufstellung der Forderung nach einer konstituierenden Versammlung in der Übergangsperiode zwischen dem faschistischen Regime und der proletarischen Diktatur zu rechtfertigen: „Ich schließe nicht einmal die Möglichkeit einer konstituierenden Versammlung aus, die unter bestimmten Umständen durch den Lauf der Ereignisse oder, genauer gesagt, durch das revolutionäre Erwachen der unterdrückten Massen erzwungen wird“ (ebd.).

In einer Resolution von 1932 forderte die NOI tatsächlich eine konstituierende Versammlung. Die Forderung wurde von anderen italienischen Trotzkisten abgelehnt, insbesondere von Pietro Tresso, der Anfang 1933 Mitglied des Internationalen Sekretariats war und der ein Führer der Opposition und später der Vierten Internationale war; er wurde 1943 oder 1944 von den Stalinisten ermordet. Ein weiterer Führer des linken Flügels der NOI, Mario Bavassano (der 1933 austrat, weil er gegen den Aufruf zu einer neuen Internationale war), formulierte die wichtige Unterscheidung zwischen demokratischen Forderungen und der Losung der konstituierenden Versammlung. In Bezug auf die Diskussion über die Resolution von 1932 sagte er:

„All die begrenzten demokratischen Forderungen in dem Dokument sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt geeignet, die Massen zu mobilisieren. Doch unter uns gibt es Uneinigkeit über den einen Punkt, nämlich dass begrenzte demokratische Aufgaben nicht zu allgemeinen Forderungen wie z. B. nach Kommunalwahlen oder nach einer Konstituante führen dürfen, sondern vielmehr in der Bildung von Organen wie Arbeiter- und Bauernkomitees gipfeln sollten, die dem Kampf einen Klassencharakter verleihen und die Massen auf ein revolutionäres Ziel hinlenken, dass sie also das bürgerliche Regime stürzen und die proletarische Macht errichten müssen.“

– Silverio Corvisieri, Trotskij e il Comunismo Italiano [Trotzki und der italienische Kommunismus], Samonà e Savelli, Rom 1969

Goldman-Morrow und die Frage der konstituierenden Versammlung in Europa

Trotzki machte deutlich, dass er nicht in der Lage war, die politischen Entwicklungen in Italien zu verfolgen, und er stellte dort auch tatsächlich nie die Losung der konstituierenden Versammlung auf. Auch für Deutschland zog er nach Hitlers Machtergreifung diese Forderung nie in Erwägung. Im Übergangsprogramm wurde die Losung ausschließlich im Zusammenhang mit kolonialen oder halbkolonialen Ländern aufgestellt; in dem Abschnitt über fortgeschrittene kapitalistische Länder unter faschistischer Herrschaft wird vielmehr gewarnt: „Die Formeln der Demokratie (Koalitions-, Pressefreiheit usw.) sind für uns nur zeitweilige oder episodische Losungen in der unabhängigen Bewegung des Proletariats und nicht ein demokratisches Henkerseil.“

Im Gegensatz zu dieser unmissverständlichen Stellungnahme veröffentlichte die deutsche trotzkistische Exilgruppe, die IKD, 1941 die „Drei Thesen“, in denen es heißt, „der Übergang vom Faschismus zum Sozialismus bleibt ohne Zwischenetappe, die grundsätzlich gleichbedeutend mit einer demokratischen Revolution ist, eine Utopie“ (zitiert in Georg Jungclas, Eine politische Dokumentation, Junius, Hamburg 1980). Obwohl dieser unverhohlene Revisionismus damals allgemein zurückgewiesen wurde, traten erstmals Elemente in der Führung der Vierten Internationale sowohl in Europa als auch in den USA für die Aufstellung der Losung einer konstituierenden Versammlung in verschiedenen imperialistischen Ländern Europas ein. Als Mitte 1943 nach dem Sturz Mussolinis Italien von vorrevolutionären Unruhen erschüttert wurde und eine Streikwelle ausbrach, bei der Fabrikkomitees aus dem Boden schossen, veröffentlichte das vor kurzem gebildete klandestine, in Paris ansässige Provisorische Europäische Sekretariat ein von Marcel Hic verfasstes „Manifest“ an die italienischen Arbeiter, Bauern und Soldaten, das die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung („Convention Nationale“) enthielt. Doch das Sekretariat zog das Manifest einige Tage später zurück und erklärte, die Losung sei „unangebracht“. Ein Ersatztext ohne die Forderung wurde in der ersten Ausgabe von Quatrième Internationale (August 1943) veröffentlicht.

