Spartakist Nr. 204

August 2014

 

Leserbrief

Über Ehe und Prostitution

Der nachfolgende Leserbrief wurde an Workers Vanguard geschickt, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S., und wurde dort auch beantwortet (Nr. 1045, 2. Mai). Der Brief bezieht sich auf einen Artikel, der zuerst in Spartakist Nr. 201, Januar 2014 erschien.

15. März 2014

Liebe Redaktion,

den größten Teil eures Artikels „Keine Kriminalisierung von Prostitution“ (Workers Vanguard, 21. Februar 2014) unterstütze ich sehr. Aber ich nehme Anstoß an einigen Formulierungen, insbesondere daran, wie ihr Friedrich Engels’ Ansichten entstellt durch die Auswahl von Zitaten aus seinem, wie ihr richtig schreibt, „mitreißenden Text Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“.

Im Artikel steht: „So entwickelte sich die monogame Familie, in der die Heirat die Unterwerfung der Frauen durch die Männer bedeutet, in Engels’ Worten ,die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts‘.“ Tatsächlich sagte Engels: „Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts.“ Das führte zur „jetzt auftauchenden Zwischenform der patriarchalischen Familie“ und in der Folge zur „mit dem Sturz des Mutterrechts sich rasch entwickelnden Monogamie“.

Gravierender aber ist, dass ihr behauptet: „Ob es sich um die stundenweise Anheuerung einer Prostituierten oder die ,Anschaffung‘ einer Ehefrau handelt [Warum nicht die Anschaffung eines Ehemanns? Sind Frauen immer die Passiven?], die Familie und die Unterdrückung der Frau gründen sich immer auf das Privateigentum; im Grunde genommen sind es nur die religiösen Moralvorstellungen und die kapitalistischen Gesetze, die eine Ehefrau von einer Prostituierten unterscheiden.“ Das ist absurd. Frauen, die sich für eine Ehe entscheiden, sind keine Prostituierten! Ebenso sind sich Prostituierte, die Partner/Ehegatten haben, sicher bewusst über den Unterschied zwischen ihren selbstgewählten persönlichen Beziehungen und ihrer Arbeit. Und was ist mit den Ehegesetzen der frühen Sowjetrepublik – war das nur organisierte Prostitution?

Engels sah Prostitution und die monogame Familie als „notwendiges Korrelat“, „man kann nicht die eine Seite des Gegensatzes haben ohne die andere“. Im Abschnitt von Engels, den ihr oben wiedergebt, sagt er: „Konvenienzehe schlägt … oft genug um in krasseste Prostitution“, aber hier spricht er über Ehen innerhalb der herrschenden Klasse, bei denen es hauptsächlich um den Besitz von Geld oder Land geht und um dynastische Allianzen. Gleich im nächsten Absatz führt er aus:

„Wirkliche Regel im Verhältnis zur Frau wird die Geschlechtsliebe und kann es nur werden unter den unterdrückten Klassen, also heutzutage im Proletariat – ob dieses Verhältnis nun ein offiziell konzessioniertes oder nicht. Hier sind aber auch alle Grundlagen der klassischen Monogamie beseitigt. Hier fehlt alles Eigentum, zu dessen Bewahrung und Vererbung ja gerade die Monogamie und die Männerherrschaft geschaffen wurden … dem letzten Rest der Männerherrschaft in der Proletarierwohnung [ist] aller Boden entzogen – es sei denn etwa noch ein Stück der seit Einführung der Monogamie eingerissenen Brutalität gegen Frauen. So ist die Familie des Proletariers keine monogamische im strengen Sinne mehr, selbst bei der leidenschaftlichsten Liebe und festesten Treue beider und trotz aller etwaigen geistlichen und weltlichen Einsegnung.“

Es geht mir nicht so sehr um eure Darstellung menschlicher Beziehungen in einer zukünftigen „klassenlosen“ Gesellschaft, sondern eher um den starken Beigeschmack moralistischer Verurteilung der heutigen Frauen und Männer der Arbeiterklasse. Die Kirche befiehlt: Kein Sex vor oder außerhalb der Ehe! Die Spartacist League befiehlt: Keine Ehe vor oder nach dem Sex! Ich war ein wenig erleichtert, in der folgenden Ausgabe das Zitat der bolschewistischen Führerin Alexandra Kollontai und euren Kommentar dazu zu lesen („Communism and the Family“, Workers Vanguard, 7. März 2014). Es hat mich auch sehr gefreut, dass ihr die Front hinsichtlich der Diaoyu/Senkaku-Inseln begradigt habt.

Genossenschafliche Grüße,

Ein Leser

[Anmerkung der Redaktion: Sämtliche Klammern und Auslassungen stammen vom Autor]

Antwort:

Es stimmt, dass Engels „die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“ mit dem Sturz des Mutterrechts (des Brauchs, Abstammung von der mütterlichen Linie herzuleiten) gleichsetzte. Das Ende der matrilinearen Gesellschaft zur Zeit prähistorischer Kulturen war Teil eines Prozesses, der mit dem Aufstieg und der Konsolidierung des Privateigentums einherging und in dessen Verlauf die patriarchalische, monogame Familie zur Norm wurde.

