Spartakist Nr. 210

Oktober 2015

 

Kampf in Labour-Partei wühlt Britannien auf

Jeremy Corbyn: Tony Blairs Albtraum

In diesem Sommer hat eine erstaunliche Wendung die politische Landschaft in Britannien aufgemischt. Nach der Niederlage der Labour-Partei bei den Parlamentswahlen im Mai trat der Labour-Vorsitzende Ed Miliband zurück und machte so den Weg für innerparteiliche Wahlen um seinen Spitzenposten frei. Jeremy Corbyn, ein langjähriger Parlamentsabgeordneter (MP) von Labour, trat mit einem arbeiterfreundlichen Anti-Austeritätsprogramm an und entwickelte sich schnell zum Favoriten. Trotz heftiger Hetze gegen ihn wurde Corbyn am 12. September mit 59 Prozent der Stimmen gewählt.

Die drei anderen Kandidaten für den Vorsitz – Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall – stehen in der arbeiterfeindlichen Tradition von Tony Blairs „New Labour“. Jeremy Corbyn ist ein unerschütterlicher Anhänger des linken Flügels von „Old Labour“ aus der Zeit vor Tony Blair. Corbyn, der seit 32 Jahren MP ist, hat seit 2001 etwa 500-mal gegen die Fraktionsdisziplin der Partei abgestimmt. Doch bis jetzt brachte er es fertig, im Hintergrund zu bleiben und keinen Ärger zu machen.

Corbyns kometenhafter Aufstieg zum Favoriten im Wettstreit um die Labour-Führung hat buchstäblich alle, auch Corbyn selber, geschockt und im Establishment der Partei Panik ausgelöst. Landauf, landab füllten Werktätige und Jugendliche Versammlungshallen und bejubelten Corbyn. Seit Mai hat die Partei ihre zahlenmäßige Stärke auf etwa 600 000 verdreifacht, wobei Hunderttausende als Mitglied eintraten oder die 3 Pfund [4 Euro] Aufnahmegebühr als Unterstützer bezahlten, um für Corbyn zu stimmen. Entsetzt über diesen Massenzulauf für Corbyn startete die Parteiführung eine heftige antikommunistische Hetzkampagne gegen seine Unterstützer und zeterte, die Partei werde von „Trotzki-Anhängern“ und anderen üblen Elementen unterwandert. Heutige und ehemalige Parteiführer jammerten, dass durch einen Sieg von Corbyn Labour „unwählbar“ würde. Der Parteiapparat durchforstete fieberhaft die Listen der neu aufgenommenen Mitglieder und hat mehr als 50 000 Stimmberechtigte disqualifiziert.

Corbyn ist kein Marxist und behauptet auch nicht, einer zu sein. Doch seine Kampagne drückt eine Opposition in der Arbeiterklasse gegen den rechtsgerichteten Blair-Flügel aus, der die Partei anführte. Unsere Genossen von der Spartacist League/Britain begrüßten in ihrem Flugblatt vom 12. August (nachstehend abgedruckt) die Corbyn-Kampagne, weil diese die Fragen aufgreift, die für die arbeitenden Menschen von Interesse sind. Die Hauptforderungen der Kampagne sind unterstützenswert, doch die grundlegenden Probleme, mit denen die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu kämpfen haben, können nicht im Rahmen von Corbyns parlamentarischem Old-Labour-Reformismus gelöst werden, der das kapitalistische System immer aufrechterhalten hat.

Die Labour-Partei wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Gewerkschaftsbürokratie gegründet, um eine Stimme im Parlament zu bekommen. Die alte Labour-Partei verkörperte das, was der Führer der Russischen Revolution W. I. Lenin als eine bürgerliche Arbeiterpartei bezeichnete: Sie hat eine Basis in der Arbeiterklasse, aber unter einer Führung und mit einem Programm, die prokapitalistisch sind. Zu einer derartigen Partei wurde sie durch ihre organische Verbindung zu den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften waren integraler Bestandteil der Parteistruktur: Mitglieder angeschlossener Gewerkschaften wurden mehr oder weniger automatisch Parteimitglieder, und Gewerkschaftsbeiträge waren die Haupteinnahmequelle der Partei.

