Spartakist Nr. 213 |
Sommer 2016 |
EU: Feind von Arbeitern und Immigranten
Brexit: Niederlage für die Bankiers und Bosse Europas!
Berlin, 2. Juli – Die deutsche Bourgeoisie hatte sich voll auf die britischen Buchmacher verlassen und gehofft, dass die britische Bevölkerung sich gegen einen Austritt aus der EU entscheiden würde. Die Regierung und ihre kapitalistische Presse versuchen alles um den Schaden zu begrenzen. Der Grund ist einfach: Die vom deutschen Imperialismus immer stärker dominierte EU hat einen erheblichen Dämpfer bekommen. Mit Britannien ist der deutschen Kapitalistenklasse ein enger Verbündeter abhandengekommen, bei dem sie sicher sein konnte, dass dieser jede Sauerei der Kapitalisten mitmachen würde wie die endlose Austeritätspolitik, die in Südeuropa zu Massenarbeitslosigkeit führt. Die deutsche Bourgeoisie fürchtet, dass der Brexit vielen anderen als Beispiel dienen kann, um der vom deutschen Imperialismus beherrschten EU zu entkommen. Die SpAD begrüßt den Brexit. Es ist ein guter Tag für die Arbeiterklassen Europas.
Merkel und Co. teilen die Arroganz des britischen herrschenden Establishments, wo – nur wenige Tage nach dem Votum für einen Austritt Britanniens aus der Europäischen Union – prominente Stimmen bereits dazu aufrufen, das Ergebnis der Volksabstimmung zu kippen, sei es durch eine zweite Volksabstimmung oder dadurch, dass das britische Parlament keinen Austrittsantrag stellt. In Frankreich dagegen gingen Millionen von Arbeitern, mobilisiert durch die Gewerkschaften, gegen die „sozialistische“ Regierung auf die Straße, um gegen die französische Variante von „Hartz-Gesetzen“ und Agenda 2010 (in Deutschland durchgesetzt durch die SPD/Grünen-Regierung) zu protestieren. In der Presse oder den TV-Nachrichten fanden sich kaum oder gar keine Berichte über diese Massendemonstrationen, stattdessen konnte man massenhaft über Londoner Yuppies lesen und Interviews mit ihnen anhören, wie sie über die angeblich fürchterlichen Folgen des Brexit lamentieren.
Derweil sieht sich der Labour-Party-Vorsitzende Jeremy Corbin einem regelrechten Aufstand rechtsgerichteter Labour-Parlamentsabgeordneter (MPs) gegenüber, darunter Gefolgsleute des ehemaligen Premierministers Tony Blair. Innerhalb eines Tages inszenierten etwa 20 MPs einen abgestimmten Rücktritt aus Corbyns Schattenkabinett. Ein unbeugsamer Corbyn ersetzte schnell alle, die zurückgetreten waren, und beharrte darauf, weiter Parteivorsitzender bleiben zu wollen.
Auf einer turbulenten Sitzung der Labor-MPs am 27. Juni erhoben sich Corbyns rechtsgerichtete Gegner einer nach dem anderen, um seinen Rücktritt zu fordern. Am 28. Juni demonstrierten dann bei einem ad hoc einberufenen Notfallprotest Tausende von Corbyn-Anhängern vor dem Parlament in Westminster. Unterstützer der Spartacist League/Britain nahmen an diesem Protest teil und trugen Plakate mit den Losungen: „Verteidigt Corbyn – Raus mit den Blairschen Verschwörern!“ und „EU: Feind von Arbeitern und Immigranten – Sofortiger Austritt Britanniens!“ Am gleichen Tag verlor Corbyn ein Misstrauensvotum unter den Labour-MPs mit 172 zu 40 Stimmen. Danach weigerte er sich zurückzutreten und erklärte: „Ich wurde von 60 Prozent der Labour-Mitglieder und -Unterstützer für eine neue Art von Politik demokratisch zum Vorsitzenden unserer Partei gewählt und ich werde sie nicht durch einen Rücktritt verraten. Das heutige Abstimmungsergebnis unter MPs (Parlamentsabgeordneten) hat keinerlei verfassungsmäßige Gültigkeit.“
Nachfolgend drucken wir eine Erklärung des Zentralkomitees der Spartacist League/Britain vom 24. Juni ab
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24. Juni – In unserer proletarischen, revolutionären und internationalistischen Tradition, konsequent gegen die von Imperialisten dominierte Europäische Union (EU) zu stehen, begrüßt die Spartacist League/Britain das eindeutige Abstimmungsergebnis für einen britischen Austritt. Dies ist eine heftige Niederlage für die City of London, für die Bosse und Bankiers ganz Europas sowie für die Wall Street und die Regierung des US-Imperialismus. Das Votum für den Austritt ist Ausdruck der Feindseligkeit der Unterdrückten und Besitzlosen nicht nur gegenüber der EU, sondern auch gegenüber dem selbstgefälligen herrschenden britischen Establishment, das durch die Zerstörung der Industrie und der sozialen Einrichtungen ganze Teile des Proletariats ins Elend gestürzt hat.
