Spartakist Nr. 210 |
Oktober 2015 |
Aus den Archiven des Marxismus
Freiheit des Individuums
von Peter Fryer
Der nachstehend auszugsweise abgedruckte Artikel widerlegt auf elegante Weise die Verleumdung, Kommunismus würde die Individualität ersticken. Der Autor Peter Fryer gehörte zu den etwa 200 britischen Stalinisten, die unter dem Eindruck des Ungarnaufstands von 1956, als eine proletarisch-politische Revolution gegen die stalinistische Willkürherrschaft in diesem Arbeiterstaat niedergeschlagen wurde, für den Trotzkismus gewonnen wurden. „Freiheit des Individuums“ erschien ursprünglich 1958 in der August/September-Ausgabe von der Zeitschrift Labour Review, die von der britischen Gruppe unter Führung eines gewissen Gerry Healy herausgegeben wurde. Obwohl die Healy-Anhänger sich später als politische Banditen erwiesen, traten sie damals noch für ein anscheinend orthodoxes trotzkistisches Programm ein und zogen damit hochkarätige marxistische Vordenker an, darunter für kurze Zeit auch Fryer. (Siehe auch „Chronicler of Hungarian Revolution: Peter Fryer, 1927—2 006“, Workers Vanguard Nr. 883, 5. Januar 2007.) Die Auslassungspunkte innerhalb von Zitaten stammen von Fryer.
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„Wir sind keine Kommunisten, welche die persönliche Freiheit vernichten und aus der Welt eine große Kaserne oder ein großes Arbeitshaus machen wollen. Es gibt freilich Kommunisten, welche es sich bequem machen und die persönliche Freiheit, die nach ihrer Meinung der Harmonie im Wege steht, leugnen und aufheben wollen; wir aber haben keine Lust, die Gleichheit mit der Freiheit zu erkaufen.“ (Friedrich Engels, Kommunistische Zeitschrift, September 1847)
Der Kapitalismus und die Natur des Menschen
Die persönliche Freiheit ist für Liberale die höchste und wertvollste Freiheit. Marxisten stimmen voll und ganz damit überein, dass nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern der einzelne Mensch Freiheit erlangt. Sie stimmen zu, dass die Gesellschaft insgesamt nur dann frei sein wird, wenn jede einzelne Person frei ist. Doch sie sind dagegen, das Schlagwort von der persönlichen Freiheit als Antithese zu Sozialismus und sozialistischer Planung zu benutzen. Denn sie denken, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen den Interessen des Einzelnen und den Interessen einer Gesellschaft, deren grundlegendes Ziel die Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen und die Bereicherung ihres Lebens ist. Sie sind der Ansicht, dass der einzelne Mensch nur unter dem Kommunismus seine Möglichkeiten und Fähigkeiten voll entfalten kann.
Unter dem Kapitalismus hat die große Mehrheit der Menschen weder die Muße noch das Geld oder die Bildung, zu allseitig entwickelten Menschen zu werden. Und diese Menschen werden zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit auch nicht ermutigt. Das kapitalistische Produktionssystem, das bürgerliche Erziehungssystem, das Trommelfeuer von Werbung und „kulturellem“ Einerlei, dem die Einzelnen von der Wiege bis zur Bahre ausgesetzt sind, das alles ist nicht dazu da, das Talent und die kreative Fähigkeit, über die alle Menschen bis auf ganz wenige Ausnahmen verfügen, zur Entfaltung zu bringen. Es ist dazu da, qualifizierte Lohnsklaven hervorzubringen. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse – Privateigentum an den Produktionsmitteln für den privaten Profit – können dem einzelnen Lohnarbeiter nicht die Freiheit geben, die ein erfülltes Leben mit sich bringt, das durch vielseitige Aktivitäten jeder körperlichen und geistigen Begabung freien Lauf lässt. Stattdessen ist den Ausgebeuteten der Weg zu einem erfüllten Leben versperrt.
