Spartakist Nr. 211 |
Winter 2015/16 |
China ist nicht kapitalistisch
China und die Weltwirtschaft: Fakten kontra Fiktion
Folgender Artikel ist übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1076, 16. Oktober 2015, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S.
Nachfolgend drucken wir einen redigierten Vortrag, den Bruce André von der WV-Redaktion im September auf einer Veranstaltung der Spartacist League/U.S. in New York City hielt. Genosse Andrés Rede widerlegt einige der hartnäckigen Mythen, die in der Presse über die chinesische Wirtschaft kursieren, und erklärt einige der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen.
Entscheidend für das Verständnis von Chinas Wirtschaft ist, dass es entgegen den Behauptungen der meisten bürgerlichen Schreiber und selbsternannten Sozialisten kein kapitalistisches Land ist. Die Revolution von 1949 stürzte die Herrschaft der chinesischen Bourgeoisie und Grundherren und befreite das Land von imperialistischer Knechtschaft. Die darauf folgende Errichtung einer kollektivierten Planwirtschaft legte die Grundlage für einen enormen Aufschwung der industriellen Entwicklung und für gewaltige Errungenschaften der bettelarmen Arbeiter- und Bauernmassen. Die Revolution, die von Mao Zedongs auf der Bauernschaft basierenden Volksbefreiungsarmee durchgeführt wurde, schuf einen Arbeiterstaat, der allerdings von Anfang an durch die Herrschaft der parasitären Bürokratie der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) deformiert war. Trotz größerer Vorstöße in Richtung Kapitalismus bleibt China ein Arbeiterstaat, dessen Kernwirtschaft kollektiviert ist, darunter die nationalisierten Banken und Großindustrie. Obgleich auf dem Festland eine kleine Kapitalistenklasse entstanden ist, hat sie nicht die Staatsmacht.
Die Imperialisten, die 1949 China „verloren“, sind entschlossen, es zurückzubekommen, um seine Massen erneut nach Belieben auszubeuten. Dies zeigt sich an der zunehmenden militärischen Aggressivität der USA gegen China, im Brennpunkt ist derzeit das Südchinesische Meer. Als jüngste Provokation hielten die USA im Oktober Seemanöver ab „innerhalb der von China beanspruchten Zwölfmeilenzonen rund um einige der Inseln, die es in der Spratly-Inselkette errichtet hat“ (Financial Times, 8. Oktober). Dieses Säbelrasseln geht Hand in Hand mit wirtschaftlichem Druck. Die geplante Transpazifische Partnerschaft (TPP), angeführt von der Obama-Regierung, ist ein gegen China gerichteter Block, der vom US- und japanischen Imperialismus dominiert wird und der neun andere kapitalistische Staaten angehören, sowie auch der deformierte Arbeiterstaat Vietnam.
Die Internationale Kommunistische Liga ist gegen TPP und auch die US-Militärmanöver im Rahmen unserer bedingungslosen militärischen Verteidigung Chinas gegen die Imperialisten und andere kapitalistische Staaten und gegen innere Konterrevolution. Gleichzeitig geben wir dem KPCh-Regime keine politische Unterstützung. Es muss vom chinesischen Proletariat durch eine politische Revolution weggefegt werden, die ein Regime der Arbeiterdemokratie errichtet, das einem Programm für sozialistische Weltrevolution verpflichtet ist.
Von Maos Zeiten bis heute ist die Politik der KPCh Ausdruck des nationalistischen stalinistischen Dogmas, der Sozialismus – eine Gesellschaft des materiellen Überflusses, gekennzeichnet durch das Verschwinden der Klassen – könne in einem einzigen Land aufgebaut werden, sogar in einem so historisch rückständigen wie China. Dieses Programm ist dem marxistischen Programm einer proletarischen Weltrevolution völlig entgegengesetzt – der Voraussetzung für die Schaffung einer internationalen Planwirtschaft, die den Mangel beseitigen würde, indem sie sich die höchstentwickelte Technologie zunutze macht, die heute in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern konzentriert ist. Unter Mao war die Planwirtschaft durch die Herrschaft der Bürokratie, die aus wirtschaftlicher Autarkie eine Tugend machte, ungeheuer deformiert. Um die von dieser bürokratischen Misswirtschaft erzeugten Unausgewogenheiten zu korrigieren und um Modernisierung und Wachstum zu beflügeln, führten seit etwa 35 Jahren aufeinanderfolgende Regime Marktreformen ein, mit denen sie die staatliche Kontrolle über Produktion und Handel lockerten. Auch wurden bestimmte Zonen für kapitalistische Investitionen geöffnet.
