Spartakist Nr. 200

Oktober 2013

 

Pseudowissenschaft, Quacksalberei und Stalinismus in China

Folgendes Dokument schrieb der New Yorker Genosse J. Thomas Anfang des Jahres für die Diskussion in der Spartacist League/U.S. Es wurde für die Veröffentlichung redigiert und erschien zuerst in Workers Vanguard Nr. 1028, 9. August.

Jahrzehnte nach der Revolution von 1949 grassiert in China der Mystizismus. Selbst unter der gebildeten städtischen Bevölkerung, darunter auch Studenten im Ausland, bekennen sich zwar viele zum Atheismus und zur modernen Wissenschaft, akzeptieren aber auch gleichzeitig in unterschiedlichem Ausmaß allerlei antimaterialistischen Unsinn. Der Glaube an Dinge wie Zahlensymbolik, Feng Shui, Gesichtslesen (wie auch Handlesen), Astrologie, blutgruppenbasierte Charakterdeutung und insbesondere mystische Heilverfahren ist allgegenwärtig, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt wie andernorts in Asien. Bei den Theorien, die hinter Akupunktur, dem verwandten Verfahren der Moxibustion, Kräuterbehandlungen, Qigong usw. stehen, geht es um die Manipulation nicht existierender Lebenskräfte wie Qi, Yin und Yang und verschiedener Körpersäfte. Der Kampf gegen diese Vorstellungen ist eine Möglichkeit, die in China weit verbreitete falsche Identifizierung von revolutionärem Marxismus mit maoistischem Idealismus zu bekämpfen.

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat das Fortbestehen medizinischer Quacksalberei gefördert und ihr einen wissenschaftlichen und sogar marxistischen Anstrich verliehen. Dies steht im Einklang mit ihrem nationalistischen stalinistischen Programm des Aufbaus des „Sozialismus in einem Lande“ und ihrer Ablehnung einer internationalen proletarischen Revolution. Dabei spielen die Verherrlichung von Traditionen des „Mutterlandes“, das Wiederaufleben des ganzen alten Drecks angesichts des herrschenden Mangels und der kleinbürgerliche Charakter der KPCh-Bürokratie eine Rolle. Man findet all die Widersprüche, die bei einer Kaste zu erwarten sind, die auf dem Arbeiterstaat thront, der aus der auf die Bauernschaft gestützten Revolution von 1949 hervorging und von Anfang an deformiert war. Zu den Errungenschaften der Revolution zählen gewaltige Fortschritte im Gesundheitswesen und in der Wissenschaft. Es war notwendig, den Aberglauben, der eine Stütze der Herrschaft der Grundherren auf dem Lande war, zu bekämpfen. Doch über die Jahre hinweg wurde ein Zickzack-Kurs verfolgt, und noch immer gibt es innerhalb der Bürokratie über diese Frage Auseinandersetzungen.

Die Periode des 4. Mai

Die stalinistische KPCh ist eine qualitativ andere Partei als diejenige, die unter dem Einfluss der bolschewistisch geführten Arbeiterrevolution in Russland aus der antiimperialistischen Bewegung des 4. Mai von 1919 hervorgegangen war. Nachdem die imperialistischen Mächte 1900 den Boxeraufstand – der unter der Losung „Unterstützt die Dynastie, vernichtet die Fremden!“ angetreten war – zerschlagen hatten, wurde klar, dass ein auf reaktionären Aberglauben gestützter Widerstand gegen den Imperialismus eine Sackgasse war. Diejenigen, die China befreien wollten, setzten auf die moderne Wissenschaft und waren offen für Ideen, die aus dem Ausland importiert wurden, auch in der Medizin. Im Ersten Weltkrieg war in China ein kämpferisches Proletariat herangewachsen, und daraus wurden unter dem Einfluss der Bolschewiki die Besten für den Kommunismus gewonnen.