Durch den Kapitalismus wird die menschliche Natur zugrunde gerichtet, werden die Sinne abgestumpft und abgetötet, werden die Menschen verdorben und brutal. Denn aus ihrer Arbeit wird Profit herausgepresst, ihr Leben wird zerrissen, sie selber zu Halbmenschen gemacht, und die Arbeit wird zu einer Last statt zu einem befriedigenden und unverzichtbaren Teil des Lebens. Den Menschen wird ihre angeborene Fröhlichkeit, Schönheit und Klugheit geraubt. Den zwischenmenschlichen Beziehungen werden die Wärme und die Ausstrahlung genommen und jede Gefühlsregung, jede Freude und jede Eigenschaft wird gemessen an der Elle von Gold und Silber, an bedruckten Papierfetzen und an Einträgen in Geschäftsbüchern.1
Unter dem Kapitalismus ist der Einzelne nicht frei und kann es auch nicht sein, denn er kann nicht aus der Welt des Marktes herausspringen, aus der Welt, in der alles Moralische und Geistige für Geld gekauft und verkauft wird. Es ist eine Welt der allgemeinen Käuflichkeit, des zynischen Eigennutzes. Menschliche Arbeitskraft; Kunstwerke; Wissen; das ganze Gewissen und die Ehre der Menschen; die Wahrheit selber:2 Alles wird zur Ware, wird gemessen an seinem Marktwert, gehört denen, die Geld haben.
Für den Geschäftemacher sind das Objekt, das er kauft oder verkauft, und die Bedeutung, die es für Menschen hat, an sich nicht so wichtig verglichen damit, wie das Objekt in finanzieller Hinsicht abstrakt zum Ausdruck kommt. Diese öde Sicht bestimmt und vergiftet jede Beziehung, nicht nur zwischen Mensch und Objekt, sondern auch von Mensch zu Mensch. Geld wird zum Fetisch: Der Geldverkehr wird zwischen den Menschen zur einzigen Verbindung, die zählt. Was an einem Mitmenschen interessiert, ist nicht „Ist er glücklich?“ oder „Ist er hungrig?“ oder „Ist er ein guter Mensch?“, sondern „Ist er reich?“ und „Können wir ins Geschäft kommen?“ und „Welchen Vorteil bietet er mir?“ Man kann nicht sagen, dass jemand mit dieser Sichtweise das Leben genießt: Was er genießt, sind Geschäfte, Umsätze und Geldverdienen. „Leben“ in der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet „seinen Lebensunterhalt verdienen“.
Von dieser Sichtweise kann auch der Lohnarbeiter nicht völlig unbeeinflusst bleiben. Allein die Tatsache, dass er gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, dass er für jemand anderen arbeiten muss, um zu leben, nimmt ihm jede Lust an der Arbeit, macht diese zu einer eintönigen Belastung anstatt zu einem wichtigen bereichernden Teil des Lebens. Das Leben des einzelnen Arbeiters ist ständig zerstückelt: Ein Teil seines Lebens gehört nicht ihm, sondern dem Boss, und den Teil verbringt er in der Fabrik, wo der Boss der Aristokrat ist; und dann gibt es die ersehnten Oasen der Erholung, die Zeit, die dem Arbeiter selbst gehört…
„Taylor, die Berühmtheit der Bethlehem-Stahlwerke, verkündete, dass man Rohstahl am effizientesten verladen kann, wenn man Menschen so weit wie möglich Ochsen angleicht. Doch Menschen sind nicht von Natur aus so: Man muss sie dazu machen. Diese wissenschaftliche Degradierung des Menschen ist ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Betriebsführung.“3 Der Einzelne verkümmert, wird zurechtgebogen, ist lebenslang gekettet an einen einzigen Beruf, an eine spezielle Funktion, oft an ein spezielles Werkzeug. Was im Kapitalismus zählt, ist nicht der Mensch an sich, sondern der spezialisierte Mensch, beschränkt und bestimmt durch seine besonderen Fertigkeiten: Durch die Arbeitsteilung wird der einzelne Arbeiter selber gespalten.
