Spartakist Nr. 201

Januar 2014

 

Mittelmeer: Massengrab für Flüchtlinge

„Festung Europa“ bedeutet rassistischen Mord

Nieder mit EU und deutschem Imperialismus! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

Der folgende Artikel wurde von unseren Genossen der Lega trotskista d’Italia, Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga, geschrieben und erschien zuerst in Workers Vanguard Nr. 1034 (15. November), Zeitung der Spartacist League/U.S.

Am 3. Oktober geriet ein Boot mit über 500 Flüchtlingen, viele davon aus Eritrea, Äthiopien und Somalia, in Brand und kenterte wenige hundert Meter vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa. Insgesamt 366 Leichen wurden schließlich gefunden und weitere werden noch vermisst. Nur 155 Menschen überlebten. Denjenigen, die sich im Laderaum befanden, überwiegend Frauen und Kindern, war nicht einmal der Versuch einer Flucht vergönnt. Die Leiche einer jungen Mutter wurde mit ihrem Neugeborenen gefunden, mit dem sie noch durch die Nabelschnur verbunden war. Dies war die grauenhafteste Tragödie im Mittelmeer seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es gab mehr Todesopfer als im Dezember 1996 bei dem Untergang von mindestens 283 Männern, Frauen und Kindern zumeist pakistanischer Herkunft in den Gewässern vor dem sizilianischen Portopalo.

Das Massensterben vor Lampedusa löste bei italienischen kapitalistischen Politikern eine Mischung aus Krokodilstränen und rassistischem Zynismus aus. Premierminister Enrico Letta von der Demokratischen Partei (PD) und Innenminister Angelino Alfano von Silvio Berlusconis rechtsgerichteter Partei „Volk der Freiheit“ besuchten zusammen mit dem Präsidenten der Europäischen Union Jose Manuel Barroso Lampedusa, um vor den Särgen der Opfer niederzuknien. Von der Regierung über die katholische Kirche bis hin zur parlamentarischen Opposition von der Partei Linke Ökologie Freiheit versammelten sich alle zu einer Inszenierung, um die Katastrophe zu verurteilen und, in den Worten Lettas, zu schwören: „Keine weiteren Lampedusas mehr“.

Aber nur acht Tage später am 11. Oktober sank 100 Kilometer südlich von Lampedusa ein weiteres Boot, das mindestens 480 syrische Flüchtlinge (und Berichten zufolge 100 im Laderaum eingeschlossene Immigranten aus Subsahara-Afrika) an Bord hatte, wobei 268 Menschen starben. Das Boot war durch Beschuss eines libyschen Küstenwachbootes beschädigt worden, und an Bord befindliche Personen hatten verzweifelt versucht, italienische Behörden telefonisch um Hilfe zu bitten. Dieser Wunsch wurde ein ums andere Mal abgeschlagen. Mit der Auskunft, man solle doch stattdessen mit der maltesischen Marine Verbindung aufnehmen, wurden sie dem Tod preisgegeben. Erst sechs Stunden nach dem ersten SOS-Ruf, als das Schiff bereits gekentert war, kam ein Hubschrauber aus Malta an.

Alle, die vor Lampedusa starben, wurden ermordet, und schuld daran ist die Flut an bösartigen immigrantenfeindlichen Gesetzen, die von italienischen Regierungen, ob Mitte-links oder Mitte-rechts, und der EU durchgesetzt wurden. Einstweilen werden die Überlebenden wegen „illegaler“ Einwanderung im Identifikations- und Ausweisungszentrum von Lampedusa festgehalten. In den letzten zwei Jahrzehnten haben im Süden Europas rassistische Gesetze, Stacheldrahtzäune und Internierungslager massiv zugenommen, wie auch zur Bewachung der Grenzen der „Festung Europa“ abgestellte Streitkräfte. Die Zahl der Internierungslager für Immigranten entlang der südlichen und östlichen Grenzen der EU erhöhte sich von 324 im Jahre 1999 auf 473 im Jahre 2011, davon 13 in Italien. Diese Zahlen beinhalten nicht die vielen inoffiziellen Internierungslager von Schiffskabinen bis zu Polizeistationen.

