Spartakist Nr. 216 |
Frühjahr 2017 |
Erklärung der Trotskyist League/Ligue trotskyste
Faschistischer Terroranschlag auf Muslime in Québec
Die nachfolgende, aus dem Französischen übersetzte Erklärung wurde am 8. Februar vom Zentralkomitee der Trotskyist League of Canada/Ligue trotskyste du Canada, Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (Vierte Internationalisten), herausgegeben.
Die Trotskyist League/Ligue Trotskyste verurteilt das barbarische Attentat vom 29. Januar, bei dem im Centre Culturel Islamique de Québec [Islamisches Kulturzentrum von Québec] sechs Menschen durch Schüsse getötet und etwa 20 verletzt wurden. Die Opfer, alles Muslime, hatten sich zum Abendgebet versammelt, als ein faschistischer Terrorist namens Alexandre Bissonnette in die Moschee stürmte und das Feuer auf die Menge eröffnete. Das Attentat ereignete sich inmitten einer rassistischen, von der Bourgeoisie in Kanada und Québec geführten Kampagne gegen Muslime. Dieses Gift wird regelmäßig von Québecs „Trash“-Radiosendern verbreitet, die berüchtigt dafür sind, eine Flut von Hass gegen eine „Invasion von Muslimen in Québec“ zu senden. Die Tragödie ereignete sich auch in einem internationalen Kontext, der gekennzeichnet ist von einem Aufstieg von rechtem Populismus, insbesondere der Machtübernahme Donald Trumps in den Vereinigten Staaten, der auf der Grundlage einer rassistischen Angstkampagne gegen Muslime und Mexikaner gewählt wurde, und der jüngsten Erfolge des Front National in Frankreich.
All diese Elemente haben zweifelsohne den Mörder inspiriert, doch die grundlegende Wahrheit ist, dass dieses schreckliche Ereignis einmal mehr den wahren Charakter dieser unmenschlichen kapitalistischen Gesellschaft enthüllt. Das Massaker ist ein Produkt des den Klassengesellschaften Kanadas und Québecs innewohnenden Rassismus, eines Rassismus, der erforderlich ist, um die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie aufrechtzuerhalten.
Am Tag nach dem Anschlag versammelten sich Tausende, um ihre Unterstützung für die muslimische Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Die bürgerlichen Politiker ihrerseits stellten ihre widerliche Scheinheiligkeit unter Beweis, indem sie den Solidaritätsdemonstrationen ihre Stimme liehen. Justin Trudeau erklärte im Unterhaus zynischerweise:
„Das schreckliche Verbrechen der vergangenen Nacht gegen die muslimische Gemeinschaft war ein Terrorakt, der gegen Kanada und gegen alle Kanadier begangen wurde. Wir werden gemeinsam trauern. Wir werden uns verteidigen und immer an Ihrer Seite stehen.“ (La Presse, 30. Januar)
Was ihn an diesem Anschlag aber wirklich erschreckte, ist, dass das Bild eines multikulturellen, demokratischen, antirassistischen und Anti-Trump-Kanadas einen großen Rückschlag erlitten hat. Die Bourgeoisie und ihre Repräsentanten scheren sich einen Dreck um ermordete Muslime.
Es ist jetzt mehr als ein Jahrzehnt her, seit der kanadische kapitalistische Staat seinen „Krieg gegen den Terror“ begann, der vor allem die muslimische Gemeinschaft im Visier hat und für Repression im Allgemeinen als Vorwand dient. Trudeaus Machtübernahme änderte daran überhaupt nichts, sondern hat diese Repression nur noch verstärkt. Tatsächlich veranlasste er in den ersten zehn Monaten seiner Amtszeit mehr Ausbürgerungen, als in den vergangenen 27 Jahren durchgeführt wurden!
Unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ versucht der bürgerliche Staat vor allem Teile der Unterdrückten gegeneinander auszuspielen, indem er die Lüge verbreitet, die größte Gefahr für sie käme von der „islamistischen Bedrohung“. In Wirklichkeit sind die größten Terroristen auf der Erde die Imperialisten. Die kapitalistischen Herrscher mögen im Gefolge dieser Tragödie einige Krokodilstränen vergossen haben, doch kein Tag vergeht ohne dass sie im Nahen Osten, in Afrika und in Afghanistan unschuldige Menschen abschlachten. Kanada hat schon immer seine Rolle als imperialistischer Juniorpartner der USA äußerst ernst genommen. Seine Interventionen in Afghanistan 2001 und in Libyen 2011 und seine Entsendung von Truppen in den Irak trugen direkt zum Tod Tausender Menschen bei. Nieder mit dem „Krieg gegen den Terror“! Kanadische, US- und Koalitionstruppen raus aus dem Nahen Osten!