In dem Abschnitt aus Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), den unser Leser zitiert, unterscheidet Friedrich Engels zwischen der bürgerlichen Familie – dem Mechanismus, durch den der Reichtum an den Nachwuchs weitergegeben wird – und der proletarischen Familie. Für Werktätige, die ihren Kindern nichts zu vererben haben, hat die Familie eine andere Funktion. Insbesondere bürdet diese Institution den Frauen die Last der häuslichen Plackerei auf, die nächste Generation von Arbeitssklaven aufzuziehen und sich um die Alten und Schwachen zu kümmern. Wie Engels sagte: „Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offne oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien aus ihren Molekülen sich zusammensetzt.“ Die Familie agiert auch als eine gesellschaftlich konservativ wirkende Kraft, die religiöse Sitten, Geschlechterrollen und Gehorsam vor Autoritäten einimpft.

Unser Leser ließ es zwar aus der langen von ihm zitierten Passage raus, aber Engels ging darin auf Veränderungen in der Arbeiterfamilie ein, „seitdem die große Industrie die Frau aus dem Hause auf den Arbeitsmarkt und in die Fabrik versetzt hat und sie oft genug zur Ernährerin der Familie macht“. Jedoch schuf diese Entwicklung, die an der Grundlage männlicher Dominanz rüttelte, ein Dilemma. So wies Engels darauf hin, dass, wenn die Frau „ihre Pflichten im Privatdienst der Familie erfüllt, sie von der öffentlichen Produktion ausgeschlossen bleibt und nichts erwerben kann; und dass, wenn sie sich an der öffentlichen Industrie beteiligen und selbständig erwerben will, sie außerstand ist, Familienpflichten zu erfüllen.“

Die Institution Familie führt das Geld in sexuelle Beziehungen ein, auch in fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften, wo rückständige Praktiken wie Mitgift und Brautpreis nicht so üblich sind wie anderswo. In den USA bekommt man durch eine gesetzlich anerkannte Ehe bestimmte Privilegien wie medizinische Leistungen, Steuernachlässe, Besuchsrechte, Sorgerecht für Kinder und Einwanderungspapiere. Für eine arme oder arbeitende Frau kann das Einkommen des Ehemanns den Unterschied ausmachen: Hat sie genug Geld, um ihre Kinder aufzuziehen oder landet sie auf der Straße? Kurz gesagt, Frauen, die sich „für eine Ehe entscheiden“, sind dazu oft aus wirtschaftlichem Zwang oder unter gesellschaftlichem Druck oder zur Erlangung ihrer Rechte genötigt.

Genau deshalb ziehen wir in dem Satz, den unser Leser beanstandet, eine Parallele zwischen Ehe und Prostitution. August Bebel, einer der ersten deutschen marxistischen Führer, erklärte in seinem Werk Die Frau und der Sozialismus (1879): „Die Ehe stellt eine Seite des Geschlechtslebens der bürgerlichen Welt dar, die Prostitution die andere.“ In der bürgerlichen Gesellschaft wird Ehe als moralisch und Prostitution als unmoralisch angesehen; doch in beiden Fällen findet ein sexueller/wirtschaftlicher Austausch statt.

Wir verurteilen niemanden, der heiratet. Und ebenso wenig verurteilen wir Frauen, die ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf sexueller Gefälligkeiten verdienen oder Männer, die ihre Kunden sind. Unsere feste Überzeugung als Marxisten ist, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Menschen niemanden sonst etwas angehen. Unser Ziel ist der Sturz des kapitalistischen Profitsystems durch das Proletariat, damit die Gesellschaft entsprechend der menschlichen Bedürfnisse organisiert werden kann. Dann wird die Hausarbeit, die heute auf den Schultern der Frau lastet, kollektiv als Verantwortung der gesamten Gesellschaft organisiert werden, was den Frauen die Freiheit gibt, vollständig am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben teilzunehmen. Diese Perspektive übernehmen wir von den Bolschewiki, die nach der Oktoberrevolution 1917 Maßnahmen ergriffen, um die ökonomischen und sozialen Zwänge abzuschaffen, die Menschen bei ihrer Entscheidung für eine Heirat beeinflussen.

Engels schlussfolgerte: „Die volle Freiheit der Eheschließung kann also erst dann allgemein durchgeführt werden, wenn die Beseitigung der kapitalistischen Produktion und der durch sie geschaffenen Eigentumsverhältnisse alle die ökonomischen Nebenabsichten entfernt hat, die jetzt noch einen so mächtigen Einfluss auf die Gattenwahl ausüben. Dann bleibt eben kein anderes Motiv mehr als die gegenseitige Zuneigung.“