Bürgerliche Presse und Politiker beschuldigten anfangs örtliche Fischer, die Schiffbruchsopfer nicht gerettet zu haben, und einige Überlebende erklärten, drei Fischerboote hätten von ihrem brennenden Schiff abgedreht. Später beschuldigten einige der Retter die örtliche Hafenbehörde, die Capitaneria di Porto. Vito Fiorino, der in dieser Nacht auf seinem Boot schlief und als Erster die verzweifelten Schreie der Opfer hörte, erzählte Corriere della Sera (5. Oktober):

„Während wir mit allen Kräften versuchten, so viele Menschen wie möglich an Bord zu ziehen, machte die Besatzung des Schiffs der Capitaneria Fotos und Videos... Wir zogen immer vier Leute gleichzeitig aus dem Wasser. Als unser Schiff zu überfüllt war und wir zu sinken drohten, baten wir die Capitaneria, sie auf ihr Schiff zu übernehmen, damit wir mit der Rettungsaktion weitermachen konnten. Stattdessen erklärten sie uns, sie könnten sie aus protokollarischen Gründen nicht übernehmen. Es ist unglaublich.“

Das internationale Seerecht verpflichtet Schiffe, auch Kriegsschiffe, auf Notrufe in der Nähe liegender Schiffe zu reagieren und, wenn möglich, Menschen zu retten. In Italien jedoch benötigen sie zuerst eine Genehmigung der Hafenbehörden, um nicht nach einem 2002 von Umberto Bossi und Gianfranco Fini, ultrarechten Ministern der Berlusconi-Regierung, durchgepeitschten Gesetz belangt zu werden. Dieses Gesetz machte „illegale“ Einwanderung zu einer Straftat.

Mittelmeer: Friedhof auf offener See

Früher waren Handelsschiffe angewiesen, von ihnen gerettete Flüchtlinge nach Malta oder Libyen zu bringen, Länder, die für ihre Misshandlung von Immigranten in Internierungslagern berüchtigt sind. Dies hielt Handelsschiffe davon ab, auf Notrufe zu reagieren. Fischereischiffe, die Immigranten gerettet hatten, wurden von den Hafenbehörden beschlagnahmt, die gegen ihre Besatzungen Ermittlungen anstellten, was den Ausfall von wochenlanger Arbeit während der Fangsaison zur Folge hatte. Einige Besatzungen wurden sogar gerichtlich belangt und eingesperrt. 2004 wurden drei Arbeiter des Flüchtlingsrettungsschiffs Cap Anamur vor Gericht gestellt, weil sie 37 Immigranten gerettet und in einen italienischen Hafen gebracht hatten. Im August 2007 wurden sieben tunesische Fischer, die 44 Menschen aus einem sinkenden Boot vor Lampedusa gerettet hatten, 32 Tage lang eingesperrt. Im September 2011 erklärte die italienische Regierung, dass der Hafen von Lampedusa als Bestimmungsziel für auf See gerettete Flüchtlinge unsicher sei, und machte es für Rettungsaktionen bindend, die 200 Kilometer weiter nördlich gelegene sizilianische Küste anzulaufen.

Jetzt benutzen Regierung und EU die Todesopfer von Lampedusa dazu, die rassistische Überwachung des Mittelmeeres noch weiter zu intensivieren. Am 14. Oktober verkündete die Regierung den Beginn der Operation „Mare Nostrum“ (der lateinische Ausdruck, den nationalistische Revanchisten und Faschisten Anfang des 20. Jahrhunderts dazu benutzt hatten, ihren Traum eines italienischen Mittelmeerreichs zu benennen). Der Plan hat zum Ziel, durch die Stationierung von Kriegsschiffen, Amphibienbooten, Drohnen und Hubschraubern mit Infrarot- und optischer Ausrüstung die italienischen Streitkräfte im zentralen Mittelmeerraum zu verdreifachen.

