Spartakist Nr. 200

Oktober 2013

 

Frauen und Revolution

Ägypten: Für Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!

Teil I: Das Erbe kolonialer Unterjochung

Der folgende Artikel erschien unter dem Kopf „Women and Revolution“ (Frauen und Revolution) in Workers Vanguard Nr. 1027 (12. Juli 2013), Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S.

Das Bild ging im Dezember 2011 um die ganze Welt: Eine junge Frau, die Kleider zerrissen, so dass ihr blauer BH zu sehen war, wurde von Schlägern des Militärs geprügelt und getreten und über Kairos Tahrir-Platz geschleift. Das war ein krasses Symbol für die Erniedrigung der Frauen in Ägypten, deren Unterdrückung seit langem gesetzlich verankert ist und auch durch Sitten und Bräuche, wie z. B. die Absonderung, erzwungen wird.

Die Massenerhebung gegen das von den USA unterstützte Regime Hosni Mubaraks, dessen Herrschaft sich in hohem Maße auf das Militär stützte, warf wiederholt ein Schlaglicht auf die elende Stellung der Frauen. Unter den Millionen Demonstranten aus praktisch allen Klassen der Gesellschaft, die den Polizeigeschossen trotzten und bei den Massenprotesten im Januar 2011 auf die Straße gingen, waren oftmals Frauen. Die Demonstranten waren getrieben von Armut und einem ungeheuren Verlangen, die diktatorische Herrschaft und die in der ägyptischen kapitalistischen Gesellschaft tief verankerte vielseitige Unterdrückung abzuwerfen. Ihre Anwesenheit forderte die traditionelle, erstickende patriarchalische Ordnung heraus und Militär, Polizei sowie islamistischer Mob antworteten mit intensiver Unterdrückung. Die Proteste führten zur Vertreibung des verhassten Mubarak. Doch die politischen Führungen der Proteste – von bürgerlichen Liberalen und Nationalisten bis (später) zur Muslimbruderschaft – hatten nur eine andere Version kapitalistischer Klassendiktatur über Arbeiter, Arme, Frauen und alle Unterdrückten anzubieten.

Im März 2011, einen Monat nach Mubaraks Sturz, griffen in Kairo brutale Schläger unter Rufen wie „das Volk will die Frauen stürzen“ und „der Koran ist unser Herrscher“ eine Demonstration zum Internationalen Frauentag an und verkündeten den Versammelten: „Das ist gegen den Islam“ und „Geht nach Hause, Wäsche waschen“. In einem Akt kalkulierter Demütigung zwang das Militär Frauen, die am nächsten Tag bei einem Protest festgenommen wurden, sich einem „Jungfräulichkeitstest“ zu unterziehen.

Mubarak wurde rasch durch die direkte Herrschaft des Militärs, den Obersten Militärrat (SCAF), ersetzt. Doch in den Präsidentschaftswahlen vom Juni 2012 gewann Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft gegen den vom SCAF ausgewählten Kandidaten Ahmed Schafik. Im Austausch für den Schutz der lukrativen wirtschaftlichen Privilegien des Oberkommandos sicherte sich Mursi in einem Versuch, seine Position als Präsident zu festigen, den Rücktritt hoher SCAF-Führer. Jetzt hat ihn das Militär entmachtet und ist erneut direkt an der Macht, ein Versuch, sozialen Frieden zu erzwingen.

Die Peitsche des politischen Islam

Frauen würden unmittelbar die Peitsche des politischen Islam an der Macht zu spüren bekommen. Im vergangenen Jahr brachten salafistische Hardliner und andere Islamisten in einem unheilverkündenden Vorzeichen dessen, was die Islamisten vorhaben, Gesetzentwürfe im Parlament ein, um das (in der Praxis ignorierte) Gesetz gegen den grauenhaften Brauch weiblicher Genitalverstümmelung abzuschaffen, das begrenzte Recht der Frauen auf Ehescheidung zurückzunehmen und das heiratsfähige Alter für Mädchen auf 14 Jahre herunterzusetzen. Im Regierungsfernsehen erschienen nun Ansagerinnen mit Kopftuch, ein Bruch mit den Jahrzehnte lang geltenden säkularen Bekleidungsregeln. Trotz heftiger Proteste im November und Dezember boxte Mursi eine neue Verfassung durch, die den Islam als Staatsreligion festigt und die wenigen den Frauen formal zugestandenen Rechte der Scharia (islamisches Recht) unterordnet. Islamistische Geistliche treten regelmäßig im Fernsehen auf und verlangen, dass die Schleierpflicht für Frauen und das Alkoholverbot von einer Religionspolizei durchgesetzt werden sollen. Derweil gibt es weiterhin ungestraft sexuelle Übergriffe, insbesondere auf Demonstrantinnen. Geistliche beschimpfen Frauen, die zum Tahrir-Platz unterwegs sind, als: „Teufel … [sie] gehen dorthin, um vergewaltigt zu werden.“

Diese harschen Fakten sollten genügen, um den politischen Bankrott jener reformistischen „Sozialisten“ in Ägypten und weltweit zu offenbaren, die die Anti-Mubarak-Erhebung als eine Revolution darstellten. Wie in Tunesien und anderswo war das, was im „Arabischen Frühling“ in Ägypten stattfand, keine Revolution. Die Repressionsorgane des kapitalistischen Staates, vor allem das Militär und die Polizei, blieben intakt. Die sowieso schon verzweifelten materiellen Lebensbedingungen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung haben sich im Laufe des vergangenen Jahres tatsächlich noch verschlechtert, Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit steigen weiter an. Zwar spielen die letzten beiden Jahre des sozialen Aufruhrs bei den wirtschaftlichen Verwerfungen in Ägypten eine große Rolle, aber die Werktätigen sind auch definitiv nicht verschont geblieben von den Auswirkungen der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, die zu brutalen Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiter weltweit führte.