Obwohl wir die entsprechenden Dokumente nur teilweise erforscht haben, ist es klar, dass die Frage drei Jahre lang immer wieder debattiert wurde, wobei ernsthafte Desorientierung sowie erhebliche Meinungsverschiedenheiten zu Tage traten. Diese Diskussion betraf auch eine Reihe von weiteren Ländern, die gerade von der Nazi-Besetzung befreit worden waren. Gegen beträchtlichen Widerstand übernahm die Parti communiste internationaliste Ende 1944 die Losung für Frankreich und veröffentlichte sie in einer breit verteilten Flugschrift vom Dezember 1944. Ebenso rief die belgische Sektion in einer Resolution von 1945 zu einer konstituierenden Versammlung auf, wobei sie ausdrücklich den Einwand zurückwies, die Losung sei auf fortgeschrittene kapitalistische Länder nicht anwendbar („The Importance and Scope of Democratic Slogans“ [Bedeutung und Reichweite demokratischer Losungen], New International, Mai 1946).

Eine demokratische Perspektive für Europa wurde am zugespitztesten in den USA von mehreren erfahrenen Kadern der Socialist Workers Party (SWP) und des IS – das bei Kriegsbeginn nach New York umgezogen war – vertreten, insbesondere von Felix Morrow und IS-Sekretär Jean van Heijenoort. Ende 1943 sprach sich Morrow für eine „sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung“ in Italien aus und sagte, diese würde eine „wichtige Rolle in einer oder mehreren der europäischen Revolutionen“ spielen („The First Phase of the Coming European Revolution“, Fourth International [FI], Dezember 1944). In einer Resolution lehnte das SWP-Zentralkomitee Morrows Perspektive generell ab, ohne allerdings die Losung der konstituierenden Versammlung selbst anzusprechen, und warnte: „Wenn alle anderen Abwehrmechanismen versagen, werden die Kräfte des Kapitalismus bemüht sein, ihre Diktatur hinter der Fassade demokratischer Formen, bis hin sogar zu einer demokratischen Republik, zu erhalten“ („Perspectives and Tasks of the Coming European Revolution“, FI, Dezember 1943). Die Resolution bekräftigte, dass „demokratische Forderungen (Pressefreiheit, das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung usw.) und Übergangsforderungen ineinandergreifen und all diese mit unseren grundlegenden Losungen für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa und Alle Macht den Arbeiterräten verbunden werden müssen“.

1945 war Morrow bereits voll und ganz auf den Kampf für „Demokratie“ fixiert. In seinem „Brief an das Europäische Sekretariat der Vierten Internationale“, geschrieben im Juni 1945, sprach er sich für Auflösung in die Sozialdemokratie aus und drängte die französischen Trotzkisten: „Habt keine Angst, wenn Vérité beim Kampf um die Legalität ganz und gar als ein Organ erscheint, das für nichts weiter kämpft als für echte Demokratie. Heutzutage bedeutet dieser Kampf eine ganze Menge!“ (FI, März 1946).

Eine besonders stichhaltige Antwort der SWP-Mehrheit kam von William Simmons (Arne Swabeck). Swabeck griff Morrows Demokratiebesessenheit an und argumentierte, dass man damit die Trotzkisten nicht mehr von den Stalinisten und Sozialdemokraten unterscheiden könne:

„In Frankreich und anderen Ländern haben diese Parteien Forderungen nach einer konstituierenden Versammlung erhoben, natürlich immer darauf bedacht, wirkliche Schritte so lange wie möglich zu verschleppen…

Das bloße Aufstellen demokratischer Forderungen wird den Standpunkt der Vierten Internationalisten von diesen Parteien nicht unterscheiden. Es ist daher wichtig, zu erkennen, dass demokratische Forderungen für uns nur zeitweilige oder episodische Losungen bei der unabhängigen Bewegung des Proletariats sind; und das umso mehr angesichts des derzeitigen totalen Zusammenbruchs des Kapitalismus.“

– „Trotskyist Tasks in Europe“, FI (Juli 1945)

Morrow, dem sich der zunehmend stalinophobe Albert Goldman anschloss – ebenfalls ein langjähriger Kader der SWP –, setzte sich obendrein für die Wiedervereinigung mit Max Shachtmans Workers Party (WP) ein. Die WP hatte sich 1940 von der SWP abgespalten, weil sie die trotzkistische Position der bedingungslosen militärischen Verteidigung der Sowjetunion ablehnte. Der Kampf gegen die Goldman-Morrow-Minderheit führte 1945/46 zu einem regelrechten Fraktionskampf innerhalb der SWP.