Bürgerliche Politiker forderten auf Mahnwachen in Rom und Brüssel, Italien mit dem „Problem“ afrikanischer Immigranten nicht allein zu lassen. Natürlich antwortete die EU auf ihre Gebete mit der Freigabe von Geld zur Verstärkung der Frontex-Operation, eines europaweiten Überwachungssystems, dessen Ziel es ist, die Zahl der nach Europa kommenden Immigranten zu verringern und „grenzüberschreitende Kriminalität“ zu verhindern. Der 2004 gegründeten Frontex gehören auch afrikanische Streitkräfte an, die in den Hoheitsgewässern Ägyptens, Libyens, Tunesiens, Marokkos, Mauretaniens und des Senegal patrouillieren. Eine weitere Verstärkung von Frontex bedeutet noch mehr Tote auf See, da die Fluchtrouten länger und gefährlicher werden.

Seitdem die Länder Südeuropas begonnen haben Arbeitsimmigranten ins Land zu holen, wurde das Mittelmeer zum Friedhof auf offener See. Niemand kann genau sagen, wieviele Immigranten vom Meer verschlungen wurden, doch Schätzungen belaufen sich auf fast 20 000 in den letzten 25 Jahren, die bei dem Versuch umgekommen sind, Europa zu erreichen, nachdem sie vor politischer, religiöser und ethnischer Verfolgung oder schlichtweg vor dem Verhungern geflohen waren. Ein berüchtigter Fall war der der Kater I Rades, eines Schiffes, das 1997 während der politischen Unruhen in Albanien von dort ausgelaufen war. Das Schiff wurde von dem italienischen Kriegsschiff Sibilla gerammt und versenkt, wobei 81 Menschen getötet wurden. Damals wurde Italien von Romano Prodis Olivenbaum-Volksfrontregierung regiert, die von der reformistischen Rifondazione Comunista (RC) unterstützt wurde.

Allein im Jahr 2011 starben im Gefolge des sogenannten „Arabischen Frühlings“ und des mörderischen NATO-Bombardements gegen Gaddafis Libyen 1500 Menschen auf See. Im März jenes Jahres wurde ein Schiff mit 72 Flüchtlingen aus Libyen sich selbst überlassen. Es trieb mehr als zwei Wochen lang auf See, obwohl seine Position den europäischen Behörden mitgeteilt worden war und NATO-Schiffe und -Kampfflugzeuge jeden Zentimeter des Golfs von Sirte und des Kanals von Sizilien überwachten. 63 Menschen verhungerten und verdursteten, und nur neun Überlebende blieben übrig, die über ihre Qualen berichten konnten.

Immer wieder fordern Auswanderungsversuche von Menschen aus Nord- und Subsahara-Afrika Todesopfer. Ende Oktober wurden in der Wüste des nördlichen Niger 87 verdurstete Immigranten gefunden, deren Fahrzeug liegengeblieben war. Vier Monate vorher waren ein Dutzend sudanesische Immigranten von libyschen Grenzwachen erschossen worden.

Kolonialismus und Rassismus: Blutsverwandte des „humanitären“ Imperialismus

Die Flüchtlinge, die vor Lampedusa starben, stammten in der Mehrzahl vom Horn von Afrika und waren von der libyschen Küste ausgelaufen – eine Route, die die meisten Länder kreuzt, die die historischen Opfer des italienischen Imperialismus waren. Italien hatte es am Ende des 19. Jahrhunderts teilweise geschafft, in Ostafrika Kolonien zu errichten, und kolonisierte 1911 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches Libyen. Unter Mussolinis faschistischem Regime gelang es der italienischen Bourgeoisie über die Leichname von 500 000 Libyern und Äthiopiern hinweg ihr Reich „zurückzuerobern“. Die Geschichte des italienischen Kolonialismus in diesen Ländern ist voll von Gräueltaten: die Bombardierung von Dörfern; der massenhafte Einsatz von Chemiewaffen wie Senfgas, Phosgen und Arsin; d Konzentrationslager wurden errichtet und die Hälfte der Bevölkerung Ostlibyens dem Hungertod ausgeliefert.

Heutzutage ummänteln kapitalistische Politiker ihre Ziele gerne mit „Menschenrechts“-Phrasen. Doch das einzige Recht, das sie anerkennen, ist ihr eigenes Recht auf Ausbeutung und Plünderung der Märkte und der riesigen Mengen an Öl, Gas und anderen Rohstoffen in afrikanischen Ländern. Vor dem imperialistischen Angriff auf Libyen 2011 importierte Italien 25 Prozent seines Erdöls und 13 Prozent seines Erdgases aus diesem Land, in dem die größten italienischen Unternehmen starke Beteiligungen hatten.