Diese Erfahrung betrifft bei weitem nicht nur China. In der Spartakist-Broschüre „Marktsozialismus“ in Osteuropa (August 1989) behandelten wir die Auswirkungen solcher Maßnahmen in verschiedenen osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten vor ihrer Zerstörung durch kapitalistische Konterrevolution. Wir stellten fest, dass es im Rahmen des Stalinismus „eine innere Tendenz [gibt], die zentrale Planung und Leitung zu ersetzen durch Marktmechanismen. Da Manager und Arbeiter nicht der Disziplin der Sowjetdemokratie (Arbeiterräte) unterworfen werden können, sieht die Bürokratie die einzige Antwort auf die wirtschaftliche Ineffizienz immer mehr darin, die Wirtschaftsakteure der Disziplin marktwirtschaftlicher Konkurrenz zu unterwerfen.“ Wir verweisen unsere Leser auch auf die Artikel „Chinas ,Marktreformen‘ – eine trotzkistische Analyse“ (Spartakist Nr. 164 und 165, Herbst 2006 und Winter 2006/2007).
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Das war für die Finanzmärkte ein wechselhafter Sommer, der einige einschneidende Verluste mit sich brachte, insbesondere für Banken, Hedgefonds und andere große kapitalistische Investoren. Dies wiederum führte in der bürgerlichen Presse zu einer neuen Runde, die Probleme der Weltwirtschaft als Ergebnis einer angeblich wachsenden Krise in China zu erklären.
Am 24. August brach der Dow-Jones-Index nach einer Reihe steiler Talfahrten an der New Yorker Börse um fast 600 Punkte ein. Zufällig passierte dies nach einer Reihe größerer Aktienverkäufe an der Shanghaier Börse. In der Finanzpresse gab es eine Aufschrei über einen angeblichen „Kollaps“ in China. Die Taaffe-Anhänger vom Komitee für eine Arbeiterinternationale (in Deutschland SAV), die behaupten, in China sei der Kapitalismus restauriert worden, sorgten sich über eine „globale Rezession, die mit den aktuellen Entwicklungen in China eingeläutet werden könnte“ („Chinas Krise führt zu Panik auf dem Weltmarkt“, sozialismus.info, 11. September).
Nun hat zunächst einmal der Ausverkauf an der Wall Street, genau besehen, nichts mit China zu tun. Er war das klassische Beispiel einer Finanzblase, aus der (etwas) die Luft rausging. Seit 2009 bis vor einem Jahr druckte die Federal Reserve [US-Notenbank] Geld in der Größenordnung von etwa 3,5 Billionen Dollar und verteilte es kostenlos an Banken und andere Finanzinstitute. Die wiederum investierten in Wertpapiere und andere riskante Vermögenswerte in den USA und weltweit und heizten so künstlich die globale Wirtschaft an. Aus vielen dieser Finanzblasen – vom Preis für Mineralien und andere Rohstoffe bis hin zu Aktien- und Anleihenpreisen in Dritte-Welt-Ländern – entweicht jetzt die Luft. Die Tatsache, dass der Nadelstich, der etwas Luft aus der Börsenblase in den USA abließ, von einem Einbruch an der Shanghaier Börse kam, war reiner Zufall und hatte keine dem zugrundeliegende wirtschaftliche Bedeutung. Der Nadelstich hätte genauso gut von Gerüchten über die Politik der Notenbank oder fast allem anderen kommen können.
Zweitens sagt die Lage an der Shanghaier Börse nichts über den Zustand der chinesischen Wirtschaft insgesamt aus. Anders als bei Börsen der USA und anderer kapitalistischer Mächte haben Bewegungen an der chinesischen Börse fast keinen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen in diesem Lande. So ist – mal ganz abgesehen von dem beherrschenden staatseigenen Sektor – in China der Privatsektor nur zu etwa 5 Prozent börsenfinanziert! Würde die New Yorker Börse innerhalb von zwei Monaten etwa 40 Prozent ihres Werts verlieren wie die chinesische Börse diesen Sommer, hätten wir eine globale Depression vor uns.