So forderten wir in Workers Hammer (Nr. 234, Frühjahr 2016) dazu auf, für den Austritt zu stimmen: „Inmitten des wachsenden Chaos, in dem die EU steckt, würde ein britischer Austritt diesem imperialistisch dominierten Konglomerat einen echten Schlag versetzen, es weiter destabilisieren und in ganz Europa günstigere Bedingungen für die Kämpfe der Arbeiterklasse schaffen – auch gegen eine geschwächte und diskreditierte Tory-Regierung in Britannien. Doch da Labour und die Gewerkschaftsbürokratie – wie auch die Sozialdemokraten und verräterischen Gewerkschaftsführer in ganz Europa – nicht gegen die EU mobilisieren, überlassen sie die Oppositionsrolle offen immigrantenfeindlichen Reaktionären und Faschisten“ (siehe Artikel auf Seite 18).
Da unter den arbeitenden Menschen in Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland eine EU-feindliche Stimmung stark verbreitet ist, wird das Abstimmungsergebnis für einen Brexit auch in anderen Ländern Europas die Opposition gegen die EU anfeuern. Der Hauptzweck der EU ist es, die Profite der imperialistischen herrschenden Klassen auf Kosten der Arbeiter, von Deutschland bis Griechenland, und auf Kosten der schwächeren Länder Europas zu maximieren. Der Austritt des britischen Imperialismus könnte diesem von Haus aus instabilen kapitalistischen Klub den Todesstoß versetzen. Nieder mit der EU! Für Arbeiterrevolution zur Zerschlagung der kapitalistischen Herrschaft! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!
Die extreme Rechte und faschistische Kräfte – darunter UKIP in Britannien und der Front national in Frankreich – jubeln heute über „ihren“ Sieg. UKIP schürte unverhohlen üblen Rassismus gegen Immigranten, zum Beispiel mit einem widerlichen Plakat, das eine Warteschlange tausender dunkelhäutiger Flüchtlinge vor den Toren Britanniens darstellen soll. Doch UKIP hat den Rassismus kaum für sich allein gepachtet: Cameron beschwor das Gespenst von Migrantenlagern herauf, die dem „Dschungel“ von Calais in Frankreich ähneln und im Falle eines britischen Austritts nach England kommen würden. Und wie die Tories haben auch Labour-Regierungen immigrantenfeindlichen Rassismus angeheizt. Wir sagen: Keine Abschiebungen! Volle Staatsbürgerrechte für alle, die es nach Britannien schaffen! Nieder mit der rassistischen Festung Europa!
Diejenigen, die für einen Brexit gestimmt haben, taten dies aus unterschiedlichen Gründen. Doch nur diejenigen in der Arbeiterbewegung, die absichtlich ihre Augen verschließen, werden in dem Votum für einen Brexit einfach nur einen Aufschwung für UKIP und den rechten Flügel der Tories sehen. Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt, die Konservativen sind zutiefst gespalten, die kapitalistischen Herrscher Europas stehen unter Schock. Die Zeit ist reif für Arbeiterkämpfe, um damit anzufangen, die jahrzehntelangen Zugeständnisse der reformistischen Gewerkschaftsbürokraten an die Bourgeoisie bei Löhnen, Arbeitsbedingungen und gewerkschaftlichen Rechten rückgängig zu machen. Zunächst einmal sollten die multinationalen und multiethnischen Belegschaften des NHS [National Health Service] den miserablen Tarifvertrag, der den Assistenzärzten aufgezwungen wurde, zerreißen und für einen Kampf zur Wiederbelebung und Ausweitung des staatlichen Gesundheitsdienstes mobilisieren, um eine völlig kostenlose hochwertige Versorgung vor Ort für alle zu gewährleisten. Wenigstens kämpften die Assistenzärzte, im Gegensatz zu Len McCluskey und den übrigen pro-kapitalistischen Gewerkschaftsführern, die es sogar ablehnten, ihre Mitglieder zu einem Kampf gegen Camerons schäbiges neues Antigewerkschaftsgesetz zu mobilisieren. Notwendig ist ein Kampf für eine klassenkämpferische Führung der Gewerkschaften.