Chen Duxiu, einer der Gründer und Führer der KPCh und späterer Trotzkist, war damals der bedeutendste Modernisierer unter den Intellektuellen. 1915 schrieb er in „Aufruf an die Jugend“:

„Unsere Ärzte kennen keine Wissenschaft; ihnen ist nicht nur die menschliche Anatomie unbekannt, sondern sie untersuchen auch nicht die Eigenschaften von Arzneimitteln; von Bakterien und ansteckenden Krankheiten haben sie nie etwas gehört. Sie können nur das Geschwätz von den fünf Elementen nachplappern, über deren wechselseitige Verstärkung und Hemmung, über Kälte und Hitze, Yin und Yang, und können Arzneien nach uralten Rezepturen verschreiben. Ihre Technik ist praktisch die eines Bogenschützen! Gipfel ihrer fabelhaften Vorstellungen ist die Theorie des Qi (Urkraft), die eigentlich ins Metier professioneller Gaukler und taoistischer Priester gehört. Selbst wenn wir das gesamte Universum danach absuchen, werden wir doch diese ,Urkraft‘ nie erfassen. All diese unsinnigen Ideen und vernunftwidrigen Ansichten können nur durch die Wissenschaft von Grund auf kuriert werden. Denn Wahrheit wissenschaftlich zu begründen heißt, alles durch Fakten zu belegen. Zwar geht dies langsamer vonstatten als Einbildungskraft und willkürliche Entscheidung, aber man bewegt sich doch mit jedem Schritt auf festem Boden, anders als bei jenen fantasievollen Höhenflügen, mit denen man schließlich keinen einzigen Zoll vorankommt. Der Umfang an Wahrheit im Universum ist grenzenlos, und die fruchtbaren Tätigkeitsfelder in den Gefilden der Wissenschaft, die den Pionier erwarten, sind gewaltig! Jugend, ans Werk!“ (zitiert in Ssu-yu Teng und John K. Fairbank, China’s Response to the West [Chinas Antwort auf den Westen], Harvard University Press, 1954)

Lu Xun, eine andere wichtige Persönlichkeit der Bewegung des 4. Mai, beschrieb in „Aufruf zum Kampf“, wie er als Kind oft von seinem kranken Vater in die Apotheke geschickt wurde: „Der Arzt, der die Rezepte schrieb, war sehr angesehen und wandte bemerkenswerte Heilmittel an: im Winter ausgegrabene Aloewurzeln, drei Jahre lang dem Frost ausgesetzt gewesenes Zuckerrohr, Grillenzwillinge und seltene aromatische Kräuter. Dennoch wurde der Zustand meines Vaters immer schlimmer, und schließlich starb er.“ Lu erzählt, wie er später in der Schule mit der modernen Wissenschaft in Berührung kam, und fährt fort:

„Die Reden und Rezepte mir bekannter Ärzte fielen mir ein, und als ich sie mit dem verglich, was ich jetzt wusste, kam ich zum Schluss, dass diese Ärzte entweder unwissentlich oder bewusst Scharlatane waren, und ich empfand Mitleid mit den Kranken und den Familien, die darunter zu leiden hatten. Aus übersetzten Geschichtswerken erfuhr ich auch, dass die Umgestaltung Japans in großem Ausmaß auf die Einführung der medizinischen Wissenschaft des Westens nach Japan zurückzuführen war.

Diese Hinweise veranlassten mich zur Übersiedlung auf die medizinische Fakultät in einer Provinzstadt Japans. Ich träumte, ich würde, nach China heimgekehrt, Patienten wie meinen Vater, der falsch behandelt worden war, heilen können; und wenn ein Krieg ausbräche, wollte ich als Arzt im Heer dienen und gleichzeitig den Glauben meiner Landsleute an eine Umgestaltung stärken.“ (aus: Lu Hsün, „Einige Erzählungen“, Peking 1976)

Unter der bürgerlich-nationalistischen Guomindang wurde in China die traditionelle Heilkunst aus dem, was es an staatlicher Gesundheitsversorgung gab, völlig herausgehalten. Es gab sogar 1929 einen Vorschlag von Dr. Yu Yunxiu, sie ganz abzuschaffen, was aber angesichts heftiger Opposition traditioneller Heiler und der pharmazeutischen Industrie scheiterte.