Während Mursi den Griff der islamischen Reaktion fester zog, signalisierte er gleichzeitig seine Absicht, wieder „Stabilität“ herzustellen, um ein Klima zu fördern, das kapitalistischen Profiten zuträglich ist. „Seit Mursi im Amt ist“, schrieb der Nahost-Historiker Joel Beinin, „haben physische und rechtliche Angriffe auf Gewerkschaftsaktivisten zugenommen. Hunderte Arbeiter wurden wegen gewerkschaftlicher Betätigung gefeuert, und viele andere wurden von Schlägern verprügelt“ (Middle East Report and Information Project, 18. Januar). Neben der staatlichen Repression versuchten die Islamisten, die Gewerkschaften unter ihre Kontrolle zu bekommen, indem sie ihre eigenen Mitglieder in die Führungen einschleusten, auch in viele der Gewerkschaften, die unter Mubarak korporatistische Bindungen zum Staat hatten. Und es zeichnen sich noch mehr Angriffe auf die Werktätigen und die Armen ab, denn die Regierung, die bereits mehr als 1 Milliarde Dollar US-Hilfe jährlich bekommt, beantragte beim Internationalen Währungsfonds einen 4,8-Milliarden-Dollar-Kredit auf Grundlage eines Austeritätsprogramms.

Was in Ägypten geschieht, mit seinen mehr als 90 Millionen Menschen der bevölkerungsreichste arabische Staat, hat Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten. In einer Region, die aus künstlichen Gebilden besteht, die die imperialistischen Mächte aus dem Kadaver des Osmanischen Reiches herausgeschnitten haben, ist Ägypten das einzige Land, das über die Jahrtausende hinweg eine eigene historische Identität bewahrt hat. Ägypten ist das gesellschaftliche, politische und kulturelle Zentrum der arabischen Welt und auch Geburtstätte ihrer charakteristischen Weltanschauungen. Der panarabische Nationalismus wurde in Ägypten unter Oberst Gamal Abdel Nasser auf die Probe gestellt. Die Muslimbruderschaft, die erste Massenbewegung, die sich der Schaffung eines islamischen Staates verschrieben hat und Ursprung islamistischer Bewegungen von Nordafrika bis Südostasien ist, startete ebenfalls in Ägypten.

Entwicklungen in Ägypten werden weitreichende Folgen für den gesamten Rest der muslimischen Welt haben. Aber im Rahmen kapitalistischer Klassenherrschaft ist für die Arbeiterklasse und die Unterdrückten, die unter der Herrschaft der Islamisten leiden, die einzige Alternative die trostlose Aussicht auf die Rückkehr einer bonapartistischen Militärherrschaft. Der revolutionäre Marxismus eröffnet eine andere Perspektive, basierend darauf, dass die Arbeiterklasse das Potenzial hat, die kapitalistische Herrschaft ein für alle Mal zu begraben. Das ägyptische Proletariat hat eine lange Geschichte militanter Kämpfe. In den Jahren vor Mubaraks Sturz kam es zu einer Streikwelle, die Beinin als „die größte soziale Bewegung, die Ägypten in mehr als einem halben Jahrhundert erlebt hat“ beschreibt („The Struggle for Worker Rights in Egypt“ [Der Kampf für Arbeiterrechte in Ägypten], solidaritycenter.org, Februar 2010). Doch diese Streiks beschränkten sich auf wirtschaftliche Teilforderungen, und die Arbeiterklasse bleibt weiterhin politisch atomisiert und bürgerlichen politischen Kräften untergeordnet.

Wie wir vom Beginn des „Arabischen Frühlings“ an betonten, ist es notwendig, dass die Arbeiterklasse in Tunesien, Ägypten und anderswo im Kampf gegen alle bürgerlichen Kräfte – Imperialisten, säkulare Nationalisten, politische Islamisten – unter ihrem eigenen Banner als Vorkämpferin aller Ausgebeuteten und Unterdrückten auf den Plan tritt. Dies erfordert die Führung proletarischer Avantgardeparteien mit einem Programm, das die tagtäglichen Kämpfe der Arbeiter zum Sturz der kapitalistischen Ordnung hinführen kann, als Teil des Kampfes für sozialistische Weltrevolution.

Koloniale Unterjochung …

Die Tatsache, dass uralte Praktiken, mit denen Frauen abscheulich unterdrückt werden, Seite an Seite mit Elementen moderner Industrie und Infrastruktur existieren können, ist in erster Linie eine Folge der verspäteten kapitalistischen Entwicklung Ägyptens und das Erbe seiner imperialistischen Unterjochung.

Lange vor der kapitalistischen Epoche war das strategisch am Mittelmeer, an den Handelsrouten zwischen Asien und Europa gelegene Ägypten ein Anziehungspunkt für die kolonialen Begehrlichkeiten von Weltmächten. Bevor Nasser 1952 an die Macht kam, hatte das Land über 2000 Jahre lang keine einheimischen Herrscher gehabt. Unter den Eroberern, die das Land über die Jahrhunderte hinweg besetzten, waren unter anderem Alexander der Große, Julius Caesar, die Araber und die Osmanen. 1798 marschierte Napoleon in Ägypten ein und wurde drei Jahre später von einer osmanisch-britischen Allianz wieder vertrieben.