Und das bedeutet, dass der Mensch von seinen Produktionsmitteln beherrscht wird, dass nicht die Produzenten die Produktionsmittel benutzen und steuern, sondern von diesen benutzt und gesteuert werden. Der Mensch hat auch keine Kontrolle über die Verwendung der Produkte, die aus seiner Arbeit hervorgehen; diese Produkte werden zur unabhängigen Kraft, die ihre Hersteller im Aufschwung und Absturz entsprechend der „blinden“ Marktgesetze überwältigt.
Die Produktionsmittel werden auf eine solche Weise eingesetzt, dass sie den Menschen versklaven und seine Fähigkeiten verkümmern lassen. Und der Austausch der Produkte zum Zweck des Profits führt zur Anhäufung enormen Reichtums in den Händen einiger weniger und zur Verarmung der Mehrheit, zu wirtschaftlicher Anarchie und regelmäßigen „Zuckungen“ in der Wirtschaftsentwicklung.
Daher kann der Mensch nicht frei über sein Schicksal entscheiden. Es wird nicht von ihm selber bestimmt, sondern von Kräften, die er nicht unter Kontrolle hat. Dabei büßt er seine Persönlichkeit ein. Sie wird vernichtet. Er verliert seine Persönlichkeit, weil er vom Kapital abhängig ist. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Kapital selbständig und persönlich, während das tätige Individuum unselbständig und unpersönlich ist.“4 „Ein ökonomischer Individualismus der Motive und Ziele“, findet auch [der amerikanische bürgerliche Philosoph John] Dewey, „liegt unseren gegenwärtigen Unternehmensmechanismen zugrunde und macht das Individuum zunichte.“5
Verteidiger und Fürsprecher des kapitalistischen Gesellschaftssystems haben genauso wenig das Recht, von der Freiheit des Einzelnen zu sprechen, wie das Recht, überhaupt von Freiheit zu sprechen. Unter dem Kapitalismus wird die menschliche Individualität gleichzeitig zum Handelsartikel und zum Stoff, in dem das Geld sich betätigt. Der Kapitalismus „entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen… [Eine Konsequenz] ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen6.“ Der Kapitalismus erstickt den schöpferischen Geist des Menschen und verdammt die Mehrheit zu einem Leben voller Eintönigkeit, Dreckarbeit und Hässlichkeit – zu einem Leben im Käfig. Er sticht dem Maler, der in jedem von uns steckt, die Augen aus und schneidet dem Dichter in uns die Zunge ab. Er schlachtet die menschliche Natur auf dem Altar der Maschine und nennt das Fortschritt…
Der Niedergang des Liberalismus
Die liberale Idee von der individuellen Freiheit ist ein gutes Beispiel für eine Idee, die anfangs fortschrittlich ist, die aber dann, wenn sich die Umstände, unter denen sie entstand, geändert haben, eine reaktionäre Rolle zu spielen beginnt.
