Spartakist Nr. 211

Winter 2015/16

 

Leserbrief

Ist Russland imperialistisch?

Folgender Brief und die Antwort erschienen zuerst in Workers Vanguard Nr. 1071, 10. Juli, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S.

25. März 2015

Workers Vanguard,

ich habe nun eine politische Frage. WV erwähnte im Hinblick auf die Ukraine, dass Russland eine Regionalmacht und keine imperialistische Macht sei. Gewiss, Russland ist ein wirtschaftliches Gerippe, wenn man es mit der alten Sowjetunion vergleicht, doch sie haben immer noch eine enorme Menge Atomwaffen und sie halten immer noch Gebiete wie Tschetschenien besetzt, was die Frage aufwirft, was denn notwendig ist, um als echter imperialistischer Staat zu gelten?

Ich habe die Ukraine ausgiebig bereist, und es ist offensichtlich, dass ein Großteil der Ostukraine und natürlich die Krim sehr, sehr russisch sind. Sicher muss man sich gegen die NATO und folglich gegen die amerikanische Aggression stellen. Wenn man aber an die Russische Revolution denkt, ab wann gilt denn die Losung: „Dreht die Gewehre um – der Hauptfeind steht im eigenen Land“?

Rote Grüße,

Lawrence aus Seattle

Workers Vanguard antwortet:

Die vom Leser angewandten Kriterien für die Vermutung, Russland könnte imperialistisch sein, sind im Wesentlichen militärischer Art: die Tatsache, dass es Atomwaffen besitzt und zwei brutale Kriege gegen Tschetschenien geführt hat. Doch militärische Macht und Aggression an sich definieren ein Land noch nicht als imperialistisch. Lenin fasste es so zusammen: „Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist“ (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916). Diese Beherrschung der Welt durch einige wenige imperialistische Mächte ist das größte Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Fortschritt der weniger entwickelten Länder.

Der ständige Kampf der imperialistischen Mächte um Zugang zu Märkten, Rohstoffen und billiger Arbeitskraft führt zu immer wiederkehrenden imperialistischen Kriegen, um sich Vermögenswerte in fremden Ländern anzueignen und abzusichern. Russland spielt auf globaler Ebene bei der Aufteilung der Welt keine Rolle. Seine beträchtliche Militärmacht erschwert es den Imperialisten, Russland herumzustoßen, doch Russland marschiert nicht weltweit in Länder ein und bombardiert sie, wie es die USA tun. Und es schickt auch nicht wie selbst zweitrangige imperialistische Mächte wie Britannien und Frankreich Truppen in weit entfernte Gegenden, um seine nationalen Interessen durchzusetzen.

Russland ist eine Regionalmacht, wenn auch mit imperialen Ambitionen. Das postsowjetische Russland hat nie außerhalb des Territoriums der ehemaligen Sowjetunion militärisch interveniert, außer bei einer sehr begrenzten Intervention im ehemaligen Jugoslawien Mitte der 1990er-Jahre, als die russischen Streitkräfte als gute Bullen für die NATO fungierten. [Mittlerweile interveniert Russland militärisch in Syrien. Das ändert nicht unsere Einschätzung Russlands.] Moskau hat in Tschetschenien zwei brutale Kriege geführt, um die unterdrückten Tschetschenen daran zu hindern, ihr Recht auf Lostrennung von Russland wahrzunehmen (ein Recht, das wir unterstützen). Aber viele Länder, die nicht imperialistisch sind, unterdrücken Minderheitenvölker innerhalb ihrer Grenzen, das gilt zum Beispiel für die Tamilen in Sri Lanka oder die Rohingya in Myanmar (Burma). Russland kämpfte auch gegen das von den USA unterstützte Georgien um das prorussische Südossetien. In diesem Krieg von 2008 zwischen zwei nicht-imperialistischen Mächten hatten wir eine Position des revolutionären Defätismus: Die Klasseninteressen der Arbeiter Georgiens und Russlands waren es zum Sturz ihrer jeweiligen kapitalistischen Herrscher durch sozialistische Revolution zu kämpfen.

Das postsowjetische Russland, das 1991/92 aus einer kapitalistischen Konterrevolution hervorging, stellt ein historisch einzigartiges und beispielloses Phänomen dar. Weil Russlands industrielle Entwicklung vornehmlich auf Grundlage der kollektivierten Wirtschaft eines Arbeiterstaats vonstatten ging, passt Russland heute nicht so recht in die Kategorien seit langem etablierter kapitalistischer Länder.

Die längste Zeit des letzten Jahrzehnts über hat sich Russlands Wirtschaft dank der hohen Preise für seine fossilen Brennstoffe etwas von dem Niedergang erholt, den sie nach der kapitalistischen „Schocktherapie“ der 1990er-Jahre erlitten hatte. Doch Russland hat nicht die Wirtschaft einer imperialistischen Macht. Seine neuen kapitalistischen Herrscher haben sich in einem Land mit gewaltigen Rohstoffquellen eine starke Industriebasis und eine umfangreiche Infrastruktur unter den Nagel gerissen. Doch die Industrie hinkt, was Technik und Produktqualität angeht, beträchtlich hinter anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern hinterher. Kein russischer Industriezweig ist auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig, außer der Rüstungsindustrie (die größtenteils von der UdSSR ererbt wurde).