Muhammad Ali Pascha, Oberkommandierender eines albanischen Korps in der osmanischen Armee, wurde 1805 Statthalter in Ägypten. 1807 vereitelte er einen britischen Versuch, Ägypten zu besetzen. Die von ihm gegründete Dynastie sollte Ägypten bis 1952 regieren. Muhammad Ali huldigte zwar dem Sultan in Konstantinopel, war aber praktisch ein souveräner Herrscher. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts versuchte er das Land zu modernisieren mit dem Ziel, die Grundlage für eine moderne Wirtschaft zu errichten, unter anderem durch Förderung des intensiven Anbaus von Baumwolle für den Export. Er brachte den Boden größtenteils unter staatliche Kontrolle und weitete die landwirtschaftliche Produktion durch den Bau von Dämmen und Bewässerungskanälen aus.

Um die aufkeimende Industrie zu schützen, richtete Muhammad Alis Regime ein staatliches Handelsmonopol ein und verhängte ein Embargo gegen Importgüter, insbesondere gegen billigere britische Textilien. Er modernisierte und erweiterte auch das Gesundheitswesen und richtete die ersten säkularen öffentlichen Schulen ein, die sowohl Männer als auch Frauen aufnahmen, darunter auch spezielle Fachschulen für Ärzte-, Ingenieur- und Veterinärausbildung. 1822 wurde Ägyptens erste Verlagsdruckerei eröffnet, die Bücher in Arabisch, Türkisch und Persisch herausgab.

Das Regime baute eine moderne, über 100 000 Mann starke Armee, eine Kriegs- und eine Handelsmarine auf. Muhammed Ali herrschte in den 1830ern über ein Gebiet, das sich bis nach Syrien im Norden, den Sudan im Süden und auf die arabische Halbinsel im Osten erstreckte. Ägyptens Entwicklung war derart, dass Karl Marx das Land in der New York Daily Tribune vom 30. Juli 1853 als „einzigen lebensfähigen Bestandteil“ des Osmanisches Reiches bezeichnete. Die Reformen machten Ägypten zu einem starken und funktionsfähigen Staat, wurden aber nur durch hohe Besteuerung, Zwangsarbeit (Corvée) und brutale Unterdrückung der Arbeiter, Handwerker und Fellachen (Bauern) wie auch der unterjochten Völker Syriens, Arabiens und des Sudan zustande gebracht.

Die kapitalistischen Herrscher Britanniens waren erbost über Muhammad Alis aggressive Industriepolitik. Sie fürchteten das Entstehen eines machtvollen Staates, der ihre Interessen in der Region bedrohen, möglicherweise ihre Landrouten nach Indien und in andere asiatische Kolonien kappen, den östlichen Mittelmeermarkt für britische Waren abschotten und die Lieferung von wertvoller langstapeliger ägyptischer Baumwolle an die Textilfabriken in Lancashire stoppen würde. 1840 landeten britische und österreichische Streitkräfte im Bündnis mit den Osmanen in Syrien und schlugen die ägyptische Armee, die nur ein paar Tagesmärsche vor Konstantinopel stand. In Alexandria wurde Muhammad Ali vor den Geschützrohren der britischen Flotte zu einem Abkommen gezwungen, das Syrien und Arabien wieder osmanischer Herrschaft unterstellte, seine Armee und Flotte radikal verkleinerte und ihm eine umfangreiche Tributzahlung an den Sultan, die Auflösung der Monopole und die Aufhebung der Embargos auferlegte. Wie Marx in der Tribune (25. Juli 1853) bemerkte, verdammten die europäischen Mächte den einzigen Mann zur Ohnmacht, der imstande gewesen wäre, „einen ,Paradeturban‘ durch einen wirklichen Kopf zu ersetzen“. Ägyptens kurzes Industrialisierungsexperiment kam zum Erliegen, das Land wurde zum Rohstofflieferanten für die europäische Industrie degradiert.

… und ihr Erbe

Unter Muhammad Alis Nachfolgern fuhren die Kolonialmächte mit ihrer wirtschaftlichen Verwüstung Ägyptens fort. Als die ägyptischen Herrscher französischen Plänen zum Bau des Suezkanals zustimmten, mussten sie dazu enorme Kredite im Ausland aufnehmen, deren Konditionen für die europäischen Banken äußerst vorteilhaft waren. Die britische und die französische Regierung sollten eine Mehrheitsbeteiligung am Kanal bekommen, während Ägypten Corvée-Arbeitskräfte zur Verfügung stellte und sich für den Kanal-Bau verschuldete. Mehr als 100 000 Ägypter kamen beim Bau des Kanals ums Leben.

Kurzzeitig, während des amerikanischen Bürgerkriegs, profitierte Ägypten von dem Preisboom bei Baumwolle, ausgelöst durch die Blockade von Häfen in den US-Südstaaten. Um den Export anzukurbeln, begann die Regierung gewaltige Infrastrukturprojekte: Sie baute Straßen, Brücken, Leuchttürme und vertiefte die Häfen. Doch der Boom kam rasch zum Stillstand und das Regime war gezwungen, sich über seine Möglichkeiten hinaus zu verschulden, um die Projekte zu finanzieren. Als der Suezkanal 1869 eröffnet wurde, war die Regierung nicht mehr in der Lage, auch nur die Zinsen der Kredite zu bedienen. Die Schuldenlast zwang die ägyptischen Herrscher, den Aktienanteil des Landes am Kanal an Britannien zu verkaufen und so die Kontrolle über den Kanal gänzlich europäischen Mächten abzutreten.