Als Parteivorsitzender ging Tony Blair daran, die Partei zu „modernisieren“. Vor zwei Jahrzehnten erklärte er seine Absicht, die Verbindung zu den Gewerkschaften zu kappen und so Labour in eine durch und durch kapitalistische Partei wie die Demokratische Partei in den USA zu verwandeln. Das „Blair-Projekt“ zog sich hin, nicht zuletzt weil die Parteispitzen die Gewerkschaftsbeiträge behalten wollten, die immer noch die Haupteinnahmequelle der Partei sind. Inzwischen blieb die prokapitalistische Führung der Gewerkschaften der Labour-Partei treu, selbst dann noch, als die Gewerkschaftsmitglieder die Partei immer mehr als Gift für sie betrachteten. In den letzten Jahren ist Labour als reformistische Partei der Arbeiterklasse dahingesiecht. Schließlich stimmte im März 2014 ein Sonderparteitag dafür, sich innerhalb von fünf Jahren von den Gewerkschaften zu trennen. Es ist eine köstliche Ironie, dass die neuen Mitglieder, die in die Partei geströmt sind, um Corbyn zu unterstützen, heute zur Wahl des Parteivorsitzenden berechtigt sind dank neuer Regeln, die der Parteitag annahm, der auch die Trennung von den Gewerkschaften beschloss.

Corbyn beharrt darauf, er würde gerne im Fall seiner Wahl an der Einheit mit dem rechten Parteiflügel festhalten. Doch es ist offensichtlich, dass hier innerhalb des Rahmens einer einzigen Partei zwei einander entgegengesetzte Klassen im Konflikt stehen. Auf der einen Seite stehen die Blair-Anhänger, die die Mehrheit der Labour-MPs stellen, ungeniert loyal zu den Bankiers der City of London und wollen die Verbindung zu den Gewerkschaften los werden. Auf der anderen Seite will Corbyn die Verbindungen zu den Gewerkschaften, die überwiegend für ihn sind, wiederherstellen. Als Corbyn auf einer Wahlkampfkundgebung in Glasgow erklärte, er schäme sich der Verbindungen der Partei zu den Gewerkschaften nicht, er sei stolz darauf, erhielt er von den 1000 Zuhörern tosenden Applaus. Seine Kampagne ist wahnsinnig populär bei Leuten aus der britischen Arbeiterklasse, die jahrzehntelang die Folgen größerer Niederlagen haben hinnehmen müssen und denen noch länger eingetrichtert worden war, sich unterzuordnen.

Nach 18-jähriger Herrschaft der Tories (Konservativen) unter Margaret Thatcher und ihrem Nachfolger setzten die Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown die Angriffe im Thatcher-Stil auf Gewerkschaften, Arbeiter und Minderheiten fort. Besonders empörend für die Arbeiterklasse ist die scheibchenweise Privatisierung und Abwicklung des National Health Service, der allen kostenlose Gesundheitsversorgung bietet. Doch am meisten unter Beschuss steht Blair für das Verbrechen, dass er Britannien an der Seite der USA in den Irakkrieg hineinzog. Als Jeremy Corbyn kürzlich erklärte, im Fall seiner Wahl werde er sich für Britanniens Rolle im Irakkrieg entschuldigen, war das ein Seitenhieb gegen die Blair-Leute.

In der bürgerlichen Presse wurden Vergleiche gezogen zwischen der Wahlkampagne Corbyns und der des Senators Bernie Sanders aus Vermont, der von einem Großteil der Pseudolinken in den USA bejubelt wird. Doch es gibt einen grundlegenden Unterschied: Corbyn versucht mit seiner Kampagne die reformistische Partei „Old Labour“ wiederzubeleben, Sanders hingegen bewirbt sich für die Nominierung durch die Demokratische Partei, eine bürgerliche Partei. Sanders ist ein kapitalistischer Politiker, was auch immer er an „sozialistischen“ Sprüchen von sich gibt. Außerdem gibt es wesentliche Unterschiede zwischen ihrer Politik. Sanders unterstützte militärische Auslandseinsätze der USA, darunter in Irak und Afghanistan, beteiligte sich am „Krieg gegen das Verbrechen“ (sprich: gegen Schwarze) und befürwortete einen Senatsbeschluss, der das israelische Massaker von 2014 in Gaza unterstützte. Corbyn hingegen stimmte im Parlament gegen den Einmarsch in den Irak und gegen die innenpolitischen Maßnahmen, die im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ ergriffen wurden, der sich hauptsächlich gegen Muslime richtet. Unter tosendem Applaus verurteilte er auf einer Kundgebung in West-London die widerlichen rassistischen Äußerungen von Premierminister David Cameron über einen „Schwarm“ von Immigranten. Es überrascht nicht, dass Corbyn bei der schwarzen und der asiatischen Minderheit in Britannien Unterstützung findet.