Die Haltung der KPCh zur chinesischen Medizin begann sich zu dem Zeitpunkt zu ändern, als sie sich zu einer auf die Bauernschaft gestützten Partei verwandelte, was unter Mao Zedongs Führung bald geschah – nach der Niederschlagung der Zweiten Chinesischen Revolution von 1925–27 und dem Massaker an Zehntausenden von Kommunisten. Die Verantwortung für diese Katastrophe lag bei der Stalin/Bucharin-Führung der Kommunistischen Internationale, die der KPCh befohlen hatte, sich in die Guomindang aufzulösen.

Wie Davis A. Palmer in Qigong Fever [Qigong-Fieber] (2007) schrieb:

„Die Haltung der KPCh zu traditionellen Heilmethoden änderte sich stark seit den Anfängen der Partei in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die ersten chinesischen Marxisten, wenngleich an medizinischen Fragen nicht sonderlich interessiert, lehnten als logische Konsequenz ihrer modernistischen Orientierung die traditionellen, mit der alten Gesellschaft verbundenen Heilbräuche ab. 1929 diskutierte die Partei einen politischen Vorschlag, die alte Medizin abzuschaffen, um eine moderne Medizin und Hygiene zu entwickeln. Doch nach der Erfahrung der Sowjets [KPCh-kontrollierte Gebiete] in Jiangxi und Shaanxi, dem Langen Marsch und der Vertiefung der ländlichen Wurzeln der Partei in den 1930ern begann sich die Einstellung der KPCh zu ändern: Fernab der Städte musste die Rote Armee zur medizinischen Versorgung auf traditionelle Heilkundige zurückgreifen. In den ,befreiten Gebieten‘ wurde in den 1940ern ausdrücklich eine Politik formuliert, sich im Rahmen einer ,wissenschaftlichen Orientierung‘ örtlicher medizinischer Ressourcen zu bedienen. Mao rief in moderner Medizin ausgebildete Ärzte dazu auf, sich mit traditionellen Heilkundigen zusammenzutun, die näher am Volk seien, und ihnen zu ,helfen, sich zu verbessern‘. Traditionelle Ärzte wurden somit nicht mehr als Feinde des Fortschritts angesehen… Vor diesem Hintergrund wurde das offizielle Qigong geboren.“

Vor und nach der Revolution von 1949 wurde es als Teil der antiimperialistischen Einheitsfront angesehen, sich mit traditionellen Ärzten „zusammenzutun“, um sie zu „reformieren“ und ihre Verfahren auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

Die Revolution von 1949

Nachdem die KPCh an die Macht gekommen war, wurde in vielen Teilen des Landes erstmals eine moderne sanitäre Grundversorgung eingeführt, und es gab massive öffentliche Gesundheitsprogramme, hauptsächlich nach dem Vorbild der Sowjetunion. Doch wie wir in „Die Ursprünge des chinesischen Trotzkismus“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 19, Winter 1997/98) betonten: „Die maoistische Ideologie des chinesischen bürokratisch deformierten Arbeiterstaats spiegelte das bornierte, antiinternationalistische Bewusstsein wider, das für die Masse der Bauernschaft charakteristisch war und das in vollem Einklang stand mit der konservativen Einstellung der Stalin-Bürokratie im Kreml. Der einzige Unterschied war der, dass die chinesischen Stalinisten den ,Sozialismus‘ in einem anderen ,einzigen Land‘ verteidigten.“

Zuerst war die Eingliederung traditioneller Heiler ins Gesundheitssystem vor allem ein Versuch, sie zu schulen und zu steuern, damit die vorhandenen Ärzte wenigstens etwas Ahnung von moderner Medizin bekamen. Damals erging die Aufforderung, westliche Medizin zu studieren. Doch sehr schnell verwandelte sich dies in die Losung: „Ihr Ärzte westlicher Medizin, studiert chinesische Medizin!“ Gegen diese Politik, deren Ziel es war, durch die Anhebung des Niveaus der chinesischen traditionellen Medizin beide zu einer neuen Medizin zu vereinigen, regte sich im Gesundheitsministerium einiger Widerstand.