Laura Boldrini von der Partei Linke Ökologie Freiheit, Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer und ehemalige Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR), wurde der Ehrentitel „Engel der Flüchtlinge“ verliehen. Zwar verlangte sie, Immigration nicht als Straftat zu behandeln, doch auch Boldrini lobte die italienische Marine, Küstenwache und andere Agenturen des Staates für ihre angeblich „beispiellosen Bemühungen zur Rettung von Menschenleben“. Darüber hinaus rief sie die EU-Staaten dazu auf, sowohl die „Seeüberwachung und -rettung“ als auch ihre Bemühungen zur Förderung einer „Demokratisierung“ in den Herkunftsländern der Immigranten zu verstärken. Solche in die üblichen „humanitären“ Floskeln verpackten Vorschläge bedeuten eine Verstärkung genau der imperialistischen Institutionen, die jahrzehntelang Militärinterventionen und rassistische Unterdrückung betrieben und versucht haben, die nordafrikanischen Staaten zu EU-Grenzwächtern zu machen.

2006 prangerte Human Rights Watch die Gaddafi-Regierung wegen der Durchführung willkürlicher Inhaftierungen und der Folter von Ausländern in Gefangenenlagern an, wobei drei Lager von Italien finanziert waren. Die italienische reformistische Linke hatte die Berlusconi-Regierung wegen bilateraler Abkommen mit dem Gaddafi-Regime zur polizeilichen Kontrolle der Einwanderung scharf kritisiert. Sie vergaßen aber hinzuzufügen, dass Berlusconi nur frühere Abkommen umsetzte, die im Dezember 2007 von der zweiten Prodi-Regierung beschlossen worden waren, der der RC-Sekretär Paolo Ferrero als Minister angehört hatte.

Die kapitalistische Regierung von Luis Zapateros Sozialistischer Partei in Spanien war nicht besser. Ende April 2008 versenkte ein Schiff der spanischen Marine nachts vor dem marokkanischen Al Hoceima ein Boot mit Immigranten aus der Subsahara und tötete mindestens 29. Die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko sind von einem sechs Meter hohen, von der EU mitfinanzierten, doppelten NATO-Drahtzaun umgeben. Im Sommer 2005 wurde ein Versuch Hunderter Männer, die Zäune zu überwinden, durch Gewehrfeuer der Guardia Civil und ihrer marokkanischen Hilfstruppen zurückgeschlagen, wobei Schätzungen zufolge 13 Menschen getötet, 100 verletzt wurden.

Der italienische Ministerpräsident Letta beschuldigt jetzt die neuen libyschen Machthaber, ihre Grenzen nicht ordentlich unter Kontrolle zu halten. Der Grund dafür ist aber gewiss nicht, dass sich das libysche Regime mit der Notlage schwarzafrikanischer Immigranten solidarisieren würde. Die proimperialistische Marionettenregierung, die aus der Bombardierung durch die NATO hervorging, versprach, die bestehenden Vereinbarungen mit Italien und der EU über die Unterdrückung der Immigranten aus Subsahara-Afrika und ihre Inhaftierung in Wüstenlagern einzuhalten.

Unmittelbar nach seiner Machtübernahme erklärte der libysche Ministerpräsident Mahmud Dschibril, dass er die gemeinsamen Küstenpatrouillen seines Landes mit Italien „begrüße und unterstütze“ und beschuldigte „illegale Einwanderer“, „Krankheiten zu verbreiten und Zusammenstöße mit libyschen Bürgern zu provozieren“. Im August 2011 führten „revolutionäre“ Milizen aus Misurata ethnische Säuberungen in der Stadt Tawergha durch, deren 30 000 Einwohner, zumeist von schwarzen Sklaven abstammende libysche Staatsbürger, wegen angeblicher Unterstützung der Gaddafi-Regierung aus ihren Häusern vertrieben wurden. Viele flohen in die Wüste Zentrallibyens. Tausende landeten in Flüchtlingslagern in der Nähe von Tripoli, wo sie von den Milizen unablässig drangsaliert wurden. Das ist die Sorte von reaktionären Milizen, die von der pseudotrotzkistischen Partito di Alternativa Comunista, italienischer Ableger der morenistischen International Workers League-Fourth International, als „proletarische bewaffnete Komitees“ verklärt und dazu aufgerufen wurden, unmittelbar die Macht zu übernehmen.