Corbyns Kampagne wird von den Spitzen der Labour-Partei, von der Tory-Partei und der rechtsgerichteten Presse ins Lächerliche gezogen, die seine Art von Sozialismus als etwas ansehen, das längst ausgestorben sein müsste. Der schottische Komiker Frankie Boyle spießte Corbyns Kritiker im Oberhaus auf: „Ich habe meine Freude daran, wenn hochrangige Oberhausabgeordnete der Tories Corbyn als ,Atavisten‘ bezeichnen. Ein Kerl mit einer Pferdehaarperücke, der einen Umhang trägt, hat einen lebenslangen Job, weil sein Ur-Ur-Urgroßvater ein Händchen dafür hatte, sich die gesündesten Sklaven auszusuchen?“

Weshalb der 66-jährige Corbyn bei Jugendlichen so viele Anhänger hat, erklärte ein Unterstützer, der von Seumas Milne im Guardian (5. August) zitiert wird: „Man sagt, er sei ein alter Linker oder ein alter Marxist, doch für meine Generation sind seine Vorstellungen ziemlich neu.“ Corbyns „Old-Labour“-Reformismus beruht auf der Illusion, man könne durch Verabschiedung von Gesetzen im Parlament und durch Verstaatlichung der Industrie den britischen Kapitalismus so umgestalten, dass er den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen entspricht.

Corbyn tritt für die Reindustrialisierung des Landes ein, die wirklich notwendig ist, genauso wie die Runderneuerung von Britanniens Infrastruktur, der Wiederaufbau seiner verrostenden Produktionsbasis und die Wiederaufnahme produktiver Arbeit durch die Arbeiterklasse. Doch Finanzkapitalisten werden nicht freiwillig auf die durch Bankgeschäfte schnell verdienten Milliarden verzichten zugunsten von unsicheren Renditen aus Investitionen in die Reindustrialisierung von Englands Norden. Oberstes Gebot für die Kapitalisten ist, dort zu investieren, wo die höchste Rendite zu holen ist, und das lässt sich nicht durch Verabschiedung von Gesetzen im Parlament ändern. Die Arbeiterklasse braucht keine neue Variante von „Old Labour“, sondern eine revolutionäre Partei, die den Kampf für eine sozialistische Revolution führt.

Flugblatt der Spartacist League/Britain, 12. August

Corbyn könnte verlieren, abgesetzt werden oder auf Abwege geraten, aber ich liebe dieses Geräusch, dieses wunderbar liebliche Geräusch eines schluchzenden Tony Blair.“ (Derek Wall, „grüner Sozialist“)

Die Rechten im Umfeld der Labour-Partei – von der Daily Mail und der Murdoch-Presse bis zu Tony Blair und seinen Nachfolgern – schäumen vor Wut über Jeremy Corbyns Kandidatur zum Parteivorsitzenden. Corbyn erhält begeisterte Unterstützung von Jugendlichen, Arbeitern und Angehörigen von Minderheiten, die angewidert sind von dem, was ihnen die Tory- und Labour-Regierungen seit Jahren reingewürgt haben: Austerität, Rassismus und Krieg. Dies ist zum ersten Mal seit langer Zeit eine Kampagne, die auf die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen eingeht.