Während Ägypten zusehends in den Staatsbankrott hineinschlitterte, übernahmen Britannien und Frankreich gemeinsam die Kontrolle über seine Staatsfinanzen und die öffentlichen Bauprojekte. Verbitterung über ausländische Vorherrschaft, staatliche Repression und die erdrückende Steuerlast lösten eine Revolte unter der Führung Ahmad Urabis, eines einheimischen Armeeoberst, unter der Losung „Ägypten den Ägyptern“ aus. Britannien marschierte 1882 ein, schlug die nationalistische Erhebung nieder und besetzte das Land sieben Jahrzehnte lang. Die britischen Herrscher hielten nicht nur die kapitalistische Entwicklung auf – im Ersten Weltkrieg machte Baumwolle 90 Prozent der ägyptischen Exporte aus – sondern sie verstärkten auch die reaktionärsten und unterdrückerischsten Aspekte der halbfeudalen Gesellschaft. Die Regierung Ihrer Majestät fand ihre besten Freunde im korrupten Palast, den alten türkisch-tscherkessischen herrschenden Kreisen und den Banken und Geldverleihern, die alle von der Ausbeutung der Bauern profitierten, die der Corvée unterworfen und zur Abzahlung des riesigen Schuldenbergs der Regierung bis aufs nackte Existenzminimum herunter besteuert wurden.

Vor der britischen Besetzung erhielten sowohl Jungen als auch Mädchen eine Ausbildung auf Staatskosten. Die Kolonialverwaltung führte Schulgeld ein, auch für die Grundschulausbildung, und schränkte die Ausbildung von Mädchen drastisch ein. Evelyn Baring, Lord Cromer, der Ägypten ein Vierteljahrhundert lang für Britannien regierte, warnte: „Für Ägypten, das im Wesentlichen ein Agrarland ist, muss die Landwirtschaft notwendigerweise seine erste Sorge sein. Jegliche Ausbildung, technisch oder allgemein, die tendenziell dazu führt, die Felder unbebaut zu lassen, oder die Tauglichkeit oder Bereitschaft des Volkes zur Beschäftigung in der Landwirtschaft zu schmälern, wäre ein nationales Übel“ (zitiert in John T. Chalcraft, The Striking Cabbies of Cairo [Die streikenden Taxifahrer von Kairo], 2004).

Die britischen Herrscher rechtfertigten ihre kolonialen Besetzungen mit der rassistischen Behauptung, den „niederen Rassen“ die Zivilisation zu bringen und die Frauen aus der Rückständigkeit zu befreien. Wen also schickten diese „Vorkämpfer“ für die Frauen, um ihre Kolonien zu verwalten? In Britannien waren Cromer und George Curzon, früherer Vizekönig und Generalgouverneur Indiens, leidenschaftliche Gegner des Frauenwahlrechts. Cromer war Vorsitzender der National League for Opposing Woman Suffrage [Nationaler Bund gegen das Frauenwahlrecht], zu der sich 1910 eigenständige Männer- und Frauenbünde gegen das Frauenwahlrecht zusammengeschlossen hatten; Curzon war sein Nachfolger im Amt.

Imperialismus und gesellschaftliche Rückständigkeit

Für die Entwicklung des Kapitalismus in Europa war es nötig gewesen, die politischen und wirtschaftlichen Ketten der alten feudalen Ordnung zu zerreißen. Das klassische Beispiel einer bürgerlich-demokratischen Revolution ist Frankreich, wo 1789 die aufstrebende Bourgeoisie die Bauernschaft und die unteren städtischen Klassen mobilisierte, um unter dem Banner der allgemeinen Menschenrechte selbst an die politische Macht zu kommen. Anstelle einer auf lokal begrenzter Produktion basierenden und von Landadel und Kirche beherrschten Wirtschaft konsolidierte die neue bürgerliche herrschende Klasse einen Nationalstaat, trennte Kirche und Staat und errichtete ein parlamentarisches System samt einer nationalen Gesetzgebung und einer nationalen Währung.

Doch mit dem Aufstieg des Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat eine Handvoll der stärksten kapitalistischen Mächte als Unterdrücker der einheimischen Entwicklung in kolonialen und halbkolonialen Ländern auf den Plan. Die schwachen, despotischen Bourgeoisien in Ländern wie Ägypten konnten die demokratischen Aufgaben, die mit den bürgerlichen Revolutionen Europas einhergingen, nicht erfüllen. Aus Furcht vor der Arbeiterklasse konnten sie sich nicht von ihren imperialistischen Oberherren lossagen und nationale Unabhängigkeit durchsetzen. Um ihre Macht zu erhalten, setzten sie auf den Kehricht der Vergangenheit – z. B. vorkapitalistische Knechtung der Bauernschaft, Vormachtstellung der Moscheen – in Verbindung mit brutaler Polizei- und Militärrepression.