Der Kollaps der Shanghaier Börse bedeutet politisch gesehen gewiss ein blaues Auge für das Beijinger Regime, das in den letzten paar Jahren die Mittelschicht des Landes dazu animierte, ihr Einkommen durch Aktienanlagen aufzubessern, und predigte, dass die Börse in Zukunft eine „entscheidende Rolle“ bei der Mittelzuweisung spielen werde. Diese politische Verpflichtungserklärung seitens der Beijinger Bürokraten erklärt zweifellos, warum sie seit Beginn des Einbruchs im Juni unglaubliche 236 Milliarden Dollar der Währungsreserven des Landes dafür ausgegeben haben, die Aktienkurse zu stützen.
Drittens, selbst wenn der Shanghaier Börsenkollaps eine zunehmende Wirtschaftskrise in China widerspiegeln würde, was nicht der Fall ist, würde dies kaum eine Wirtschaftskrise in den USA bedeuten. Die USA haben einen riesigen Binnenmarkt, auf den etwa 70 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts entfallen. Der chinesische Markt für US-Exporte macht nur 1 Prozent des hiesigen BIP aus.
Mit dem Yuan auf Du und Du
Inzwischen wertete Beijing Mitte August den Yuan ab und ließ den Wert seiner Währung innerhalb einer Woche um 4,4 Prozent fallen. Dies wurde in der US-Finanzpresse als ein weiteres Zeichen gewertet, dass die chinesische Wirtschaft angeblich in eine tiefe Krise hineinschlittert. Die Abwertung wurde als Panikreaktion Beijings dargestellt, als ein Versuch, einen Wirtschaftsabschwung durch Ankurbelung der Exporte zu verhindern. (Ein niedrigerer Wechselkurs für den Yuan verbilligt chinesische Exporte auf internationalen Märkten.) In einem Artikel in der Monthly Review (27. August) unter dem Titel „The Devaluation of the Yuan“ [Die Abwertung des Yuan] verkündete der indische Ökonom Prabhat Patnaik: „Chinas Währungsabwertung bedeutet eine ernsthafte Verschärfung der kapitalistischen Weltkrise.“ Patnaik rechnet mit einem bevorstehenden Währungskrieg, in dem China verzweifelt versucht, sich durch Vergrößerung seiner Exporte auf Kosten seiner internationalen Konkurrenten über Wasser zu halten.
Doch betrachten wir diese Währungsabwertung im Zusammenhang. 2005 koppelte China unter starkem Druck aus Washington im Wesentlichen seinen Wechselkurs an den Dollar. Dies hatte eine Aufwertung des Yuan zur Folge, die die nächsten zehn Jahre anhielt, was ziemlich sicher nicht dem entsprach, was sich die chinesischen Funktionäre vorgestellt hatten. Als die Federal Reserve der USA nach der Finanzkrise auf Teufel komm raus Geld zu drucken begann, hätte dies logischerweise zu einem schwächeren Dollar führen müssen. Aber die wirtschaftliche Stagnation in Japan und Europa, ganz zu schweigen von der anhaltenden griechischen Schuldenkrise, ließen schließlich den Dollar wie den sicheren Hafen für die Finanzkapitalisten der Welt erscheinen. Kapital floss in die USA und stärkte den Dollar – wie auch den Yuan, der jetzt an den Dollar gekoppelt war. Die Aufwertung beschnitt Chinas Exporte, weil sie in China hergestellte und in Yuan ausgepreiste Waren verteuerte. Dies betraf vor allem Importeure aus Europa und Japan, da der Euro und der Yen schwächer wurden.
Am besten kann man die wirtschaftlichen Auswirkungen auf China beurteilen, wenn man den handelsgewichteten Wechselkurs des Yuan über das vergangene Jahrzehnt hinweg betrachtet. Dies ist der Wechselkurs des Yuan nicht nur gegenüber dem Dollar, sondern gegenüber einem Korb von Währungen von Chinas Haupthandelspartnern, gewichtet nach der Bedeutung jedes dieser Länder für Chinas Handel. Ein Artikel des Economist vom 15. August enthielt eine Grafik, die zeigte, dass der handelsgewichtete Wechselkurs des Yuan von 2005 bis Mitte 2015 um ganze 50 Prozent anstieg. Anders gesagt, wenn man allein die Auswirkungen der Wertsteigerung des Yuan in diesem Zeitraum betrachtet, so würde dies tendenziell chinesische Waren auf internationalen Märkten um durchschnittlich 50 Prozent verteuern.