Das Interesse für die Persönlichkeit und ihre Rechte erwachte im 17. Jahrhundert mit dem Aufstieg der Bourgeoisie, deren Existenz und Entwicklung als Klasse von der Freiheit des einzelnen Kapitalisten abhing, Arbeitskraft zu kaufen, und des einzelnen Proletariers, sie zu verkaufen. Die Auflehnung der Bourgeoisie gegen die wirtschaftlichen Fesseln des Feudalismus fand ihren politischen, sozialen und ideologischen Ausdruck im Widerstand gegen politische Willkürherrschaft, gegen willkürliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit, gegen die Verletzung der Menschenwürde und gegen kirchlichen Aberglauben. Der Kampf wurde als ein Ringen zwischen Vernunft und Unvernunft angesehen. Die Klasse, die den Liberalismus als ihre intellektuelle Waffe herausbildete, betrachtete persönliche Freiheit nicht als Freiheit von allen Beschränkungen, sondern als Freiheit unter dem Gesetz,7 als eine von gewissen ewigen Wahrheiten und Werten begrenzte Freiheit, die man sich in einem Naturgesetz oder in Naturrechten verkörpert dachte, welche sich aus der menschlichen Natur ergeben. Sowohl die Atome, aus denen die Materie zusammengesetzt sei, als auch die sozialen Atome, aus denen die Gesellschaft aufgebaut sei, unterlägen rationalen Gesetzen, die von menschlicher Vernunft erfasst und angewendet werden könnten. Doch wie Marx feststellte, beseitigte keines dieser „Menschenrechte“, jener Rechte, die der Einzelne aufgrund seines Menschseins besitzt, den egoistischen Menschen, ein auf sein Privatinteresse und auf seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum. Im Gegenteil, die bürgerliche Gesellschaft selber erscheint in den Menschenrechten als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums.8
Die liberale Idee von individueller Freiheit, wie sie von den bürgerlichen Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, blieb in einer Epoche fortschrittlich, als den Arbeitern jede Freizeit geraubt wurde, Frauen und Kinder in den Bergwerken arbeiteten und der Arbeitstag nicht gesetzlich begrenzt war. Diese Intellektuellen unterstützten den Kampf um Freizeit für die Industriearbeiter als einen Kampf für Zeit, in der die Leute frei tun, denken und sagen konnten, was sie wollten – vorausgesetzt, dass sie damit nicht die kapitalistische Gesellschaft in Gefahr bringen.9 Das liberale Ideal konnte keineswegs die Spaltung des Lebens des Menschen in zwei Teile überwinden (sondern spiegelte sie vielmehr wider): in seine Arbeitszeit, in der er unfrei, ein Lohnsklave war, und seine Freizeit, in der er für einige Stunden des Tages ein Individuum ohne Verpflichtungen war, nur sich selbst verantwortlich – ein zeitweilig außerhalb der Gesellschaft stehendes Individuum, das seine „Freiheit“ außerhalb der Gesellschaft genoss. [Der im 19. Jahrhundert lebende britische Polit-Ökonom] Mill wollte zum Beispiel, dass jeder Arbeiter letzten Endes genauso viel Freizeit hat wie sein Chef und damit dieselbe partielle Freiheit von den Zwängen der gesellschaftlichen Organisation wie er auch.
Was mit der liberalen Ideologie passierte, als der Kapitalismus in seine Monopolphase eintrat, haben Hallowell und Laski gut zusammengefasst:
„Solange die Bourgeoisie wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch noch nicht gesättigt war, trat sie für die grundlegenden Menschenrechte ein. Als … der Monopolkapitalismus das freie Unternehmertum ersetzte … und als die Bourgeoisie die Gesellschaft und Politik zu dominieren begann, tendierte sie dazu, für formale Gleichberechtigung und formale Rechte der Bürger einzutreten statt für grundlegende Gleichberechtigung und grundlegende Rechte.10