Die SWP war aus dem Zweiten Weltkrieg mit einer allzu optimistischen Vorstellung vom baldigen Herannahen der proletarischen Revolution vor allem in den USA herausgekommen. Beispielhaft dafür war das Dokument vom Oktober 1946, „Theses on the American Revolution“ (in: James P. Cannon, The Struggle for Socialism in the „American Century“ [Der Kampf für den Sozialismus im „Amerikanischen Jahrhundert“], Pathfinder Press, New York 1977). Diese Sichtweise, die auch in der trotzkistischen Bewegung Europas weit verbreitet war, ließ eine Reihe von Faktoren außer Acht, durch die sich die Nachkriegszeit von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg unterschied. Dazu gehörte die Tatsache, dass die USA, mit der Unterstützung Britanniens, 1944/45 einen Großteil Westeuropas militärisch besetzt hatten, was die Möglichkeiten für eine proletarische Revolution drastisch veränderte (siehe dazu auch: „Trotskyist Policies on the Second Imperialist War – Then and in Hindsight“ [Trotzkistische Politik zum zweiten imperialistischen Krieg – damals und im Rückblick], das Vorwort zu „Documents on the ,Proletarian Military Policy‘ “, Prometheus Research Series Nr. 2, Februar 1989). So stellten in Italien die Armeen der Alliierten die absolut notwendige militärische Macht, unter deren Schutz die italienische Bourgeoisie mit Hilfe der Kommunistischen Partei imstande war, das aufständische Proletariat zu entwaffnen. Hinzu kam, dass die Sozialchauvinisten gegen Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend diskreditiert waren, während die Reformisten, vor allem die Stalinisten, aus dem Zweiten Weltkrieg mit enorm gestärkter Autorität hervorgingen dank ihrer führenden Rolle in der Volksfront des „antifaschistischen Widerstands“.

Goldman-Morrow erkannten zwar an, dass sich in Europa die kapitalistische Ordnung auf bürgerlich-demokratischer Grundlage allmählich wieder festigte, aber nur um sich an diese anzupassen. Goldman-Morrows liquidatorischer Kurs signalisierte, dass sie dabei waren, sich von marxistischer Politik zu verabschieden. Goldman trat im Mai 1946 aus der SWP aus und nahm einige wenige Anhänger in die Workers Party von Shachtman mit, nur um zwei Jahre später in die offen reformistische Socialist Party einzutreten. Morrow wurde im November aus der SWP ausgeschlossen und gab bald jede Betätigung als Linker auf. Schon Ende 1945 bezeichnete van Heijenoort die Sowjetunion als „bürokratisch-imperialistisch“, und keine zwei Jahre später verkündete er seine Abkehr vom Marxismus.

Eine Schwäche der SWP-Linie war ihr Beharren darauf, dass sich bürgerlich-demokratische Regime im Nachkriegseuropa „schon von Natur aus als instabil und kurzlebig erweisen müssen“ und so entweder einer Arbeiterrevolution oder einer repressiven Diktatur Platz machen würden („Perspectives and Tasks of the Coming European Revolution“). Aber die SWP-Mehrheit, der sich die neu entstehende europäische Führung unter Michel Pablo und E. Germain (Ernest Mandel) anschloss, war gegen Morrows „demokratischen“ Revisionismus und hielt an einer revolutionären Perspektive fest.

Der Sieg über die Goldman-Morrow-Fraktion führte dennoch nicht zur Klärung der Frage der konstituierenden Versammlung, die nicht prinzipiell abgelehnt wurde. Tatsächlich war Mandel, ein Führer der belgischen Sektion, ein früher Befürworter der Losung. Im März 1946 billigte das erste Nachkriegstreffen der Vierten Internationale mit Unterstützung der SWP eine Resolution, die die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung für mehrere europäische Länder aufstellte („The New Imperialist Peace and the Building of the Parties of the Fourth International“ [Der neue imperialistische Friede und der Aufbau der Parteien der Vierten Internationale], FI, Juni 1946). In Frankreich war bereits im Oktober 1945 eine konstituierende Versammlung gewählt worden; Italien wählte eine Konstituante im darauffolgenden Juni. Weit davon entfernt, die Massen zum Kampf anzuspornen, wurde die konstituierende Versammlung von der Bourgeoisie, mit geschickter Hilfe der Stalinisten und Sozialdemokraten, dazu benutzt, die imperialistische Nachkriegsordnung zu stabilisieren.