Hunderte der (herzlich wenigen und dringend benötigten) in moderner Medizin ausgebildeten Ärzte des Landes wurden zweieinhalb Jahre von ihrer Arbeit abgezogen, um bei traditionellen Heilern chinesische Medizin zu studieren – verständlicherweise waren sie davon wenig begeistert. Der jüngste der vier medizinischen Texte, die sie studierten, stammte von 1596, die anderen drei aus dem zweiten und dritten Jahrhundert:

„Der Schritt, in westlicher Medizin ausgebildete Ärzte nun chinesische Medizin studieren zu lassen, ist seitdem als fürchterliche ,Verschwendung menschlichen Talents, Verschwendung von Arbeitskraft und materiellen Ressourcen der Nation‘ kritisiert worden… Eine der obersten Regeln in diesen Kursen war, dass keine Fragen gestellt werden durften; ,Wie es der Lehrer unterrichtete, so hatte man es zu lernen‘.“ (Kim Taylor, Chinese Medicine in Early Communist China 194563 [Chinesische Medizin im frühen kommunistischen China], Psychology Press, 2005)

1958 verkündete Mao: „Chinas Medizin ist ein großes Schatzhaus, das wir gründlich ans Licht holen und weiter entwickeln sollten.“ Doch das war für die Massen. Zu seinem Leibarzt sagte Mao: „Obwohl ich dafür bin, die chinesische Medizin zu fördern, glaube ich persönlich nicht an sie. Ich nehme keine chinesischen Heilmittel“ (Dr. Li Zhisui, Ich war Maos Leibarzt, Gustav Lübbe Verlag, 1994).

Während der Periode des „Großen Sprungs nach vorn“ und des darauf folgenden Bruchs mit der Sowjetunion wurde die nationalistische Verherrlichung chinesischer Tradition noch weiter getrieben. Dies war nicht einfach nur eine persönliche Vorliebe Maos; Liu Shaoqi, ebenfalls KPCh-Führer, war eher noch enthusiastischer, er verkündete 1954: „Verachtung der chinesischen Medizin ist serviles und unterwürfiges bürgerliches Denken.“ Als es für Mao während der Kulturrevolution – dem gewaltigen innerbürokratischen Kampf, der China ab 1966 ein Jahrzehnt lang aufwühlte – dann nützlich war, warf er seinem Rivalen Liu und anderen die Förderung feudalen Aberglaubens vor, und Qigong wurde einige Jahre lang verboten.

Export der chinesischen Medizin

Die gegenwärtige Beliebtheit von Akupunktur und traditioneller chinesischer Medizin (TCM) in Nordamerika hat ihren Ursprung in Chinas antisowjetischer Allianz mit dem US-Imperialismus. Während Richard Nixons China-Besuch 1972 wurde ausführlich darüber berichtet, dass der New-York-Times-Kolumnist James Reston, der im Jahr davor Henry Kissinger nach China begleitet hatte, während einer Notfall-Blinddarmoperation nur durch Akupunktur betäubt worden sei. (In Wirklichkeit hatte er auch eine herkömmliche Anästhesie erhalten.) Einer leichtgläubigen westlichen Presse wurden traditionelle Heilkunst und Chirurgie an hellwachen Patienten demonstriert, die angeblich nur eine Betäubung durch Akupunktur erhalten hatten. Reston witzelte: „Ich sah die Vergangenheit, und sie funktioniert!“

Es lag schon damals ganz offensichtlich auf der Hand, und seither sind Fotos und Videos dieser Operationen durch Analysen definitiv als Fälschungen entlarvt worden. Doch die Quacksalberei fand im amerikanischen Kleinbürgertum ein begeistertes Publikum, auch bei Überbleibseln neulinker Gegenkultur im Umfeld des New-Age-Mystizismus. Auch in die offizielle Medizin begann sie sich einzuschleichen, im Jahr von Nixons Reise wurde das American Journal of Chinese Medicine gegründet. Dieser Trend nahm dann nach der Konterrevolution in der Sowjetunion vor zwei Jahrzehnten sogar noch sprunghaft zu. Außerdem hatte die KPCh „Marktreformen“ eingeführt, Handelsmöglichkeiten eröffneten sich und der Export chinesischer Medizin wurde zu einem lukrativen Geschäft.