Trudeau verteidigte umgehend die „kanadischen Werte“ und eiferte jenen nach, die Rassismus in Kanada mit der Behauptung zu übertünchen versuchen, in Québec sei es noch schlimmer. J. J. McCullough, anglo-chauvinistischer Kolumnist bei Loonie Politics, schrieb über Englisch-Kanadier:
„Sie beklagen sich über die übertrieben respektvolle Behandlung der Provinz durch Ottawa als ‚eigenständige Gesellschaft‘ und ,Nation innerhalb einer Nation‘, und über deren diverse von französischer Überlegenheit ausgehende Sprachen- und Assimilationsgesetze; dass alles machen sie dafür verantwortlich, dass diese Gegend ungastlich, arrogant und, jawohl, deutlich rassistischer als der kanadische Durchschnitt geworden ist.“ (Washington Post, 1. Februar)
Statistiken von 2014 zeigen, dass Ontario die Provinz mit der bei weitem höchsten Rate an „Hassverbrechen“ ist. Sikhs in Vancouver, Ureinwohner in Winnipeg und Schwarze in Toronto erfahren die rassistische Unterdrückung des „multikulturellen Kanada“ praktisch jeden Tag ihres Lebens. Tatsächlich ist die englisch-kanadische kapitalistische Gesellschaft genauso rassistisch wie die in Québec – doch mit dem Zusatz der anglo-chauvinistischen nationalen Unterdrückung der Québécois, die ein Grundpfeiler des kanadischen Kapitalismus ist.
Von Anfang an hatte die vom Vater des jetzigen Trudeau eingeführte Politik des „Multikulturalismus“ – die stets auch von den prokapitalistischen Sozialdemokraten der NDP unterstützt wurde – das Ziel, dem in die Konföderation gezwungenen Québec seine nationalen Rechte vorzuenthalten. Gleichzeitig dient sie dazu, Québecer Arbeiter und ethnische Minderheiten (und englischsprachige Arbeiter in Québec) gegeneinander auszuspielen. Ethnische Minderheiten, die einen wichtigen Teil des Québecer Proletariats ausmachen, haben kein Interesse an der Aufrechterhaltung der nationalen Unterdrückung Québecs. Die Loslösung Québecs wäre tatsächlich ein schwerer Schlag gegen die räuberischen kanadischen Imperialisten, die Ausbeuter der englisch-kanadischen und Québecer Arbeiter und zahlloser anderer in neokolonialen Ländern (vor allem im Bergbaubereich). Doch Unabhängigkeit Québecs unter dem Kapitalismus wird nicht die anderen Fragen sozialer Unterdrückung lösen, die die Arbeiter und Unterdrückten im Würgegriff haben. Die Arbeiterklasse muss dafür kämpfen, der Bourgeoisie die Macht zu entreißen, hier und weltweit. Québecer Arbeiter und Immigranten haben die gleichen Interessen. Für eine Arbeiterrepublik Québec!
Der Kampf für nationale Emanzipation, geschweige denn für Sozialismus, wird von den bürgerlichen Nationalisten Québecs und ihren Lakaien auf der Linken, die an den schrecklichen Ereignissen vom 29. Januar nicht weniger Schuld tragen, ständig sabotiert. Das antimuslimische Gift, das sie verbreiten, schürt Rassenspannungen zwischen „alteingesessenen“ Québécois und Immigranten, so dass es kein Wunder ist, dass sich der rechtsextreme Abschaum ermutigt fühlte. Die Liberalen begannen 2006 eine Debatte über die „Krise der angemessenen Anpassung“, aber es war die Parti Québécois (PQ) und besonders die von ihr vorgelegte „Werte-Charta“, die die Rassisten dazu ermutigte, ihre Angriffe am helllichten Tag auszuführen. Seitdem haben die Liberalen mit ihrem eigenen rassistischen Gesetz Nr. 62 wieder die Initiative ergriffen.