Die früheren Liberalen befreiten das Individuum von einer Gesellschaftsordnung, die seine Entwicklungsmöglichkeiten einschränkte. Doch die Voraussetzung für diese Befreiung erfüllten in Wirklichkeit nur solche Menschen, die in der heiß umkämpften industriellen Konkurrenzgesellschaft bestehen konnten, nämlich die Privateigentümer. Vor allem deren Freiheit wurde sichergestellt; die anderen erben nur das, was dann noch übrig bleibt. Und nachdem die Wohlhabenden gewonnen hatten, war für sie das Ganze zu Ende… Was sie nicht sahen: Die neue soziale Ordnung, die ihr Liberalismus errichtet hatte, brachte neue Probleme mit sich, die genauso gravierend waren wie die, die er gelöst hatte… Der Liberalismus … hatte eine Freiheit eingeführt, an der die Arbeiter formal und von Rechts wegen teilhaben durften. Tatsächlich konnten sie aber zumeist nicht daran teilhaben, denn ihre Verwirklichung war überwiegend an den Besitz von Eigentum gebunden; und sie besaßen außer ihrer Arbeitskraft kein Eigentum. Als die Sieger aufgefordert wurden, an den Privilegien, die ihnen ihre neue Freiheit gebracht hatte, auch andere teilnehmen zu lassen, waren sie bestürzt.“11
In der Epoche des Monopolkapitalismus wird gerade die Trennung der Interessen des Einzelnen von denen der Gesellschaft und die Entgegensetzung von individueller Freiheit und äußerer gesellschaftlicher Notwendigkeit sowie sozialer Verantwortung zur ideologischen Waffe, die zur Verteidigung des Kapitalismus und zur Anstachelung von Abneigung und Feindschaft gegenüber dem Sozialismus benutzt wird. Die mit gesellschaftlicher Planung einhergehende Disziplin wird so hingestellt, als ob damit die menschliche Persönlichkeit zerstört würde und dem Einzelnen die Freiheit genommen würde, „sein eigenes Leben zu leben“ und für sich selbst zu denken und zu entscheiden. Diese Disziplin wird so dargestellt, als würde sie dem Menschen gegen seinen Willen aufgezwungen.
Der Liberale, der heute den Sozialismus aus diesen Gründen angreift, wendet sich in Wirklichkeit von allen Werten ab, für die der Liberalismus einst eintrat. Er ignoriert, dass der Mensch in seiner Individualität und Persönlichkeit durch den Monopolkapitalismus verkrüppelt wird. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, sein Anspruch auf „Freiheit des Individuums“ besteht im Grunde darin, die Privilegien, Freiräume und Reichtümer des mit all dem ausgestatteten Teils der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Diese Privilegien, Freiräume und Reichtümer basieren auf „der Freiheit des Privateigentums als solchem, das in seinen Geschäften durch nichts anderes kontrolliert wird als durch den Willen des jeweiligen Besitzers“.12 Da diese Privilegien, Freiräume und Reichtümer für die Bourgeoisie und die ihr dienenden Intellektuellen nur durch die Ausbeutung von Millionen ihrer Mitmenschen zustande kommen und aufrechterhalten werden, fordert der moderne Liberale tatsächlich die Freiheit nur für eine Elite…
Das Individuum und der Sozialismus
Die Aufgabe des Sozialismus ist es, die notwendige Grundlage für den reichhaltigen Überfluss an allen lebensnotwendigen und heute noch als Luxus geltenden Dingen zu schaffen. Erst wenn das erreicht ist, kann jedem Menschen nach seinen Bedürfnissen gegeben werden. Die gesellschaftliche Disziplin sozialistischer Planung allein kann den Menschen aus dem Dschungel des Kapitalismus befreien. Selbst wenn die sozialistische Planung bürokratisch verzerrt ist [wie in der stalinistisch regierten Sowjetunion] kann eine ganze Menge erreicht werden. Wenn diese Auswüchse beseitigt sind, wird der Sozialismus die schöpferische Energie von