„In Zukunft können wir Menschen in übernatürliche Wesen verwandeln“

1979 wurde berichtet, Tang Yu, ein Junge in der Provinz Sichuan, könne mit seinen Ohren lesen. Sichuan Daily präsentierte auf der Titelseite ein Foto von ihm neben dem Provinzparteisekretär. Die Geschichte wurde von Zeitungen im ganzen Land aufgegriffen, und auf einmal tauchten überall Kinder auf, die mit den Ohren und Achselhöhlen lesen konnten und andere übersinnliche Kräfte aufwiesen. Tests wiesen nach, dass Tang Yu schwindelte, aber egal: Das bewies doch nicht, dass all die anderen Kinder diese Kräfte auch nicht besaßen! Daraufhin setzte ein wildes Hin und Her innerhalb der Bürokratie ein, das erst mit dem Durchgreifen gegen den Falun-Gong-Kult ein Ende fand.

KPCh-Propagandachef Hu Yaobang, peinlich betroffen darüber, dass sich die Parteipresse wie der National Enquirer [US-Klatschblatt] las – auch Berichte über UFO-Sichtungen waren damals weit verbreitet –, versuchte dem Einhalt zu gebieten. 1979, am Jahrestag der Bewegung des 4. Mai, veröffentlichte die Volkszeitung einen Leitartikel mit der Erklärung: „Es ist befremdlich, dass gewisse Genossen in den wissenschaftlichen Institutionen und in Führungspositionen nicht von der Wissenschaft und von Wissenschaftlern lernen, sondern die Ersten sind, die sich für Hokuspokus begeistern und voll des Lobes für ,magische Ohren‘ sind.“

Eine Zeitlang trudelten Selbstkritiken und Widerrufe ein, doch dann kam der Gegenangriff, und zwar hauptsächlich seitens des wissenschaftlichen, militärischen und medizinischen Establishments. Die bekannte Zeitschrift Ziran (Natur) veröffentlichte Untersuchungen, die angeblich die Fähigkeit des „Ohrlesens“ nachwiesen, und organisierte große akademische Kongresse zur Förderung der Erforschung der „außergewöhnlichen Kräfte des menschlichen Körpers“. Es wurde behauptet, dass die Förderung von Qigong diese Kräfte entfesseln könne, vielleicht auch den Röntgenblick, die Telekinese und Heilkräfte. Eine Schlüsselfigur, die auf solche Forschungen drängte, war der brillante und äußerst einflussreiche Raketenwissenschaftler Qian Xuesen (siehe unseren Nachruf für Qian in WV Nr. 952, 12. Februar 2010). Sein Argument zeigt, wie stark hier der Nationalismus am Werke ist:

„Ich glaube, dass Qigong, TCM (dazu gehört chinesische Medizin, mongolische Medizin, tibetische Medizin) und besondere menschliche Fähigkeiten, wenn sie erst einmal mit moderner Wissenschaft und Technologie verschmolzen sind, eine marxistische Wissenschaft schaffen würden… Durch diese Integration würde diese neue Wissenschaft auch die moderne Wissenschaft verändern und voranbringen. Dies ist unsere große Aufgabe… Wir können jetzt schon sagen, dass es die wissenschaftliche Revolution des Ostens sein wird.“ (zitiert in Lin Zixin et al., Qigong: Chinese Medicine or Pseudoscience? [Qigong: Chinesische Medizin oder Pseudowissenschaft?], Prometheus Books, 1998)

Um den Streit abzukühlen, führte die Propagandaabteilung der KPCh die Politik der „drei Nein“ ein: „ ,Nein zu Veröffentlichungen, Nein zu Kritik, Nein zu Kontroversen‘ ist die Haltung der Presse bezüglich außergewöhnlicher Fähigkeiten.“ Nach weiterem Druck von Qian Xuesen und anderen gab Hu Yaobang ein Stück weit nach. Im Endeffekt gab es keine gedruckte Kritik oder Kontroverse, aber immer noch eine Menge öffentlicher Aufmerksamkeit für die „außergewöhnlichen Fähigkeiten“. 1986 wurde eine nationale, staatlich finanzierte chinesische Qigong-Forschungsgesellschaft gegründet.