Nach den Morden in Québec versuchte Amir Khadir die Verantwortung auf die bösen Amerikaner abzuwälzen und sagte: „Ich halte Mr. Trump teilweise für verantwortlich“ (Radio-Canada, 29. Januar), wobei er praktisch eine Verantwortung seiner eigenen kleinbürgerlichen Organisation, Québec Solidaire (QS), abstritt. Aber auch QS hat dem rassistischen Chor ihre Stimme geliehen und ihre eigene, unzutreffend bezeichnete „Säkularismus-Charta“ vorgeschlagen, die die Verweigerung öffentlicher Dienstleistungen an Frauen, die den Niqab tragen, aufrecht erhielt. Amir Khadir unterstützte auch einen Antrag der PQ, der für Gesichtsverschleierte ein Wahlverbot forderte. Obgleich der Schleier ein Symbol und ein Instrument der Frauenunterdrückung ist, ist es notwendig, sich dem rassistischen Schleierverbot und anderen Maßnahmen gegen Muslime zu widersetzen.
Seit die bürgerlichen Parteien mit Unterstützung von QS ihre rassistische Politik in den Vordergrund stellen, sind faschistische und rechtsextreme Organisationen wie La Meute, Atalante Québec, Soldaten Odins und die Fédération des Québécois de Souche erheblich gewachsen und zögern nicht, öffentlich aufzutreten. Nur die multiethnische Arbeiterklasse hat die soziale Macht und das objektive Interesse, die muslimische Minderheit gegen den rassistischen Abschaum zu verteidigen, der immer mehr hervortritt. Die Führer der organisierten Arbeiterbewegung, die Illusionen in den bürgerlichen Staat Québec säen, tragen die Verantwortung dafür, dass die notwendige Mobilisierung nicht stattfindet.
Doch die unmittelbarste Bedrohung für die Arbeiter und Unterdrückten bleibt der rassistische bürgerliche Staat und letztendlich dessen Unterdrückungsorgane. Einerseits ließ die Verschärfung der „Sicherheitsmaßnahmen“ nach dem mörderischen Anschlag nicht lange auf sich warten, und die Polizei nutzte die Situation sofort aus, um ihre Präsenz am Centre Culturel Islamique de Québec und andern muslimischen religiösen Zentren in der Provinz zu verstärken. Andererseits benutzt der Staat die Vorfälle, um seine Repressionsmaßnahmen gegen die Meinungsfreiheit und gegen „Gedankenverbrechen“ gegenüber der gesamten Bevölkerung zu verschärfen. Unter dem Vorwand, einige rechtsextreme Fanatiker und ihre Facebook-Ergüsse zeitweilig zum Schweigen zu bringen, werden diese Gesetze gegen „Hassrede“ sowie Beleidigung und Verleumdung durch Verstärkung des Repressionsarsenals des kapitalistischen Staates letztendlich die Arbeiterbewegung treffen.
Der bürgerliche Staat ist keinesfalls ein Verbündeter der muslimischen Gemeinde, wie die von ihm regelmäßig im Namen des „Kampfs gegen den Terrorismus“ durchgeführten Polizeikontrollen und willkürlichen Festnahmen belegen. Das Gegenteil ist der Fall, wie die brutale Verhaftung Mohamed Belkhadirs kurz nach dem Mordanschlag zeigte, der Opfern des Massakers zu helfen versuchte und später als mutmaßlicher „muslimischer Terrorist“ vorgeführt wurde. Polizei raus aus den Moscheen! Die Arbeiterbewegung muss die muslimische Minderheit verteidigen!
Die Interessen der Bourgeoisie und ihrer Institutionen sind denen der Arbeiter, der muslimischen Minderheit und anderer Schichten der Unterdrückten diametral entgegengesetzt. Die multiethnische Arbeiterklasse braucht ihre eigene Partei, die als Volkstribun handelt und gegen alle Formen der Unterdrückung unter dem Kapitalismus kämpft – sei es nationale Unterdrückung oder Unterdrückung von Immigranten, Ureinwohnern, Frauen oder all den anderen Opfern dieses barbarischen Systems. Die Trotskyist League/Ligue Trotskyste hat sich dem Aufbau einer solchen Partei verpflichtet, die die Arbeiterklasse in dem Kampf anführt, dieses rassistische Ausbeutungssystem auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.
Angenommen vom Zentralkomitee der Trotskyist League of Canada/Ligue Trotskyste du Canada, 8. Februar 2017