Corbyn tritt gegen die Angriffe der Regierung auf Sozialleistungen und den NHS (Staatlicher Gesundheitsdienst) auf und ist für angemessene Gehälter und Renten im öffentlichen Dienst. Er ist für die Wiederverstaatlichung privatisierter Dienstleistungsunternehmen – Eisenbahn, Post und Energieversorgung. Alle wichtigen Gewerkschaften unterstützen Corbyn, nicht zuletzt weil er für die Rücknahme der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze eintritt. Er fordert bezahlbaren Wohnraum, eine Notwendigkeit für Millionen von Menschen angesichts von Wucherpreisen und -mieten für Häuser. In seiner Kampagne setzt er sich für die Abschaffung der Studiengebühren und die Wiedereinführung von Studienbeihilfen ein. Corbyn lehnt den von der Regierung geführten „Krieg gegen den Terror“ ab, der sich gegen Muslime richtet. Und es spricht für ihn, dass er im Vorfeld der Parlamentswahlen die Labour-Führung dafür verurteilte, dem immigrantenfeindlichen Rassismus der UKIP [Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs] nachgegeben zu haben.

Die Corbyn-Kampagne tritt linker auf als die bürgerlichen Nationalisten von der SNP [Schottische Nationalpartei], die bei den Wahlen in Schottland Labour klar geschlagen hatten. Im Unterschied zur SNP ist Corbyn gegen die NATO und für einen Austritt Britanniens aus diesem imperialistischen Militärbündnis. Im Gegensatz zu manchen Linken, die beim Geschrei der Imperialisten über die Ukraine mitmachten, konnte Corbyn wenigstens das Offensichtliche aussprechen: „Der Grund für die Krise in der ehemaligen Sowjetrepublik ist der Drang der USA zur Osterweiterung“ (Morning Star online, 17. April 2014). Er lehnt auch die Erneuerung von Britanniens Atomraketensystem Trident ab und fordert seit langem den Abzug britischer Truppen aus Afghanistan und Irak. Corbyn steht der Europäischen Union kritisch gegenüber und fordert die Streichung von Griechenlands Schulden, derentwegen die griechische Bevölkerung hungert. Doch während wir revolutionäre Marxisten die imperialistisch dominierte EU grundsätzlich ablehnen, will Corbyn sie reformieren und ruft zu einem „besseren Europa“ auf.

Als prinzipienfester und ehrlicher Vertreter des linken Flügels der alten Labour-Partei in der Tradition von Nye Bevan, Michel Foot und Tony Benn ist Corbyn ein wortgewandter Fürsprecher des parlamentarischen „Sozialismus“. Alle Regierungen der alten Labour-Partei haben der britischen Kapitalistenklasse loyal gedient – sie unterstützten den britischen Imperialismus bei seinen Kriegen im Ausland und führten Angriffe auf die Arbeiterklasse im eigenen Land durch. Labour unterstützte den britischen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg, war bei der blutigen Teilung Indiens an der Regierung und schickte 1969 Truppen nach Nordirland. Einheit mit dem rechten Flügel von Labour war lange Zeit das Credo der Labour-Linken, auch von Benn und Corbyn, während reformistische Gruppen wie die Socialist Workers Party und die Socialist Party ihrerseits den Labour-Linken hinterherliefen.

Zwar sind die von der Corbyn-Kampagne erhobenen Forderungen unterstützenswert, doch sie können nicht im parlamentarischen Rahmen der alten Labour-Partei durchgesetzt werden. Um solche Fragen wie Verteilung der Arbeit auf alle Hände und kostenlose hochwertige Gesundheitsversorgung oder Bildung auch nur im Ansatz angehen zu können, muss man die Gewerkschaften als Kampforganisationen der Arbeiterklasse mobilisieren unter einer neuen, klassenkämpferischen Führung. Um die ehemaligen Industriegebiete wieder nutzen zu können und für alle einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, muss man die herrschende Kapitalistenklasse stürzen. Die sozialistische Revolution wird den kapitalistischen Staat zerschlagen, die Bourgeoisie enteignen und durch Vergesellschaftung die Grundlage für eine internationale Planwirtschaft legen.

Der Sieg einer Arbeiterrevolution in Britannien wird der sich auf Westminster stützenden kapitalistischen Herrschaft ein Ende setzen: Für die Abschaffung der Monarchie, der Staatskirchen und des Oberhauses! Für das Selbstbestimmungsrecht von Schottland und Wales! Für eine freiwillige Föderation von Arbeiterrepubliken auf den britischen Inseln! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

Die Spartacist League kämpft für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei, Sektion einer wiedergeschmiedeten trotzkistischen Vierten Internationale, die für diese Aufgabe erforderlich ist.