Millionen nutzbar machen. Wirklicher Sozialismus stülpt Menschen nicht „von oben“ Wirtschaftspläne über. Der Einzelne hilft mit, den Plan zu entwerfen, zu organisieren und zu erfüllen; damit trägt er nicht nur zur Verbesserung des Lebens aller anderen bei, sondern verbessert auch sein eigenes Leben. Der Einzelne kann sich aus dem kapitalistischen Sumpf nur in aktiver Zusammenarbeit mit Millionen anderen befreien und nicht durch eigene Anstrengung ohne fremde Hilfe. Gemeinsam werden diese von der Vision eines neuen Lebens und einer neuen Gesellschaft beflügelt. Sie arbeiten zusammen, um diese zu verwirklichen. Beim sozialistischen Wiederaufbau der Welt geht es nicht darum, den Einzelnen nach den Bedürfnissen einer abstrakten „Gesellschaft“ hinzubiegen. Es geht darum, das Gesellschaftssystem nach den Erfordernissen der Einzelnen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, umzugestalten. Dazu gehören Planung und, auf freiwilliger Basis, Disziplin, Anstrengung und Opfer. Doch das ist der einzige Weg, den Menschen von Klassenausbeutung und Klassenunterdrückung zu befreien. „Das Ergebnis des Sozialismus ist … ein Individualismus aller Menschen im Gegensatz zum Individualismus der Angehörigen einer Klasse.“13
Die Auffassung, dass der Mensch, der unter Hunger oder Armut oder Unsicherheit oder Ausbeutung oder Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit oder Unterdrückung leidet, nicht frei ist, dass Freiheit von diesen gesellschaftlichen Übeln die Grundlage menschlicher Freiheit ausmacht, findet man lange vor der Entstehung des Marxismus. So heißt es bei Shelley:
Was bist du, Freiheit? Könnten doch Sklaven,
die in Gräbern leben, Antwort geben
darauf – sodann würden die Tyrannen
flüchten wie trübe Bilder aus Träumen:
* * *
Für den, der arbeitet, bist du Brot
und ein Tisch anmutig gedeckt,
wenn er nach Haus kommt nach täglich’ Arbeit,
ist dieses gepflegt und er ist beglückt,
Du bist Kleidung, Feuer und Nahrung
für die getretene Menschenmenge –
nein – in keinem Land, das frei ist,
gibt es eine Hungersnot
wie in England jetzt.14
Wenn wir unter „England“ auch die britischen Kolonien in Afrika und Asien verstehen, gilt das in diesen Zeilen zusammengefasste Argument auch heute voll und ganz, da für Hunderte Millionen Asiaten und Afrikanern das Problem der individuellen Freiheit vor allem anderen darin besteht, genug zu essen zu finden, damit der Einzelne einen weiteren Tag am Leben bleiben kann. Darüber hinaus wird es von vielen, die sich über das Anwachsen revolutionärer Bewegungen in den sogenannten „unterentwickelten“ Regionen Sorgen machen, für das Argument gehalten, auf das der Imperialismus am schwersten eine Antwort findet. Ein Leitartikel im Manchester Guardian zum Beispiel kam zu dem Schluss, dass die Verfechter „westlicher Freiheit“ sich nicht an Asiens Volksmassen wenden dürfen, sondern an die dortige intellektuelle Elite wenden müssen, denn nur diese aufgeklärte Minderheit könne die Bedeutung von der „Meinungs- und Diskussionsfreiheit“ verstehen, die der Westen anzubieten habe:
„Biete einem Hungernden Freiheit oder eine Packung belegter Brote an, heißt es, so wird er natürlich die belegten Brote wählen. Doch die Klassen, an die sich unser Appell richtet, hungern eigentlich nicht, obwohl sie anerkennenswerter Weise darüber beunruhigt sind, wie viele ihrer Landsleute derart in Not sind. Auf die Mittelklasse und die Intelligenz des Freien Asiens können die Ideale der Freiheit immer noch anziehend wirken…“15