In diesem Zusammenhang war die Abwertung des Yuan im August alles andere als weltbewegend. Tatsächlich stellt der Economist die Frage, ob es überhaupt zutreffend sei, von einer Abwertung zu sprechen. Er weist darauf hin, dass die Chinesische Volksbank (die Zentralbank) zunächst zusah und abwartete und den Markt eine stärkere Rolle bei der Festsetzung des Wechselkurses des Yuan spielen ließ; dann machte sie rasch einen Rückzieher und gab zig Milliarden Dollar der Währungsreserven des Landes aus, um den Yuan zu stützen und seinen weiteren Fall zu verhindern. Wie es der Economist ausdrückte: „Die ersten 2 Prozent Abwertung machten handelsgewichtet betrachtet nur die Wertsteigerung der vorhergehenden zehn Tage rückgängig. Der Yuan ist im Verhältnis zu den Währungen von Chinas Handelspartnern immer noch mehr als 10 Prozent stärker als vor einem Jahr.“
Eine Beschränkung für die Chinesische Volksbank liegt darin, dass eine größere einmalige Abwertung nur dazu führen würde, dass andere Länder nachziehen, was den importsteigernden Effekt der Abwertung aufheben würde. Und sollte sich der Eindruck durchsetzen, dass dem Yuan eine Reihe von Abwertungen bevorstehen, würde dies die ohnehin schon unangenehme Kapitalflucht aus dem Lande beschleunigen.
All das soll nicht heißen, dass die Yuan-Abwertung, so wie es nun mal steht, keine Auswirkungen auf den globalen Handel haben wird. Bis Mitte 2015 waren die chinesischen Exporte innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate um 8,3 Prozent zurückgegangen, offensichtlich wegen der Konjunkturabschwächung in einem Großteil der kapitalistischen Welt. Es ist zu erwarten, dass die Yuan-Neubewertung den chinesischen Exporten etwas Auftrieb verleiht. Dies wird indessen einer Reihe asiatischer Länder mit starker Exportabhängigkeit gegenüber China gewissen Schaden zufügen – Taiwan, Malaysia und Südkorea exportieren mehr als 5 Prozent ihres BIP nach China.
In Europa ließ die Yuan-Abwertung den Aktienkurs einiger Unternehmen, die in China verkaufen, sinken, da die Investoren über mögliche Verluste besorgt waren. Doch als sich der Staub gelegt hatte, war überhaupt nicht klar, ob europäische Unternehmen im Großen und Ganzen sehr in Mitleidenschaft gezogen würden. China ist der größte Markt für große deutsche Autohersteller, doch es zeigt sich, dass diese Unternehmen weitgehend gegen Wechselkursschwankungen abgesichert sind. Und eine beträchtliche Anzahl der Autos, die sie in China verkaufen, werden dort produziert, was die Auswirkungen von Wechselkursänderungen abschwächt. Das Wall Street Journal (11. August) zitierte zustimmend einen prominenten Aktienanalysten, der erklärte, dass insgesamt die Auswirkungen der Abwertung auf die deutsche Autoindustrie „praktisch gleich null“ seien.
Welche Krise?
In diesem Lichte entbehrt die weit verbreitete Behauptung, Beijing habe den Yuan abgewertet, um eine aufkeimende Krise in China zu verhindern, offenkundig jeglicher faktischen Grundlage. In den Worten des Ökonomen Nicholas Lardy in einem Leitartikel der New York Times (26. August) ist das Gerede von einer Krise in China „falscher Alarm“. So gut wie alle sind sich einig, dass Chinas Wirtschaft um ungefähr 7 Prozent jährlich wächst, ein Niveau, das kein fortgeschrittenes kapitalistisches Land heutzutage auch nur hoffen kann zu erreichen. Sicher, Chinas sagenhafte Wachstumsrate ist im Verhältnis zu den Raten der vergangenen Jahre (9,7 Prozent 2013 und 8,3 Prozent 2014) etwas zurückgegangen. Doch man darf nicht vergessen, dass diese Zahlen Chinas Wachstum in jährlichen Prozentsätzen angeben. Von 2007 bis 2013 verdreifachte China seine Produktionsmenge an Waren und Dienstleistungen. Im vergangenen Jahr entfielen auf China fast 40 Prozent des weltweiten Gesamtwirtschaftswachstums. Anders gesagt stellen 7 Prozent Wachstum dieses Jahr eine viel größere Gesamtproduktionsmenge dar als 14 Prozent Wachstum 2007.