Indien: Fraktionskampf über die konstituierende Versammlung

Die einzige Sektion der Vierten Internationale, in der ein klarer Fraktionskampf um die Frage der Losung der konstituierenden Versammlung geführt wurde, war unseres Wissens die Bolschewistisch-Leninistische Partei Indiens (BLPI). Die BLPI lehnte zwar die Forderung nicht prinzipiell ab, doch eine bedeutende Schicht der Organisation trat konsequent gegen ihren Gebrauch während der Kämpfe auf, die im Zweiten Weltkrieg und an dessen Ende den Subkontinent erschütterten.

Der Programmentwurf der BLPI von 1942 charakterisierte die Losung zu Recht als „illusorisch und irreführend“ und als „dazu bestimmt, in den späteren Phasen der Revolution von der Bourgeoisie und ihren Agenten benutzt zu werden, um der Errichtung einer proletarischen Diktatur in der Form von Sowjets entgegenzuarbeiten und sie zu sabotieren“. Im nächsten Absatz jedoch wurde eine „kritische Unterstützung“ derselben Losung „in den frühen Stadien des revolutionären Kampfes“ in Betracht gezogen (abgedruckt in Charles Wesley Ervin, Tomorrow Is Ours: The Trotskyist Movement in India and Ceylon 1935–48 [Die Zukunft gehört uns: Die trotzkistische Bewegung in Indien und Ceylon 1935–48], Social Scientists’ Association, Colombo 2006).

Diese scheinbar widersprüchlichen Positionen dürften wohl eine Widerspiegelung der tiefen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der BLPI gewesen sein. Der linke Flügel um Doric de Souza dominierte damals gegenüber der rechten Minderheit um Philip Gunawardena, während der Generalsekretär der Partei, Leslie Goonewardene, eine Vermittlerrolle spielte. Der Programmentwurf war von de Souza und Leslie Goonewardene geschrieben worden, als Philip Gunawardena auf Ceylon in britischer Haft saß. (Zur Geschichte der BLPI siehe: „Der Kampf für Trotzkismus in Südasien“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 28, Herbst 2011.)

Dieser Programmentwurf der BLPI war weit besser als ein Manifest vom 26. September 1942, das im Namen des Exekutivkomitees der Vierten Internationale herausgegeben wurde. Dieses Manifest „To the Workers and Peasants of India“ war größtenteils von Felix Morrow verfasst worden und enthielt als zentrale Forderung die konstituierende Versammlung. Darin wird behauptet, dass die britischen und einheimischen Kapitalisten „Himmel und Erde in Bewegung setzen werden, um deren Einberufung zu verhindern“. Und weiter: „Nur die erfolgreiche Revolution der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenkomitees gegen das British Raj [britische Kolonialregierung in Indien] und seine einheimischen Verbündeten kann die Errichtung einer konstituierenden Versammlung garantieren“ (FI, Oktober 1942).

Diese Fragen wurden nach dem Krieg akut. Im Winter 1945/46 brachen in Kalkutta Massenproteste zur Verteidigung politischer Gefangener aus. Im Februar 1946 meuterten dann die Matrosen (Freiwillige) der indischen Marine in Bombay und lösten einen stadtweiten Generalstreik und breitere Revolten aus, die Hindu- und muslimische Arbeiter vereinten, bis sie von den Briten niedergeschlagen wurden. Am Tag nach dem Beginn der Meuterei verkündete die Labour-Regierung in London, dass eine Delegation des Kabinetts nach Indien geschickt werden würde. Zu ihrem Kompetenzbereich sollte die Einrichtung einer konstituierenden Versammlung gehören, die den Weg zur späteren Unabhängigkeit im Rahmen des Britischen Commonwealth bahnen könnte.