Heute ist Ägypten voll von tiefgreifenden Widersprüchen, die in seiner aufgehaltenen Entwicklung begründet liegen. Durch die Straßen Kairos schlängeln sich zwischen Mercedes und BMWs reihenweise Eselskarren. Eine winzige reiche Elite herrscht über eine verbitterte Bevölkerung, die in tiefer Armut steckt. Millionen sind arbeitslos und an die 40 Prozent der Bevölkerung leben in menschenunwürdigem Elend. Landlose Bauern durchstreifen das Niltal auf der Suche nach Arbeit. Viele „wohnen“ auf Friedhöfen; die Glücklicheren finden Unterschlupf in den aus Wellblech und Karton errichteten Elendsvierteln rund um die größeren Städte, die islamischen Fundamentalisten eine fruchtbare Rekrutierungsbasis bieten.

Die im Elend gehaltene Bauernschaft, ein Drittel der Bevölkerung, lebt unter Bedingungen, die sich seit den Zeiten der Pharaonenherrschaft in Ägypten kaum weiterentwickelt haben. In der Mehrheit sind es Pächter, ländliche Wanderarbeiter und Kleinbauern, die durchschnittlich deutlich weniger als einen halben Hektar Land besitzen. Die Männer arbeiten auf den Feldern, während die Frauen größtenteils an häusliche und mütterliche Pflichten gebunden sind, mit gelegentlichen Abstechern zum Brunnen oder zum Markt. Am tiefsten verwurzelt ist die Frauenunterdrückung in den rückständigen ländlichen Gegenden, insbesondere in Oberägypten. Wie ein junger Regierungsbeamter bemerkte: „Viele Fellachen hier lassen ihre Töchter nicht aus dem Haus, etwa um die Schule zu besuchen, weil sie fürchten, ihre Mädchen würden einen Geschmack von Freiheit bekommen, was immer gefährlich ist… Wenn sie lesen lernen, lesen sie die falschen Bücher, nicht den Koran“ (zitiert in Richard Adams, Development and Social Change in Rural Egypt [Entwicklung und sozialer Wandel im ländlichen Ägypten], 1986).

Die enge Verflechtung der Religion mit jedem Aspekt der Gesellschaft bedeutet, dass koptische Christen, an die zehn Prozent der Bevölkerung, islamistischem Terror und staatlicher Repression ausgesetzt bleiben, was wiederum die Kontrolle der Kirche über die Gemeinde festigt. Im Oktober 2011 wurden Demonstranten, die in Kairo gegen das Niederbrennen koptischer Kirchen protestierten, von uniformierten Streitkräften und islamistischem Mob angegriffen. Bewaffnete Schläger durchstreiften im Zusammenspiel mit Armee und Bereitschaftspolizei die Straßen auf der Suche nach Christen, auch Frauen und Kindern, töteten 27 und verstümmelten Hunderte.

Ägypten liefert ein überzeugendes Argument für Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die sich in der Oktoberrevolution 1917 in Russland auf eindrucksvolle Weise bestätigt hatte. Weder die staatlich geförderte industrielle Entwicklung unter Nasser in den 1950er- und 60er-Jahren noch die Politik der „offenen Tür“ seiner Nachfolger Sadat und Mubarak für Privatisierung und Investitionen konnten die Ketten imperialistischer Oberherrschaft brechen oder die Widersprüche lösen, die aus Ägyptens kombinierter und ungleichmäßiger Entwicklung herrühren. Wie Trotzki in Die permanente Revolution (1930) erklärte, gilt für Länder mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, „dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen“.

Das an die Macht gelangte ägyptische Proletariat würde die Bourgeoisie und die Grundherren enteignen, den Grundbesitz der Moscheen beschlagnahmen und die Ketten imperialistischer Unterjochung zerreißen – auf dem Weg zur Errichtung einer kollektivierten Planwirtschaft, in der die Produktion von den gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht vom Profit bestimmt wird. Eine proletarische Revolution in Ägypten würde auf der gesamten Welt Widerhall finden, nicht zuletzt in Nordafrika und im Nahen Osten wie auch unter den Millionen nordafrikanischen Arbeitern in Frankreich und türkischen und kurdischen Arbeitern in Deutschland. Diese Arbeiter könnten eine entscheidende Rolle spielen, um den Kampf für sozialistische Revolution in der neokolonialen Welt mit den Kämpfen der Arbeiter in den imperialistischen Zentren, um ihre eigenen Ausbeuter loszuwerden, zu verbinden. Ohne den Sturz kapitalistischer Herrschaft in den fortgeschrittenen Industrieländern würde jegliche Entwicklung in Richtung Sozialismus in den rückständigeren Ländern unter dem Druck des Weltimperialismus aufgehalten und schließlich rückgängig gemacht werden.

„Frau zu werden bedeutet, in ein Gefängnis einzutreten“

In Ägypten kleidet sich die Unterdrückung der Frauen in altertümliche barbarische Bräuche, das Erbe verspäteter wirtschaftlicher Entwicklung, verstärkt durch imperialistische Oberherrschaft. Das Patriarchat in der Familie wird sowohl bei den koptischen Christen wie auch bei den Muslimen von der religiösen Ideologie untermauert; das Alltagsleben der Frauen ist Plackerei und Erniedrigung. In ihrem Roman The Open Door [Das offene Tor] erzählt Latifa al-Zayyat, eine Linke, die 1981 unter Anwar Sadat im Gefängnis saß, die Geschichte der jungen Layla, die in der Nasser-Ära zur Frau heranwächst: „Allmählich wurde ihr klar, dass Frau zu werden bedeutet, ein Gefängnis zu betreten, in dem die Grenzen des Lebens klar und unabänderlich festgelegt sind.“