Darüberhinaus ist das Absinken des prozentualen Wachstums kaum überraschend. Während die kapitalistische Welt unter der globalen Finanzkrise 2008/09 ins Taumeln geriet, sorgten atemberaubende staatlich gesteuerte Investitionsraten dafür, dass die chinesische Wirtschaft weiterhin boomte. Diese gigantischen Investitionen in Wohnungsbau, Transport und andere feste Vermögenswerte erreichten offenbar einen Rekordwert, der der Hälfte des BIP des Landes entsprach – ein außerordentliches Investitionsniveau. In nur zwei Jahren, von 2011 bis 2012, errichtete China etwa 3,8 Milliarden Quadratmeter Wohnraum, genug um über 100 Millionen Menschen komfortabel unterzubringen. (Die Taaffe-Leute halten es mit den neoliberalen Ökonomen weit rechts von Keynesianern wie Paul Krugman und werfen Beijing Finanzierung durch Staatsverschuldung vor. Ihr Artikel vom 11. September stellt nicht die naheliegendste Frage: Wie konnte das „kapitalistische“ China während der globalen Finanzkrise als einziges Land enorme Fortschritte machen?)
Man könnte hinzufügen, dass die Abwertung des Yuan damit einhergeht, dass Beijing die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank gründete und Hunderte von Milliarden Dollar für den Aufbau des neuen Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtels durch Zentralasien nach Europa und von Seerouten durch Südasien nach Afrika bereitstellt. All das, und noch dazu zunehmende chinesische Investitionen in Afrika und Südamerika, spricht für eine Vergrößerung von Chinas wirtschaftlichem und finanziellem Gewicht weltweit und nicht für eine Wirtschaftskrise in China.
Diejenigen, die die Vorstellung einer bevorstehenden Wirtschaftskrise in China verbreiten, weisen auf die offensichtlichen Blasen hin, wie die auf dem Immobilienmarkt. Da die Regierung weit über 3 Billionen Dollar an Währungsreserven hält, ist es wenig wahrscheinlich, dass das staatliche Bankensystem dem Kollaps entgegengeht. In jüngster Zeit berichteten Artikel, staatliche Konjunkturprogramme hätten überschüssige Industriekapazitäten zur Folge, zum Beispiel in der Zementproduktion. Eine Planwirtschaft unter der Herrschaft von Arbeiter- und Bauernräten würde derartige Ungleichgewichte minimieren. Im Falle von ungenutzten Kapazitäten könnten Arbeiter in verstaatlichten Industrien umgeschult und in anderen Branchen beschäftigt werden. Privatunternehmen können und wollen das natürlich nicht tun.
Einige Perspektiven und Fragen
Was kann man also über die Lage der chinesischen Wirtschaft sagen? Nach den Wirtschaftsstatistiken konzentrieren wir uns auf das Potenzial einer Erhebung der Arbeiterklasse und des politischen Auseinanderbrechens des Regimes der Kommunistischen Partei.
Die erste Frage ist: Wird es, da sich Chinas explosives Wirtschaftswachstum etwas verlangsamt, genug Arbeitsplätze geben, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern? Betrachten wir zunächst die gegenwärtige Verteilung von Chinas Arbeiterschaft auf die Hauptsektoren der Wirtschaft. Der in der Landwirtschaft beschäftigte Anteil der Arbeiterschaft ist stark zurückgegangen, von etwa 47 Prozent 2004 auf unter 30 Prozent ein Jahrzehnt später. Diese Abnahme ging bis etwa 2011 einher mit einer Zunahme des Anteils der Industriearbeiterschaft, danach pendelte sich dieser auf etwa 30 Prozent ein. Inzwischen stieg der Anteil der im Dienstleistungssektor beschäftigten Arbeiter stetig an, von etwa 30 Prozent 2004 auf über 40 Prozent 2014.