Die Arbeiterbewegung muss gegen rassistische Einwanderungsgesetze eintreten

Die Letta-Regierung versprach makabererweise, allen, die beim Schiffbruch vor Lampedusa starben, die italienische Staatsbürgerschaft sowie ein Staatsbegräbnis zu bewilligen. In Agrigento auf Sizilien wurde in Gegenwart von italienischen und eritreischen Behördenvertretern eine Begräbnisfeier abgehalten, aber ohne die Särge der Opfer und in Abwesenheit der Überlebenden, denen man die Teilnahme nicht gestattete. Familien der Flüchtlinge protestierten gegen den Ausschluss und die bedrohliche Anwesenheit von Amtspersonen aus Eritrea, von wo viele der Flüchtlinge entkommen waren, und örtliche antifaschistische Aktivisten Innenminister Angelino Alfano mit Sprechchören „Bossi-Fini-Mördergesetz“ jagten.

Italien wird seit zwei Jahren von Regierungen der „nationalen Einheit“ regiert, die von der kapitalistischen Demokratischen Partei und der Partei Volk der Freiheit unterstützt werden, wobei die Führer der wichtigsten Gewerkschaftsverbände mitspielen, indem sie sich weigern, jeglichen Klassenkampf zu führen. Finanzinstitutionen und die EU-Herren haben diesen Regierungen auferlegt, die Sozialleistungen zusammenzustreichen und die Löhne und Renten zu kürzen, damit die Schulden an italienische und ausländische Banken zurückgezahlt werden können. Kahlschlagsmaßnahmen haben die Arbeiterklasse schwer getroffen, insbesondere die Millionen von eingewanderten Arbeitern. Die rassistische Unterdrückung von Immigranten in Italien wird versinnbildlicht durch das Bossi-Fini-Gesetz. Dazu zählt die Koppelung der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung an einen Arbeitsvertrag, was eingewanderte Arbeiter für Erpressung jeglicher Art durch die Bosse anfällig macht.

Nach der Tragödie von Lampedusa haben Teile der PD und ihre Verbündeten von der Partei Linke Ökologie Freiheit die Aufhebung der anstößigsten Teile des Bossi-Fini-Gesetzes oder sogar seine komplette Abschaffung verlangt. PD-Integrationsministerin Cecile Kyenge, die erste nicht-weiße Ministerin in der Geschichte des Landes, schlug ein Gesetz vor, das es in Italien geborenen Immigrantenkindern erleichtern soll, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Daraufhin und ganz einfach deshalb, weil sie eine Schwarze ist, wurde Kyenge Opfer einer Welle widerlicher rassistischer Angriffe rechtsextremen Abschaums der Lega Nord und unverhohlen faschistischer Gruppen wie Forza Nuova, die mit Bananen nach ihr warfen und in einer Stadt, in der sie reden sollte, Henkersstricke aufhängten.

Bisher richtet sich die italienische Staatsbürgerschaft nach dem Abstammungsprinzip („ius sanguinis“, d. h. Blutrecht), das jedem in den USA, Argentinien oder anderswo automatisch die Staatsbürgerschaft verleiht, der einen männlichen Vorfahr hat, der nach 1861 als italienischer Staatsbürger gestorben ist, also nachdem das ehemalige Königreich gegründet wurde. Nutznießer sind auch die Abkömmlinge von Italienern, die in den vom faschistischen Italien besetzten Gebieten des ehemaligen Jugoslawien lebten. Änderungsvorschläge, die zum Einwanderungsgesetz gemacht wurden, sind nur kosmetischer Art. Sie würden am System der Internierungslager festhalten, aber die Höchstaufenthaltsdauer auf weniger als die gegenwärtigen achtzehn Monate verringern, und würden illegale Einwanderung zu einer Ordnungswidrigkeit machen, um die Überfüllung der Gefängnisse und die Überlastung der Gerichte zu verhindern und gleichzeitig Polizeikräfte für den Streifendienst auf der Straße freizusetzen.