Die Peinigung von Frauen beginnt in der Kindheit. Mädchen werden im Alter von sieben Jahren oder jünger der grässlichen Prozedur der Genitalverstümmelung unterzogen, eine Bestialität, die unter anderem Beschneidung oder Entfernung der Klitoris beinhaltet, zum Zwecke der Einschränkung der Sexualität der Frauen und der Bewahrung ihrer Keuschheit. Dieses ungeheure Verbrechen beraubt Frauen nicht nur ihrer Organe sexuellen Lustempfindens, sondern bewirkt auch heftige Schmerzen beim Urinieren, Menstruieren, beim Geschlechtsverkehr und bei der Geburt und ist im Laufe ihres Lebens Ursache vielfältiger medizinischer Komplikationen. Obgleich seit 1997 verboten, grassiert die weibliche Genitalverstümmelung in Ägypten in allen Klassen, und zwar gleichermaßen unter Muslimen und Christen. Den Vereinten Nationen zufolge wurden 96 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren dieser Prozedur unterzogen.

Noch vor ein paar Jahrzehnten, vor dem Anstieg islamistischen Einflusses, gingen viele städtische Frauen ohne Kopfbedeckung aus und trugen knielange Röcke und Blusen mit offenem Kragen. Heute tragen mehr als 80 Prozent der Frauen das Kopftuch. Nicht selten sieht man auch Frauen, die erstickende wallende schwarze Gewänder mit Niqab-Gesichtsschleier tragen, die den gesamten Körper bedecken und nur schmale Sehschlitze offen lassen.

Entgegen islamistischen Behauptungen ist der Schleier nicht Ausdruck freier religiöser Entfaltung oder ein Zeichen von Bescheidenheit und Ehrerbietung gegenüber einer Gottheit. Er ist auch nicht einfach nur ein reaktionäres Symbol der Religionszugehörigkeit wie das christliche Kreuz oder die jüdische Kippa. Der Schleier – eine krasse Bekundung des sozialen Programms der Islamisten – ist physischer Ausdruck der Unterwerfung der Frau unter den Mann, eine dauerhafte, erzwungene Bekräftigung ihrer untergeordneten Stellung. Er trägt die Absonderung der Frauen, die ihnen vom islamischen Gesetz auferlegt und durch fundamentalistische Einschüchterung und gesellschaftlichen Druck erzwungen wird, vom Haus auf die Straße hinaus. Junge Frauen befolgen schweren Herzens den Rat ihrer Familie, „den Schleier zu tragen und am Leben zu bleiben“.

Als Marxisten lehnen wir die liberale/nationalistische Vorstellung eines „Kulturrelativismus“ ab, der den Schleier und andere Manifestationen der abscheulichen Unterdrückung der Frauen in der Dritten Welt als malerische kulturelle Merkmale verharmlost. Gleichzeitig sind wir Gegner von staatlichen Schleierverboten, die die Repressionsbefugnisse der Bourgeoisie erweitern – eine Bedrohung für Minderheiten, Arbeiter und linke Organisationen. Im imperialistischen Westen sind solche Verbote Ausdruck antimuslimischer Hysterie und bewirken nur, Frauen noch tiefer in ein kulturelles Ghetto zu stoßen. Und auch in islamischen Ländern sind solche Verbote nicht hinnehmbar. Als die islamistische türkische Regierung ankündigte, sie wolle ein langjähriges Kopftuchverbot in Schulen abschaffen, bemerkten wir, dass dies einen fundamentalistischen Mob zu dem Versuch ermuntern würde, Frauen das Tragen des Schleiers aufzuzwingen. Dennoch betonten wir, wenn „religiöse Frauen, die sich weigern ihre Kopftücher abzulegen, aus Schulen und Universitäten verbannt werden, dann vertieft das nur noch weiter ihre Isolation von säkularen Strömungen, was den Griff der religiösen Reaktion und die Vorherrschaft der Familie weiter verstärkt“ („Türkei: Frauen und permanente Revolution“, Spartakist Nr. 170, März 2008).

„Ehrenmorde“ an Frauen und Mädchen, weil sie durchgebrannt sind oder außerehelichen Sex hatten, sind in Ägypten sowohl unter Muslimen als auch unter Christen weit verbreitet und insbesondere in den ländlichen Gegenden gesellschaftlich akzeptiert. Die Täter kommen meist mit einem blauen Auge davon, da das Gesetz Richtern erlaubt, Strafen für Männer zu reduzieren, wenn beim Mord an einer Frau ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ vorliegt. Genaue Statistiken darüber lassen sich unmöglich erheben, da die meisten dieser Morde vertuscht oder als Selbstmorde gemeldet werden.

Egal, was man als Maßstab nimmt – Lohn, Armut, Bildung, Beschäftigung – Frauen sind immer ganz am unteren Ende der Skala zu finden. Volle 60 Prozent sind Analphabeten. Das ägyptische Gesetz, das auf der Scharia basiert, schreibt die Unterordnung der Frauen unter ihre männlichen Verwandten fest. Nach islamischem Recht ist der Anteil einer Frau am Erbe die Hälfte dessen ihres Bruders. Gesetze auf Grundlage der Scharia verbieten Abtreibung (mit sehr wenigen Ausnahmen), verbieten muslimischen Frauen, Nicht-Muslime zu heiraten, untersagen Übertritt zu anderen Religionen und Bekenntnisse zum Atheismus. Bis vor kurzem wurden den Kindern von Frauen, die mit einem Nicht-Ägypter verheiratet sind, die Staatsbürgerschaft verweigert. Ein Mann kann sich immer noch von seiner Frau durch ein bloßes „Ich scheide mich von dir“ scheiden lassen, aber eine Frau muss, um sich scheiden zu lassen, zahlreiche Hürden überwinden. Ein im Jahre 2000 verabschiedetes Gesetz erlaubt es Frauen, eine Scheidungsklage einzureichen, unter der Voraussetzung, dass sie jegliche finanziellen und rechtlichen Ansprüche aufgeben. Für koptische Christen ist es so gut wie unmöglich, sich scheiden zu lassen, denn ihre Kirche verbietet es. Unterdessen ist Polygamie legal.