Die BLPI stellte die Losungen auf: „Nieder mit der Kabinettsmission! Nieder mit den Parteien der Kollaborateure! Nieder mit der Konstituierenden Schwindelversammlung der Imperialisten! Vorwärts mit dem Kampf für Indiens Unabhängigkeit!“ (Ervin, Tomorrow Is Ours). Doch nachdem der bürgerliche Indische Nationalkongress Ende 1946 beschlossen hatte, sich an der neuen konstituierenden Versammlung zu beteiligen, spaltete sich die BLPI über die Stellungnahme hierzu in drei Flügel.

Der rechte Flügel befürwortete eine gewählte „revolutionäre konstituierende Versammlung“, im Gegensatz zu der von den Briten zurechtgeschneiderten Versammlung, die sich auf Delegierte der Provinzparlamente stützte, und bestand darauf, dass das die zentrale Losung der BLPI sein müsste. Die Führung um Leslie Goonewardene schloss die Losung nicht aus, wollte sie aber nicht zum Kernstück der Agitation der BLPI machen. Eine von de Souza unterstützte linke Opposition mit Schwerpunkt in Kalkutta verurteilte beide Positionen und argumentierte, dass die konstituierende Versammlung „für das indische Volk völlig irreal“ sei und dass die BLPI „sie wie in der Vergangenheit entlarven“ solle („A Criticism of the Draft Resolutions as Submitted by the CC“ [Eine Kritik der vom ZK vorgelegten Resolutionsentwürfe], BLPI Internal Bulletin [IB], 1. April 1947).

Mit knapper Mehrheit (7 dafür, 6 dagegen) beschlossen die Delegierten der BLPI-Konferenz vom Mai 1947, die konstituierende Versammlung zur „zentralen Losung des Übergangsprogramms [zu machen], d. h. der Losung, von der alle anderen Losungen abhängen“ („Report of First Party Convention Held May 21–24, 1947“, BLPI IB, Bd. 2, Nr. 1 [undatiert]). Hector Abhayavardhana (Vardhan), seit 1942 ein prominenter Unterstützer von Philip Gunawardenas rechter Fraktion, übernahm den Posten des Parteisekretärs, und die BLPI machte die konstituierende Versammlung entsprechend zum Mittelpunkt ihrer Arbeit. Doch die Debatte ging weiter.

Vier Monate später nahm das Bezirkskomitee von Kalkutta eine Resolution an, in der bekräftigt wird: „Die auf der letzten Parteikonferenz von der Mehrheit angenommene Position war revisionistisch und kam einem Versuch gleich, zur menschewistischen Position zurückzukehren unter völliger Preisgabe des Trotzkismus und der Theorie der permanenten Revolution“ („Resolution of the Calcutta District Committee Unanimously Adopted on 29-9-47“ [Resolution des Bezirkskomitees von Kalkutta, einstimmig angenommen am 29. 9. 47], BLPI IB, Bd. 3, Nr. 1, 1. März 1948). In der Resolution heißt es, dass die Losung der konstituierenden Versammlung „unter keinen Umständen auch nur zu einer Forderung in unserem Übergangsprogramm werden kann und schon gar nicht zu einer zentralen Forderung“. Zwar räumt die Resolution von Kalkutta ein, dass die Forderung in einem bestimmten Stadium zu „einer Agitationslosung oder einem Schlachtruf“ werden könne, dazu geeignet, die Massen „einen Schritt vorwärts in Richtung Machteroberung“ zu führen, aber es wird gleich hinzugefügt, dass das „Fehlen einer Tradition“ von konstituierenden Versammlungen in Asien „diese Möglichkeit als ziemlich unwahrscheinlich“ erscheinen lasse. Obgleich die Losung nicht prinzipiell ausgeschlossen wurde, war doch der gesamte Tenor der Resolution, die Verwendung der Losung als eine menschewistische Falle abzulehnen.

Wie einer der Genossen aus Kalkutta, Arun Bose, in einem früheren Dokument, „Programme and Reality“, zusammenfasste: „Die Losung der KV [konstituierenden Versammlung] bleibt ein Hindernis für den ununterbrochenen Verlauf der Revolution; ein Versuch, die Revolution auf halbem Wege zum Stillstand zu bringen mit der Begründung, dass die demokratische Revolution ,vollendet‘ werden müsse. Somit ist die Losung der KV dazu erfunden, die Massen irrezuführen, in ihnen demokratische Illusionen zu wecken und der Konterrevolution den Weg zu ebnen“ (BLPI IB, Bd. 2, Nr. 3, 25. September 1947). Ein anderes Mitglied aus Kalkutta, P. K. Roy, fügte in einem im selben Bulletin abgedruckten Dokument hinzu:

„Mit anderen Worten, die Losung einer Konstituierenden Versammlung, die die höchste repräsentative Körperschaft in einer bürgerlichen Republik ist, kann unsere Übergangsforderungen nur dann krönen, wenn die Krönung des Programms der BLPI eine demokratische Republik und nicht eine Sowjetrepublik ist…

Einfach gesagt, ist der Erfolg der indischen Revolution denkbar nur in Form einer revolutionären Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der armen Bauernschaft.“

– „Opportunism on the Question of the Constituent Assembly“ [Opportunismus zur Frage der Konstituierenden Versammlung]

Um sich gegenüber der Opposition ihres linken Flügels durchzusetzen, konnten die neuen Führer der BLPI Trotzkis Autorität ins Spiel bringen. Mit einer Aneinanderreihung von Zitaten aus seinen Schriften zu China spotteten sie über die Argumente der Genossen aus Kalkutta: „Wir erleben hier das Schauspiel, dass Trotzki kein Trotzkist gewesen sein soll“ (Raj Narain, „The Slogan of R.C.A. Why Should We Retain It?“ [Die Losung der Revolutionären Konstituierenden Versammlung – Warum sollten wir sie beibehalten?], BLPI IB, Bd. 3, Nr. 1). Die Unterstützung, die die Losung der konstituierenden Versammlung in Europa fand, bestärkte sie wohl ebenfalls. Insbesondere hatten die indischen Anhänger der Losung die ausdrückliche Unterstützung der britischen Trotzkisten von der Revolutionary Communist Party (RCP). In einem Artikel in der RCP-Zeitung bekräftigte Tony Cliff: „Dreh- und Angelpunkt des Kampfes gegen den britischen Imperialismus und seine Agenten (die Fürsten, Feudalisten und Kapitalisten) muss die Losung einer echten, vom gesamten Volk direkt gewählten Konstituierenden Versammlung sein.“ Den Unterschied zwischen einer solchen bürgerlichen Institution und Organen der Arbeitermacht verwischend behauptet Cliff, dass eine „echte“ konstituierende Versammlung „auf den in Sowjets organisierten und in Milizen bewaffneten Massen basieren muss“ (Workers’ International News, Januar/Februar 1947). Schließlich wurde 1948 auf einer weiteren BLPI-Konferenz mit weitaus größerer Mehrheit eine versöhnlerische Linie zur konstituierenden Versammlung bestätigt.

Die Kampflinien in dieser Frage verliefen ähnlich wie bei der Frage des vorgeschlagenen liquidatorischen Eintritts der BLPI in die Sozialistische Partei, die zur selben Zeit debattiert wurde. Als sich die 1940–42 begonnene Links-Rechts-Spaltung innerhalb der indischen Sektion nach dem Zweiten Weltkrieg zuspitzte, war das Ergebnis ganz und gar negativ: Die Partei übernahm schließlich die Losung der konstituierenden Versammlung, die sie früher abgelehnt hatte, und löste sich dann vollständig in die Sozialdemokratie auf. Der in Kalkutta ansässige linke Flügel wurde anscheinend so lange mürbe gemacht, bis er diesen verhängnisvollen Schritten, die zum Verschwinden der BLPI führten, zuletzt kaum noch Widerstand entgegensetzte.

In der Folge hat die indische konstituierende Versammlung der blutigen Teilung des Subkontinents eine „demokratische“ Legitimation verliehen. Aus ihr gingen die ersten Parlamente der unabhängigen kapitalistischen Staaten Indien und Pakistan hervor. Die Benutzung der konstituierenden Versammlung durch die Briten in Indien wurde zum Vorbild für spätere Entwicklungen in anderen Kolonialländern. Typisch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war meistens nicht direkte Kolonialherrschaft seitens der imperialistischen Länder, sondern neokoloniale Vorherrschaft bei formaler Unabhängigkeit. Weit davon entfernt, „Himmel und Erde in Bewegung zu setzen“, um die Einberufung demokratischer Parlamente zu verhindern, ziehen die imperialistischen Mächte solche Körperschaften oft der nackten Diktatur vor, um die Massen besser täuschen zu können. Solche Entwicklungen unterstreichen nur den Bankrott der Losung der konstituierenden Versammlung in Ländern, deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung durch die globale Reichweite des Imperialismus gewaltsam zurückgehalten wird. Die durchschlagenden Argumente des Trotzkisten P. K. Roy aus Kalkutta haben sich vor der Geschichte bewährt:

„Getreu den Lehren des Marxismus und gestützt auf die reichhaltigen Erfahrungen der revolutionären Bewegungen der Vergangenheit, wiesen die Bolschewiki-Leninisten auf den illusorischen und trügerischen Charakter der Losung einer konstituierenden Versammlung hin, die eine bürgerliche Republik krönt und daher eine gewisse Zeitverzögerung zwischen der demokratischen und der sozialistischen Revolution voraussetzt – eine Periode, in der die Macht bei einem demokratisch gewählten Parlament liegt, d. h. einer bürgerlichen repräsentativen Körperschaft. Die proletarischen Bewegungen in verschiedenen Ländern haben ohne Zweifel bewiesen, dass in den späteren Phasen der Revolution, d. h. wenn die Macht der werktätigen Millionen sich in den im Laufe der Revolution gebildeten Sowjets mehr oder weniger klar herauskristallisiert hat, die Losung der konstituierenden Versammlung dazu bestimmt ist, von der Bourgeoisie und ihren kleinbürgerlichen Agenten als Losung der Konterrevolution benutzt zu werden, d. h. als eine Losung, die der Errichtung einer proletarischen Diktatur in Form von Sowjets direkt entgegengesetzt ist und ihre Entstehung sabotiert. Und nach der Errichtung der proletarischen Diktatur kann die Losung der konstituierenden Versammlung nur als Ausgangspunkt für den Sturz der jungen Staatsmacht dienen.“

– „Opportunism on the Question of the Constituent Assembly“

Rückschau und Ausblick

Mittlerweile sind in zahlreichen Ländern von Island bis Nepal konstituierende Versammlungen einberufen worden. Das vielleicht klarste Beispiel für die konterrevolutionäre Rolle der konstituierenden Versammlung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Portugiesische Revolution von 1974/75, die letzte und am längsten währende potenziell revolutionäre Erhebung in Europa aus dieser Periode. Die Revolution brach aus, als die Caetano-Diktatur im April 1974 zusammenbrach und ein Regime unter der Führung „fortschrittlicher“ Militäroffiziere errichtet wurde. Die ein Jahr später gewählte konstituierende Versammlung wurde zum Sammelpunkt reaktionärer Kräfte, deren Ziel es war, dem Aufruhr, der embryonale Organe der Doppelherrschaft hervorgebracht hatte, ein Ende zu setzen. Die CIA finanzierte die Sozialistische Partei von Mário Soares, die in der konstituierenden Versammlung dominierte und den Angriffen rechter Mobs auf Büros der Kommunistischen Partei sozialistisch gefärbte Deckung verlieh. Jeden Monat wurden Gelder in Millionenhöhe durch die SPD und andere sozialdemokratische Parteien in Europa an Soares geschleust.

Damals warnten wir in unseren Artikeln vor Illusionen in die „fortschrittlichen“ Offiziere und kämpften für die Perspektive des Aufbaus und der Zentralisierung von Organen des Sowjettypus, betonten aber gleichzeitig, dass für den Sieg das Schmieden einer authentisch leninistisch-trotzkistischen Partei unentbehrlich war. Im ersten Jahr der Erhebung stellten wir auch die Forderung nach einer „revolutionären konstituierenden Versammlung“ auf. Nach der Wahl einer Konstituante, deren konterrevolutionäre Rolle offensichtlich war, ließen wir diese Losung fallen. Im Gegensatz dazu rief die amerikanische SWP, die Mitte der 1960er-Jahre zum Reformismus degeneriert war, schamlos zur „Verteidigung der Konstituierenden Versammlung“ auf und bejubelte die von der CIA finanzierten Sozialisten, die die Speerspitze der rechten Mobilisierung bildeten (Militant, 8. August 1975). In Frankreich wiederum agitierte die pseudotrotzkistische OCI (Lambertisten) für eine „Soares-Regierung“ (Informations Ouvrières, 23. Juli–6. August 1975).