Selbst angesichts der verheerenden Auswirkungen der EU auf Griechenland hatte das „linke“ Brexit-Lager, darunter die Kommunistische Partei, die Socialist Workers Party (SWP) und die Socialist Party, nur eine halbherzige Kampagne für ein Austrittsvotum anzubieten. Von ihrem reformistischen „Old-Labour“-Standpunkt aus ist die EU ein Hindernis für die Durchsetzung ihres Maximalprogramms: Wiederverstaatlichung der britischen Industrie unter einer linken Labour-Regierung. Angesichts der Schließungen von Stahlwerken läuft dies letztendlich auf die protektionistische Forderung „Rettet britische Arbeitsplätze“ hinaus, was fremdenfeindlichen Chauvinismus schürt und einer Klassenkampfperspektive entgegengesetzt ist. Am Morgen nach der Brexit-Abstimmung lautet die krönende Forderung der SWP: Tories raus – für allgemeine Wahlen.
Vor einem Jahr war die gleiche Wut und Unzufriedenheit an der Basis der Gesellschaft, die das Austrittsvotum beflügelte, auch der Nährboden für die Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour Party, was die Möglichkeit eröffnete, Labours historische Verbindungen mit ihrer proletarischen Basis wiederzuschmieden und so zwei Jahrzehnte Blairscher Pläne, Labour zu einer durch und durch kapitalistischen Partei zu machen, zu vereiteln. Doch mit seiner Kampagne für ein Bleiben-Votum trat Corbyn die Interessen der vielen Menschen aus der Arbeiterklasse und aus Minderheiten, die von ihm eine Veränderung erwarteten, mit Füßen. Verbrechen zahlt sich nicht aus: Als die Ergebnisse des Referendums nach und nach bekannt wurden, begannen Corbyns Feinde sofort, seine schnellstmögliche Absetzung vom Vorsitz anzuzetteln. Es liegt im Interesse der Arbeiterklasse, jeglichen Versuch des rechten Labour-Flügels, die Partei wieder unter seine Kontrolle zu bringen, zurückzuschlagen.
Heute ist das Land gespalten: entlang der Klassenlinie sowie regionaler und nationaler Grenzen. England – außerhalb von London – und Wales stimmten für den EU-Austritt. In Nordirland stimmte eine Mehrheit für den Verbleib, was die Angst bei den Katholiken widerspiegelt, zwischen dem Norden und dem Süden könnten wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. Auch Schottland stimmte für einen Verbleib in der EU, und die SNP [Scottish National Party] erklärte, ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit stehe auf der Tagesordnung. Die bürgerlich-nationalistische SNP setzt sich dafür ein, dass ein „unabhängiges“ Schottland ein Mitglied in den wichtigsten westlichen imperialistischen Klubs bleibt: dem NATO-Militärbündnis und der EU. Durch Corbyns Kapitulation vor der imperialistischen EU wurde in Schottland (und anderswo) die Opposition in der Arbeiterklasse gegen die EU einer politischen Stimme beraubt.
Bei der Brexit-Abstimmung haben arbeitende Massen in Europa zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres gegen die Europäische Union gestimmt. Als im Juli 2015 Griechenland gegen die EU-Austerität stimmte, wurde dieses Ergebnis von der bürgerlichen Syriza-Regierung, die vor den europäischen Banken in die Knie ging, völlig verraten. Es stellt sich die brennende Frage, was für eine Partei die Arbeiterklasse braucht, um ihre Interessen vertreten zu können. Die grundlegenden Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, können nicht innerhalb eines parlamentarischen Rahmens gelöst werden. Wir brauchen eine Regierung auf der Grundlage von Arbeiterräten, die die Kapitalistenklasse enteignet.
Als Teil der Internationalen Kommunistischen Liga (Vierte Internationalisten) wollen wir revolutionäre Arbeiterparteien in Britannien und auf der ganzen Welt aufbauen, die von dem Verständnis ausgehen, dass die Arbeiter nur durch die kämpferische Massenmobilisierung der Arbeiterklasse für die eigenen Interessen kämpfen und für die Verteidigung aller Unterdrückten eintreten können. Sozialistische Revolutionen, vor allem in den wirtschaftlich entwickelten Ländern Europas, einschließlich Britanniens, werden eine rational geplante Wirtschaft auf der Grundlage internationaler Arbeitsteilung errichten. Der Sturz der herrschenden Kapitalistenklassen und die Entfaltung der Produktivkräfte unter den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa werden den Weg frei machen zu einer globalen sozialistischen Gesellschaft.