Die erstickende Wirkung der Unterdrückung der Frauen geht weit über ihre eigene erzwungene Absonderung hinaus. Es gibt kein Gesetz, das Homosexualität kriminalisiert, da die Vorstellung herrscht, homosexuelles Verhalten sei undenkbar. Dennoch stehen schwule Männer, weil sie sexuelle Normen überschreiten, im Fadenkreuz staatlicher Folter und Verfolgung und auch gewalttätiger Selbstjustiz. Im Mai 2001 wurden anlässlich einer Razzia bei einer Bootsparty in Kairo 52 Männer verhaftet. Sie wurden wegen „gewohnheitsmäßiger Ausschweifung“, „obszönem Verhalten“ und „Verhöhnung der Religion“ angeklagt und vor ein geheimes Militärgericht gestellt und 21 von ihnen zu drei Jahren harter Zwangsarbeit verurteilt (siehe Workers Vanguard Nr. 801, 11. April 2003). 2007 wurden zwei HIV-positive schwule Männer verhaftet, beschimpft und geschlagen und monatelang in Haft gehalten. 2008 wurden vier HIV-positive Männer zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie „gewohnheitsmäßig praktizierter Ausschweifung“ für schuldig befunden worden waren.

In seinem bahnbrechenden Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) führte Engels die Wurzeln der Familie – Hauptquelle der Frauenunterdrückung – und des Staates auf die erste Spaltung der Gesellschaft in Klassen zurück. Die Erfindung der Landwirtschaft hatte für einen gesellschaftlichen Überschuss gesorgt, der über die Grundbedürfnisse hinausging. Aufgrund privater Aneignung dieses Überschusses entwickelte sich eine herrschende Klasse, und die menschliche Gesellschaft entfernte sich vom primitiven Egalitarismus der Steinzeit. Um Eigentum von einer Generation auf die nächste weiterzuvererben, musste eindeutig sein, wer Vater der Erben ist, was sexuelle Monogamie der Frauen erforderte. So legt die Gesellschaft höchsten Wert auf Jungfräulichkeit und eheliche Treue – bei Frauen. Die Familie zieht neue Generationen von Arbeitern heran und prägt zusammen mit Kirche/Moschee den Heranwachsenden, die zur Lohnsklaverei oder als Kanonenfutter fürs Militär bestimmt sind, Gehorsam gegenüber Autoritäten ein. Sie spielt auch bei der Verankerung religiöser Rückständigkeit eine wichtige Rolle.

Sowohl die imperialistische als auch die neokoloniale Welt sind von Frauenunterdrückung gekennzeichnet. Wie der Islam und andere Religionen haben auch Christentum und Judaismus ihre eigenen grausigen Traditionen frauenfeindlicher Brutalität, die bis heute weiterwirken. Dennoch gibt es einen enormen Unterschied zwischen der Stellung der Frau in entwickelten Industriegesellschaften und in den vom Imperialismus beherrschten Gesellschaften der Dritten Welt, ein Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungswege. In Ägypten wurden Schleier, Absonderung der Frauen, Brautpreis, weibliche Genitalverstümmelung, der Begriff der „Familienehre“ und all die dazugehörigen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen über Frauen aus vorkapitalistischen Gesellschaften in die Moderne übernommen.

Diese „Bräuche“ sind nicht ausschließlich oder auch nur vornehmlich islamisch. (Weibliche Genitalverstümmelung, die in einem Großteil Afrikas verbreitet ist, soll von animistischen Stämmen herstammen.) Sie sind vielmehr das Nebenprodukt primitiver Produktionsweisen, basierend auf Stämmen, die das Land gemeinsam besitzen und bearbeiten. Vererbung, Eigentum und Zugang zu Wasser und anderen Lebensnotwendigkeiten werden durch die Familie bestimmt. So stellt die Jungfräulichkeit und Heiratsfähigkeit einer Tochter für einen Patriarchen einen Sachwert dar. Diese barbarischen Bräuche können nur vollends beseitigt werden durch die qualitative Entwicklung der Produktivkräfte in einer sozialistischen Welt, die die tief verwurzelte, durch imperialistische Oberherrschaft verfestigte wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit ausmerzt. Eine Arbeiter- und Bauernregierung in Ägypten würde den Besitz der Grundherren beschlagnahmen und den armen Bauern Land geben, als ersten Schritt in Richtung Kollektivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft.

Um die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft zu errichten, in der die Institution der Familie durch kollektive Kinderbetreuung und vergesellschaftete Hausarbeit ersetzt wird, ist der Sturz des auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden kapitalistischen Systems und seine Ersetzung durch eine weltweite Planwirtschaft unter Arbeiterherrschaft nötig. Erst dann werden Frauen aus der Enge ihrer vier Wände befreit werden, damit sie am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben voll und gleichberechtigt teilhaben.