Wir griffen die Lambertisten und die SWP wegen ihrer antirevolutionären Linie scharf an und riefen zur Verteidigung der Linken und Arbeiterorganisationen in Portugal gegen den rechten Mob auf. Letztendlich gelang es der Bourgeoisie und ihren sozialdemokratischen Handlangern, mittels der konstituierenden Versammlung den revolutionären Aufruhr zu beenden und die kapitalistische Herrschaft wieder zu stabilisieren.

Zwar ließen wir die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung fallen, sobald ihr konterrevolutionärer Inhalt offensichtlich wurde, zogen aber keine weitergehenden Schlussfolgerungen über ihre historische Gültigkeit. Im Gegenteil, wir stellten die Losung in einer Anzahl von Fällen weiterhin auf, so in Spanien nach dem Sturz der Franco-Diktatur, in Bezug auf Chile unter Pinochet, zu Indonesien usw. Wir rechtfertigten die Forderung in verschiedenen Situationen:

„Unser Ruf nach einer konstituierenden Versammlung ist eine aus einer Reihe von Forderungen, die, aufgestellt in Verbindung mit einem Programm für die proletarische Revolution, nur durch den gleichzeitigen oder vorhergehenden Sturz einer bonapartistischen Diktatur verwirklicht werden können. Eine ,konstituierende Versammlung‘ unter der Ägide einer Militärjunta oder eines autokratischen Caudillo ist ein Widerspruch in sich. Wenn solche Pläne geschmiedet werden, müssen Marxisten ganz klar sagen, dass sie eine revolutionäre konstituierende Versammlung fordern, einberufen von einer revolutionären provisorischen Regierung, die aus einem erfolgreichen Volksaufstand hervorgeht.“

– „Wann und warum eine revolutionäre Konstituante?“, Kommunistische Korrespondenz Nr. 25 (Juni 1979)

Obwohl wir erkannten, dass es seit 1848 zahlreiche historische Beispiele für die konterrevolutionäre Verwendung der konstituierenden Versammlung gibt, behaupteten wir trotzdem: „So hat die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung seit den klassischen bürgerlichen Revolutionen immer einen revolutionär-demokratischen Inhalt, direkt allen Versuchen, mit dem alten Regime zu verhandeln oder es zu reformieren, entgegengesetzt.“

Vom 19. Jahrhundert bis heute haben sich alle Versuche, die Kämpfe der unzufriedenen Massen in konstituierende Versammlungen oder andere neue bürgerlich-parlamentarische Organe zu kanalisieren, als tödliche Falle erwiesen. Die Geschichte hat unwiderlegbar bewiesen, dass die konstituierende Versammlung weder Demokratie noch nationale und soziale Befreiung zustande bringen kann, sondern nur fortgesetzte Unterordnung unter die Bourgeoisie. Sie kann niemals eine Brücke zur proletarischen Staatsmacht sein, sondern nur zur Katastrophe und Niederlage.

Von der konstituierenden Versammlung besessen zu sein, wie es bei der heutigen reformistischen Linken der Fall ist, steht mit dem Programm Kautskys und der Zweiten Internationale im Einklang, nicht mit dem der Vierten. Trotz unserer Kritik an Trotzkis Wiederbelebung der Losung seit Ende der 20er-Jahre in China und vereinzelt auch in anderen Ländern muss man klar feststellen, dass er den heute von diesen Gruppen befürworteten unverhohlen prokapitalistischen Positionen vehement entgegentrat. Bis an sein Lebensende kämpfte er gegen die von den Stalinisten und anderen Pseudolinken geschürten Illusionen in die bürgerliche Demokratie sowohl in der imperialistischen Welt als auch in den unterentwickelten Ländern.

Unsere neue Überprüfung der Frage der konstituierenden Versammlung in der marxistischen Bewegung gehört zu unserem Bestreben, eine authentisch trotzkistische Vierte Internationale wiederzuschmieden. Wie die Bolschewiki, und ganz im Gegensatz zu unseren reformistischen Opponenten, streben wir nicht an, die kapitalistische Demokratie zu beschönigen und anzupreisen – ein System, das notwendigerweise in brutaler Unterdrückung und Ausbeutung wurzelt – sondern eine sozialistische Revolution zu vollbringen, die den einzigen Weg vorwärts zu einer klassenlosen Gesellschaft weist. Dann wird endlich die Unterdrückung in all ihren Formen der Vergangenheit angehören. 

 

Spartacist (deutsche Ausgabe) Nr. 29

DSp Nr. 29

Sommer 2013

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