Wie wir in unserem Artikel zu Falun Gong (WV Nr. 762, 3. August 2001) betonten, wurde das explosionsartige Anwachsen reaktionärer Heilkulte durch die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung unter den „Marktreformen“ befeuert (Massenentlassungen bei Staatsbetrieben bedeuteten Verlust der Gesundheitsleistungen, Krankenhausbehandlungen waren unerschwinglich für eine breite Masse der Menschen, die sowieso schon sehr dürftigen „Barfußärzte“-Programme wurden abgeschafft).

Mitte der 1980er-Jahre wurde Qigong zu einem Massenphänomen. Yan Xin, der am Chengdu-Institut für Chinesische Medizin studiert hatte, heilte Berichten zufolge angeblich den gebrochenen Wirbel eines Mannes mittels Qigong. Er wurde von einem Mitglied des Politbüros herbeizitiert, um Deng Jiaxian zu behandeln, einen berühmten Atomwissenschaftler, der an Krebs erkrankt war. Deng starb kurz nach der Behandlung, aber Yan hatte alle so verzaubert, dass man glaubte, er habe Dengs „Schmerzen erheblich gelindert“. Seine Prozeduren waren die gleichen wie die von Gesundbetern in den USA; die KPCh förderte ihn nachdrücklich und er hielt bald Vorträge vor Tausenden von Zuhörern. Er übertrug seine „Kräfte“ übers Fernsehen, nahm an Laborstudien an der Qinghua-Universität teil und wurde vom Militär hinzugezogen, um einen Waldbrand mit Hilfe seiner Gedankenkräfte zu löschen. Weitere Qigong-Meister traten alsbald in Erscheinung und zogen Massen an, darunter der Falun-Gong-Gründer Li Hongzhi.

Diese Gruppe organisierte ihre ersten Demonstrationen als Antwort auf einen Artikel des prominenten Atomwissenschaftlers He Zuoxiu, der Falun Gong kritisierte. Der erste politische Akt dieser verhätschelten Lieblinge von „Menschenrechts“- und „Demokratie“-Verfechtern war es, zu fordern, die Kommunistische Partei solle Falun Gongs Widersacher zensieren. Anfangs hatten sie damit ziemlichen Erfolg, Zeitungen und Fernsehsender überschlugen sich dabei, ihre ursprünglichen kritischen Beiträge zurückzunehmen. Erst nach der Massendemonstration 1999 am Zhongnanhai-Komplex der Bürokratie in Beijing wandte sich die Regierung entschieden gegen Falun Gong.

Nach der Unterdrückung Falun Gongs

Sima Nan, ein Journalist, der als Jugendlicher von den Qigong-Meistern fasziniert gewesen war, engagiert sich nun seit Jahren dafür, sie als Schwindler zu entlarven. Als sie noch die Unterstützung eines Großteils der Bürokratie besaßen, wurde er beschimpft und mehr als einmal heftig verprügelt. Jetzt erscheint er häufig im Fernsehen, und seine Bücher werden veröffentlicht. 2002 wurde ein Gesetz zur Popularisierung von Wissenschaft verabschiedet, das Wissenschaftsjournalisten auferlegt, Pseudowissenschaft zu entlarven. Dies ist äußerst umstritten. Eine Fernsehdebatte darüber artete in eine Schlägerei aus. Der Wissenschaftsautor Fang Shimin (Pseudonym: Fang Zhouzi) wurde wegen Verleumdung verurteilt, weil er schrieb, die „Entdeckung“ eines zehnten Planeten in den 1930er-Jahren anhand der altertümlichen Acht-Diagramme-Theorie sei Pseudowissenschaft gewesen. (Der „Entdecker“ war ein Regierungsfunktionär, der 1992 starb.)

2006 forderte Zhang Gongyao, ein Professor der Zhongnan-Universität, in einer Online-Petition, TCM solle aus dem staatlichen Gesundheitssystem entfernt werden. Das Gesundheitsministerium ging sofort auf ihn los und im Internet brach ein Sturm nationalistischer Gehässigkeiten aus. Sein Vorschlag erhielt aber einige Unterstützung von Wissenschaftlern, darunter He Zuoxiu und Fang Zhouzi. Fang schrieb ein Buch mit dem Titel Piping Zhongyi (Kritisiert chinesische Medizin).