Im Gegensatz zu imperialistischen Ländern, die sich durch den Export von Kapital auszeichnen, exportiert Russland vor allem Rohstoffe, nicht Kapital. Russlands Wirtschaft ist sehr von ihrem Öl- und Gassektor abhängig, auf den 2013 allein 16 Prozent des BIP, 52 Prozent der Staatseinnahmen der Föderation und mehr als 70 Prozent der Exporte entfielen. Was als „Investitionen“ im Ausland daherkommt, ist zumeist eine Form von Kapitalflucht in imperialistische Zentren oder Steueroasen.

Teile der deutschen herrschenden Klasse setzen auf eine Allianz mit Russland als Instrument, um die ihrer Meinung nach „natürliche“ Rolle Deutschlands als Herrscher Eurasiens geltend zu machen. Selbst „Atlantiker“ wie Kanzlerin Angela Merkel nehmen gegenüber Russland eine weit weniger kriegerische Haltung ein als Washington. Bislang halten aber die Herrscher der USA und Deutschlands ihre Allianz hinsichtlich der Eindämmung und Zurückdrängung des russischen Einflusses in den anderen Ländern der ehemaligen UdSSR aufrecht. So zog die von Deutschland dominierte Europäische Union mit, als Washington gegen Russland wegen dessen Aktionen in der Ukraine an Sanktionen festhielt.

Die existierenden Imperialisten, an ihrer Spitze die USA, arbeiten weiter daran, Russland aus ihrem Klub herauszuhalten. Die imperialistische NATO-Allianz expandierte nach Osteuropa (im Falle Estlands und Lettlands bis direkt an die Grenzen Russlands), die USA stocken die Entsendung von Panzern und anderem schweren Gerät in die Region auf und die NATO diskutiert zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges eine Verstärkung ihrer atomaren Abschreckung. Der US-Imperialismus sponserte auch farbige „Revolutionen“, um in mehreren ehemaligen Republiken der UdSSR Washington-freundliche Regime zu installieren. Ein Paradebeispiel dafür ist der von den USA unterstützte Putsch in der Ukraine vom vergangenen Jahr, der ein faschistisch verseuchtes und bösartig antirussisches Regime an die Macht brachte.

Unser Leser fragt, ob wir heute in der Ukraine die Soldaten aller Kriegsparteien dazu aufrufen sollten, „die Gewehre umzudrehen“ und gegen ihre eigenen kapitalistischen Herrscher zu richten; das heißt, sollten wir eine Position des revolutionären Defätismus einnehmen? Dies war Lenins Position im Ersten Weltkrieg, einem interimperialistischen Krieg zur Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten. Im Gegensatz dazu ist der gegenwärtige Konflikt in der Ukraine, unmittelbares Ergebnis US-imperialistischer Machenschaften, ein Bürgerkrieg. Militante im Ostteil des Landes, der ethnisch gemischt, aber vorwiegend russischsprachig ist, erhoben sich, weil das ultranationalistische ukrainische Regime ihre nationalen Rechte mit Füßen trat. Das Kiewer Regime antwortete mit der Mobilmachung seiner Armee und von Neonazi-Freiwilligenbataillonen – bombardierte Städte, tötete Hunderte von Zivilisten und zerstörte Krankenhäuser und Industrieanlagen. Festzustellen ist, dass Moskau, obgleich die Aufständischen in der Ostukraine von Russland unterstützt werden, kein Interesse an der Annexion der östlichen Ukraine gezeigt hat. Entgegen wiederholten Behauptungen Kiews und seiner imperialistischen Schutzherren, dass die russische Armee einmarschiere, vermied Putin ganz offensichtlich einen offenen Krieg mit dem Kiewer Regime.

Revolutionäre Marxisten haben in diesem Konflikt eine Seite: Die Arbeiterklasse – in der Ukraine, in Russland und international – hat ein Interesse daran, die Bevölkerung der Ostukraine und ihr Recht auf eine eigene Regierung zu unterstützen. Dass wir militärisch auf der Seite der „prorussischen“ Kräfte in der Ostukraine stehen, beinhaltet keineswegs eine politische Unterstützung der nationalistischen Rebellenführer oder des Putin-Regimes. Unsere Verteidigung der Bevölkerung der Ostukraine orientiert sich an Lenins Herangehensweise, der betonte, dass die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung wesentlich ist für die Bekämpfung nationaler Feindseligkeiten und die Schaffung von Bedingungen, wo arbeitende Menschen verschiedener Nationen erkennen können, dass der wahre Feind ihre „eigene“ herrschende Kapitalistenklasse ist und nicht die jeweils andere Nationalität.