An diesen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor ist bedeutsam, dass sie wahrscheinlich größtenteils nicht sehr produktiv sind. Unter der Annahme, dass sich der Dienstleistungssektor weiter ausdehnt, kann man sich vorstellen, dass er einen wirkungsvollen Mechanismus darstellt, Arbeitskräfte, die den landwirtschaftlichen Sektor verlassen, aufzunehmen und die Arbeitslosigkeit zu dämpfen. Voraussetzung dafür ist, dass das persönliche Einkommen der chinesischen Verbraucher hoch genug ist, um einen expandierenden Dienstleistungssektor zu unterhalten. Das scheint die Richtung zu sein, in die sich alles bewegt. Der Privatkonsum scheint auf dem besten Weg zu sein, Investitionen in Anlagen als wirtschaftlichen Hauptwachstumsmotor des Landes zu ersetzen. Letztes Jahr machte der Privatkonsum 51 Prozent des BIP aus, davor 48 Prozent im Jahre 2013. Der Verkauf von Autos und Haushaltsgeräten wie auch der Einzelhandelsumsatz insgesamt nahmen zu. In der ersten Hälfte dieses Jahres machte der Privatkonsum 60 Prozent des Wirtschaftswachstums des Landes aus.
Mehr als ein Drittel von Chinas Arbeiterschaft besteht aus Wanderarbeitern aus ländlichen Gegenden, wahrscheinlich der am schlechtesten bezahlte Teil der Industriearbeiterschaft. In den 1980er- und 1990er-Jahren stiegen die Reallöhne der chinesischen Arbeiter fast gar nicht, trotz riesiger Produktivitätssteigerungen – schon der Wechsel eines Arbeiters von einem rückständigen bäuerlichen Betrieb in eine städtische Fabrik stellt eine enorme Produktivitätssteigerung dar. Nach 2009 stiegen die Löhne der Wanderarbeiter dramatisch – innerhalb von fünf Jahren verdoppelten sie sich fast. Diese gestiegenen Lohnkosten waren ein wichtiger Faktor dabei, Chinas exportgetriebenes Wachstum zu verlangsamen.
Dies alles wirft meines Erachtens die Frage auf: Was geschieht, wenn das Reservoir an Wanderarbeitern auszutrocknen beginnt? Mir scheint, dass dieser Tag nicht unbedingt in weiter Ferne liegt. Die Bevölkerung des Landes im Alter von 15 bis 24 Jahren nahm von etwa 250 Millionen 1990 auf etwa 200 Millionen im Jahre 2015 ab. Der Grund dafür ist unter anderem die Ein-Kind-Politik des Regimes. Im vergangenen Jahr hatte China 14,5 Millionen weniger Wanderarbeiter im Alter von 16 bis 20 Jahren als 2008, ein Rückgang um 60 Prozent.
Chinas Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – zwischen 16 und 60 Jahren – liegt gegenwärtig bei etwa 916 Millionen. Diese Zahl fällt seit den letzten drei Jahren in zunehmendem Maße. Im Februar dieses Jahres war die Gesamtzahl der Wanderarbeiter, die ihre ländliche Heimat verlassen, um in den Städten Arbeit zu suchen, seit dem Jahr davor um 3,6 Prozent gefallen. Das war der erste verzeichnete Rückgang des Zustroms an Wanderarbeitern überhaupt. Im Moment wird der Rückgang der Zahl junger Wanderarbeiter durch die verstärkte Einstellung älterer Arbeiter ausgeglichen. Von 2008 bis 2014 stieg die Zahl der Wanderarbeiter über 50 von 11,4 Prozent auf 17,1 Prozent. Im Vergleich zu 2013 waren im vergangenen Jahr 14,6 Prozent mehr Wanderarbeiter über 50 Jahre alt, die stärkste Zunahme seit drei Jahren.
Da der Zustrom von Wanderarbeitern aus ländlichen Gegenden deutlich nachzulassen beginnt, wird die wirtschaftliche Entwicklung wesentlich stärker von einer Produktivitätssteigerung abhängen. Die Bürokratie ist naturgemäß schlecht darauf vorbereitet, Verbesserungen bei Effizienz und Innovation in Angriff zu nehmen; das gleiche gilt für Verbesserung der Qualität von Industrieprodukten. Leo Trotzki erklärte das in Verratene Revolution (1936) anhand der Sowjetunion.