Die Arbeiter müssen auf den Plan treten

In den vergangenen zwei Jahren, während die Islamisten an der Konsolidierung ihrer politischen Macht arbeiteten, schoben vorgebliche Sozialisten die Frage der Frauenunterdrückung beiseite. Besonders hervorzuheben sind in dieser Hinsicht die Revolutionären Sozialisten (RS), ägyptischer Ableger der vom verstorbenen Tony Cliff gegründeten International Socialist Tendency [in Deutschland marx21], die ungeniert den Islamisten hinterherlaufen. Tatsächlich unterstützten die RS bei den Wahlen 2012 Mursi mit der Begründung, die Muslimbruderschaft sei mit „Widersprüchen“ behaftet, die Sozialisten ausnutzen könnten – ein Akt des Verrats, den die Cliff-Anhänger seitdem totzuschweigen versuchen (siehe „Cliffites Disappear Their Support to Egypt’s Morsi“ [Cliff-Anhänger verschweigen, dass sie Mursi in Ägypten unterstützten], WV Nr. 1017, 8. Februar). Die RS brüsteten sich sogar damit, dass sie „dem revolutionärsten Flügel der salafistischen Bewegung die Hand reichen und sich dort Respekt erwerben“ (jadaliyya.com, 11. Mai 2012).

Es ist grotesk, dass selbsternannte Marxisten überhaupt auf die Idee kommen, religiöse Fundamentalisten zu unterstützen, die die Uhr des menschlichen Fortschritts um etwa 14 Jahrhunderte zurückdrehen wollen. Die RS behaupteten, dass die Islamisten, weil sie unter Mubarak unterdrückt waren (manchmal förderte er sie auch), Verbündete im Kampf gegen die Diktatur seien. Dies ist ein fataler Trugschluss: Die Islamisten – Muslimbrüder wie Salafisten gleichermaßen – haben eine lange Geschichte mörderischer Gewaltanwendung gegen Gewerkschafter, Kommunisten, Frauen, koptische Christen und Juden, ganz zu schweigen davon, dass sie gegen die Mitglieder der RS selbst vorgingen.

Zur Befreiung der Frauen ist eine sozialistische Revolution notwendig. Umgekehrt wird es keine Revolution geben ohne die Führung einer Partei, die die Forderung nach Emanzipation der Frauen auf ihr Banner schreibt. Eine revolutionäre Arbeiterpartei muss elementare demokratische Rechte wie rechtliche Gleichstellung der Frauen, gleiche Rechte für Homosexuelle und Trennung von Religion und Staat aufgreifen, die der ägyptische Kapitalismus nicht gewähren konnte. Um Frauen in die Arbeiterschaft und jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens einzubeziehen, ist es nötig, gegen die erzwungene Absonderung und für die Durchführung von Alphabetisierungskampagnen, für Kinderbetreuung rund um die Uhr und kostenlose Abtreibung auf Wunsch zu kämpfen und dies mit dem Kampf für Arbeit für alle zu verbinden.

Die ägyptische Frau mag schrecklich unterdrückt sein, aber sie ist auch ein entscheidender Teil der Klasse, die die Grundlage für ihre Befreiung schaffen wird. Frauen haben im letzten Jahrzehnt bei Streiks eine führende Rolle gespielt, insbesondere in der Textilindustrie, wo sie 35 Prozent der Beschäftigten ausmachen. Bei einem der größten Streiks traten im Dezember 2006 in der von jeher kämpferischen Textilfabrik von Mahalla Frauen in den Ausstand, während die Männer weiterarbeiteten. Sie demonstrierten vor der Fabrik und skandierten: „Wo sind die Männer? Hier sind die Frauen!“

In einer Rede an der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens in Moskau bemerkte Leo Trotzki 1924, sieben Jahre nach der bolschewistischen Revolution:

„Wir sehen auch jetzt noch im Osten die Herrschaft des Islam, der alten Vorurteile, Glaubenslehren, Gewohnheiten, aber dies alles verwandelt sich immer mehr in Schutt und Staub. Wie ein vermodertes Gewebe, aus der Entfernung gesehen, vollständig zu sein scheint, das ganze Muster zu sehen ist, die Struktur erhalten ist, aber eine Handbewegung, ein frischer Windhauch genügt, um das ganze Gewebe in Staub zerfallen zu lassen, so sind im Osten die alten Glaubenslehren, die so tief verwurzelt zu sein scheinen, nur noch ein Schatten der Vergangenheit; man hat in der Türkei das Kalifat abgeschafft, und kein einziges Haar ist denen gekrümmt worden, die den Anschlag auf das Kalifat verübt haben; dies bedeutet, dass die alten Glaubensformen des Ostens verfault sind und dass bei der nächsten geschichtlichen Bewegung der revolutionären werktätigen Massen die alten Glaubensformen kein ernstes Hindernis mehr darbieten werden. Das bedeutet aber zugleich, dass die in der Lebensführung, in den Sitten und Gebräuchen, in der Arbeit am meisten festgekettete orientalische Frau, die versklavteste der Sklavinnen, wenn sie – gemäß den Forderungen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse – den Schleier abgelegt haben wird, sich sofort einer gewissen geistigen Stütze beraubt fühlen wird, leidenschaftlichen Durst nach neuen Gedanken, nach einem neuen Bewusstsein haben wird, die es ihr erlauben, ihre neue Lage in der Gesellschaft geistig zu artikulieren. Und es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinen besseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedanken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau“ („Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten“, neu bearbeitete Übersetzung in „Der Kommunismus und die Frauen des Ostens“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 26, Frühjahr 2008).

[WIRD FORTGESETZT]