Zwei Abgeordnete der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung brachten einen Änderungsantrag zur Abschaffung des Straftatbestands der illegalen Einwanderung ein, der sich in einem Parlamentsausschuss des Oberhauses durchsetzte. Jedoch gaben die Fünf-Sterne-Gurus Beppe Grillo und Gianroberto Casaleggio auf Grillos Blog eine widerliche Erklärung heraus, in der sie wetterten: „Dieser Änderungsantrag ist de facto eine Einladung an Auswanderer aus Afrika und dem Mittleren Osten, sich nach Italien auf den Weg zu machen... Lampedusa steht vor dem Kollaps, und Italien geht es nicht besonders gut. Wieviele illegale Einwanderer können wir noch aufnehmen, wenn einer von acht Italienern nicht genug Geld für Essen hat?“

Die Lega trotskista d’Italia, Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga (Vierte Internationalisten), fordert die Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes und volle Staatsbürgerrechte für jeden, der auf italienischem Boden lebt, ohne irgendwelche Einschränkungen. Wir fordern: Schließt die Internierungslager! Keine Abschiebungen! Nur die Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes zu fordern, hat nichts mit Bürgerrechten zu tun. Würde es annulliert, so wäre dies de facto eine Rückkehr zur vorhergehenden Gesetzgebung, dem Turco-Napolitano-Gesetz. Dieses wurde 1998 unter der Prodi-Regierung mit Stimmen von RC beschlossen und bildet den grundlegenden Rahmen für alle nachfolgenden Immigrationsgesetze: Abschiebungen, Internierungslager, Haft und Aberkennung der Bürgerrechte. Der Hauptunterschied ist seit jeher, dass Volksfrontregierungen ihre rassistischen Gesetze in „humanitäre“ Phrasen einkleiden, während sich die Rechte in ungehemmtem und bösartigem Rassismus ergeht.

Beide bürgerlichen Kräfte haben die Einwanderung im Interesse des italienischen Kapitalismus geregelt, der billigere Arbeitskräfte benötigt, die leicht erpressbar sind und derer man sich im Falle eines wirtschaftlichen Abschwungs entledigen kann. Die zweite Prodi-Koalitionsregierung, an der auch RC beteiligt war, hat nie auch nur in Erwägung gezogen, das Bossi-Fini-Gesetz zu ändern. „Linke“ bürgerliche Regierungen haben sich keineswegs gescheut, Immigranten als Sündenböcke für wachsendes Elend zu benutzen. 2007 führte die Prodi-Regierung eine üble Kampagne gegen Roma und rumänische Immigranten durch, um klarzustellen, dass diese zwar EU-Bürger sind, aber vor dem Gesetz und auch in der Praxis nicht gleich behandelt werden.

Die Arbeiterbewegung muss sich für die Verteidigung der Immigranten einsetzen und für die gewerkschaftliche Organisierung eingewanderter Arbeiter kämpfen, die von den Caporali (Aufsehern) auf den Feldern Süditaliens und von Zeitarbeitsfirmen im Norden brutal ausgebeutet werden. Dies erfordert eine klassenkämpferische Führung der Gewerkschaften anstelle der gegenwärtigen prokapitalistischen Gewerkschaftsbürokraten, die zumeist mit der PD und ihren reformistischen Anhängseln verbunden sind, deren Ziel es ist, im Sattel einer kapitalistischen Regierung zu sitzen. Nach einem Jahrzehnt der Regierung von Linke Ökologie Freiheit in Apulien ist die Region immer noch ein Zentrum brutaler Ausbeutung eingewanderter Arbeiter in der Agrarindustrie und bei Projekten der „alternativen Energien“. Um mit Diskriminierung und Schikanierung von Immigranten Schluss zu machen, ist der proletarische Sturz des kapitalistischen Ausbeutungssystems notwendig, bei dem rassistische Unterdrückung als wesentlicher Bestandteil dazugehört.