Doch der Sozialismus beschränkt echte Freiheit, eine Freiheit ohne Anführungszeichen, nicht auf die Freiheit von Hunger. Er entlarvt vielmehr die geheuchelte „Freiheit“ des Kapitalismus, die den Kolonialvölkern die grundlegenden Freiheiten verwehrt und scheinheilig große Reden über „Meinungs- und Diskussionsfreiheit“ schwingt, obwohl sie freie Diskussionen und freien Meinungsaustausch in den Kolonien nicht zulassen kann, wenn diese Ideen den Imperialismus in Frage stellen, genauso wie sie die Millionen, die durch sie unterdrückt werden, nicht anständig ernähren kann. Wirklicher Sozialismus hat nicht nur materiellen Wohlstand zu bieten, sondern stellt auch einen starken Anreiz für ein reges Geistesleben dar. Sogar trotz erheblicher bürokratischer Hindernisse und Missstände hat ein Arbeiterstaat zig Millionen Menschen in den zentralasiatischen Republiken das Lesen und Schreiben beigebracht und so für sie das Tor zur Welt der Ideen und der Kultur geöffnet. Selbst [der britische Pseudosozialist William Angus] Sinclair muss zugeben: „Ein Grund für die Anziehungskraft des Kommunismus auf den Asiaten und den Afrikaner … ist, dass er eine industrialisierte Kultur mit einem höheren Lebensstandard für Gruppen verspricht, die intakt sind und sich weiterhin als Gruppe fühlen; wohingegen die westlichen Mächte gegenwärtig nur eine industrialisierte Kultur anbieten können, die zugegebenermaßen einen höheren Lebensstandard bietet, in der sich aber der Mensch als Einzelner isoliert und verloren fühlt. Egal was sie ihm sonst noch geben, das, was für sein Glück wesentlich ist, gehört nicht dazu.“16
Da im Sozialismus die Fähigkeiten des Einzelnen geschätzt und gefördert werden, kann der Einzelne eine hohe Position von weit größerer wirklicher Bedeutung erreichen und weit größere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, als es im Kapitalismus je möglich wäre. Wenn jeder Einzelne die Gesellschaft auf bewusste, planmäßige Weise leitet, kann das bei ihm nur ein Höchstmaß an Eigeninitiative, Vorstellungskraft, Unternehmungsgeist, Eifer und Schaffenskraft hervorrufen. Die freie Wahl, wo und wie man sich am besten an allgemeinen gesellschaftlichen Aktivitäten beteiligen kann, die freie Diskussion über diese Aktivitäten, sowohl was ihre allgemeinen Aspekte als auch was ihre einzelnen Besonderheiten angeht, und die Freiheit, die eigenen Vorschläge und Kritikpunkte zur Diskussion zu stellen, bedeutet, dass der Einzelne nicht mehr ein unbedeutendes Rädchen in einer riesigen, unpersönlichen Ausbeutungsmaschinerie ist, sondern ein wichtiger und bewusster Teil einer großen kollektiven Aufgabe, deren zentrales Ziel eine bessere, höhere Lebensqualität für alle Menschen ist.
Auch wenn das bereits ein riesiger Fortschritt ist gegenüber dem Abwürgen der Eigeninitiative und Kreativität durch den Kapitalismus, löst es noch nicht das Problem des gespaltenen und verkümmerten Daseins des Einzelnen. Dieses Problem wird erst im Laufe eines lange dauernden Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft gelöst werden.
Der Einzelne wird erst dann im wahrsten Sinne des Wortes frei sein, wenn er sich von der Gesellschaft genau das holen kann, was er zur vollständigen Entwicklung all seiner Fähigkeiten benötigt; wenn stumpfsinnige und beschwerliche Arbeit abgeschafft ist und sich eine neue Haltung durchgesetzt hat, wonach Arbeit ein befriedigender und unverzichtbarer Teil des Lebens ist; wenn die Trennung von Kopf- und Handarbeit nicht mehr existiert und alle Arbeiter das Niveau von Ingenieuren, Technikern, Wissenschaftlern und Künstlern erreicht haben; wenn die Zeit für gesellschaftlich notwendige Arbeit auf vielleicht vier Stunden pro Tag oder weniger verkürzt worden ist und so dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben wird, zu „arbeiten“, zu spielen, zu studieren und uneingeschränkt an der Organisierung der Gesellschaft mitzuwirken. Von all diesen Voraussetzungen ist am wichtigsten die Verkürzung der Arbeitszeit, die „Grundbedingung“ dafür, wie Marx feststellte, dass das „wahre Reich der Freiheit“ erblühen kann.17 Tatsächlich wird der Einzelne erst dann wirklich frei sein, wenn die Menschen vollständig die bewusste gesellschaftliche Kontrolle über ihre gesamte wirtschaftliche Entwicklung erlangt haben – die vollständige Kontrolle über die Verwendung ihrer Produktionsmittel und die Verfügung über ihr Sozialprodukt. Das schafft wirklich menschliche Lebensverhältnisse, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.18
1 In seiner Schrift Adult Interests (New York 1935) legte Dr. Edward L. Thorndike dar, zu welchem Preis Männer und Frauen bestimmte normalerweise abstoßende Dinge tun würden. Nach seinen Angaben würde die Durchschnittsfrau für 750 000 Dollar Kannibalismus praktizieren, der Durchschnittsmann aber für 50 000. Die getesteten Frauen würden die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode für 10 Dollar aufgeben, Männer wollten dafür 1000. Die Männer würden sich für 25 Dollar betrunken machen lassen, doch die Frauen forderten 98. Außerdem wurde der „Geldwert“ von Erblindung, vorübergehender Verrücktheit, dem Verzehr von Käfern und Regenwürmern, dem Erwürgen einer streunenden Katze, dem Durchtrennen der Kehle eines Schweins und dem Bespucken eines Kruzifixes und von Bildern von Charles Darwin, George Washington und der eigenen Mutter ermittelt. Dr. Thorndike wurde als „der Nestor der amerikanischen Psychologen“ bezeichnet.
2 „Der beste Wahrheitstest“, so ein Sinnspruch von Mr. Justice Holmes, „besteht darin, dass sich die Kraft des Geistes in der Marktkonkurrenz behauptet.“ (Abweichende Meinung im Prozess Abrams v. U.S., 250 U.S. 616 (1919))
3 [R.M.] Fox, [The Triumphant Machine: A Study of Machine Civilization (1928),] S. 5
4 [Marx Engels Werke (MEW) Bd. 4, S. 476]
5 [John] Dewey, [Individualism Old and New (1931),] S. 57
6 [MEW Bd. 40, S. 517]
7 „Freiheit“, schrieb Voltaire, „bedeutet, von nichts anderem abhängig zu sein, als von den Gesetzen“ (Pensées sur l‘administration publique)
8 [MEW Bd. 1, S. 366]
9 „Niemand behauptet“, schrieb John Stuart Mill, „dass Handlungen ebenso frei sein dürften wie Meinungen. Im Gegenteil: selbst Gedanken verlieren ihre Straflosigkeit, wenn die Umstände, unter denen sie ausgesprochen werden, von der Art sind, dass ihr Ausdruck eine direkte Aufreizung zu irgendeiner Schandtat bildet. Die Meinung, dass Getreidehändler die Armen aushungern oder dass Eigentum Diebstahl ist, sollte unangefochten bleiben, wenn sie bloß in der Presse ausgedrückt wird, sollte aber gerechterweise Strafe nach sich ziehen, wenn man sie mündlich einer erregten Menge, die sich vor dem Hause eines Getreidehändlers versammelt hat, vorträgt oder sie unter gleichen Umständen in Form von Handzetteln in Umlauf setzt“. (Über die Freiheit, Reclam, Stuttgart 1974, S. 81)
10 John H. Hallowell, The Decline of Liberalism as an Ideology With Particular Reference to German Politico-Legal Thought (Berkeley und Los Angeles, 1947), S. 14
11 H. J. Laski, The Decline of Liberalism (1940), S. 13/14
12 E. Belfort Bax und J. Hiarn Levy, Socialism and Individualism (ohne Datum [1904]), S. 10
13 Bax und Levy, a.a.O. S. 13
14 Der Maskenzug der Anarchie [unsere Übersetzung]
15 Manchester Guardian, 10. Januar 1956.
16 Sinclair, [Socialism and the Individual: Notes on Joining the Labour Party (1955),] S. 146/147
17 [MEW Bd. 25, S. 828]
18 [MEW Bd. 4, S. 482]