Die Kampagne der Bürokratie gegen Falun Gong bewegt sich voll und ganz im Rahmen des Nationalismus. Der frauen- und schwulenfeindliche Dreck, den die Gruppe von sich gibt, ist dabei kein Thema. Und der antimaterialistische, traditionalistische Mist, der von Leuten wie Falun Gong propagiert wird, geht immer einher mit Angriffen auf die Errungenschaften, die Frauen durch die Revolution gemacht haben.

Nach Falun Gong und der SARS-Epidemie wurden einige der marktwirtschaftlichen Mechanismen in der Gesundheitsversorgung rückgängig gemacht. Für eine große Masse von Menschen bleibt sie dennoch unerschwinglich. Umfragen ergaben zwar, dass die Mehrheit der Bevölkerung an traditionelle Heilverfahren glaubt, doch die meisten sagen, für sich selbst würden sie die sogenannte westliche Medizin vorziehen.

Die traditionelle Medizin ist in der Verfassung des Landes verankert: „Der Staat entwickelt das Gesundheitswesen, fördert die moderne Medizin und Pharmakologie und die traditionelle chinesische Medizin und Pharmakologie.“ In Chinese Medicine in Contemporary China [Chinesische Medizin im heutigen China] (2002) schreibt Volker Scheid:

„Einige meiner Lehrer hatten westliche Medizin studiert oder sich umfassend in biomedizinischen Spezialgebieten weitergebildet, bevor sie Ärzte der chinesischen Medizin wurden. Einer hatte Kampo studiert, die japanische Variante der chinesischen Medizin, ein anderer uigurische medizinische Verfahren. Einige meditierten regelmäßig oder wandten andere Körpertechniken an, um ihr Qi zu stärken und ihre Heilkräfte weiter zu entwickeln. Ein Arzt stellte mich seinem spirituellen Lehrmeister vor, einem ranghohen Mönch in einem buddhistischen Tempel in Beijing, der Rezepte unter der telepathischen Anleitung von Hua Tuo (gestorben 203) ausschreibt, einem berühmten Arzt aus der Epoche der Drei Königreiche. Ein anderer bat mich, ihn zu begleiten, als er Sun Simiao (von ca. 581 bis 682) Opfergaben darbrachte, einem Arzt der Tang-Dynastie, der im Tempel der Weißen Wolke (Baiyunsi) im Süden Beijings als ,König der Medizin‘ (yaowang) verehrt wird.“

Was Scheid hier beschreibt, ist Medizin des staatlichen Sektors, nicht des sehr großen Sektors, der keine staatliche Unterstützung erhält, weil er auf „feudalem Aberglauben“ basiert!

Trotz der riesigen Fortschritte durch die Revolution, die den Kapitalismus stürzte, ist das Programm des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande ein Hindernis für die Beseitigung der materiellen Grundlage aller Arten des religiösen Obskurantismus, wie das Fortbestehen medizinischer Quacksalberei und auch die staatlich unterstützte Wiederbelebung des Konfuzianismus in China zeigen. Die stalinistische KPCh entstellt den Marxismus nationalistisch, und so kommt sie dazu, uraltem chinesischen Aberglauben einen wissenschaftlichen Glanz zu verleihen. Die utopische „Abschaffung“ von Religion und Aberglauben in der Kulturrevolution trug nichts dazu bei, die zugrundeliegende materielle Basis zu beseitigen: den Mangel. Und als die „Marktreformen“ die vormals kostenlose Gesundheitsversorgung für eine große Masse von Menschen unerschwinglich machten, wandten sich viele den billigeren traditionellen Heilverfahren zu. Das medizinische und wissenschaftliche Establishment förderte Konzepte wie Qi und Kräuterbehandlungen, die Yin und Yang in der Balance halten sollen – als Ergebnis erzeugten sie damit eine vom Imperialismus unterstützte konterrevolutionäre Massenbewegung. Nur der Trotzkismus – der die wirkliche Kontinuität der chinesischen Kommunistischen Partei aus der Zeit ihrer Gründung verkörpert – kann mit seinem Programm der proletarischen Weltrevolution den Weg vorwärts weisen, den einzigen Weg zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft des materiellen Überflusses.