Spartakist Nr. 199

August 2013

 

Brecht mit islamischer Reaktion und türkischem Nationalismus — Für Arbeiterrevolution!

Türkei: Massenproteste erschüttern Erdogan-Regime

Für eine Sozialistische Republik Vereinigtes Kurdistan!

Die Ende Mai gegen die Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ausgebrochenen Proteste erschüttern weiterhin die Türkei. Die Demonstrationen, die in einer Reihe von Städten stattfanden, waren von brutalen Versuchen der Polizei ausgelöst worden, ein Bauprojekt im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes im Stadtzentrum Istanbuls durchzusetzen. Mit ihrer harten Haltung ist es der Regierung einstweilen gelungen, die Demonstrationen einzudämmen. Etwa 8000 Menschen wurden verletzt, 60 von ihnen schwer, 11 sind durch auf sie abgefeuerte Tränengasgranaten erblindet. Vier Demonstranten wurden getötet und eine unbekannte Zahl von Menschen wurde verhaftet oder ist verschwunden.

Die türkische Gesellschaft ist gespalten. Erdogan bleibt eine Unterstützerbasis vor allem unter der Bourgeoisie des anatolischen Landesinneren und unter den ländlichen Massen. Die Demonstranten sind vor allem jüngere Leute aus den gebildeteren Mittelschichten größerer Städte, die Erdogans islamistisches Regime zutiefst verabscheuen. Einige Arbeiter aus der politisch gespaltenen türkischen Gewerkschaftsbewegung beteiligten sich wie auch Angehörige der unterdrückten kurdischen nationalen Minderheit.

Nachdem Erdogan und die AKP 2002 an die Macht gekommen waren, begannen sie, ihr reaktionäres religiöses Programm umzusetzen. Die Türkei hat heute über 85 000 Moscheen, eine pro 900 Einwohner – auf ein Krankenhaus kommen 60 000 Einwohner –, wobei es mehr Imame (Vorbeter) als Ärzte oder Lehrer gibt. In seiner ersten Amtszeit versuchte Erdogan erfolglos ein Gesetz zur Kriminalisierung von Ehebruch zu verabschieden, das Fremdgehen mit drei Jahren Gefängnis bestrafen sollte. In den Grundschulen wurde der Koranunterricht eingeführt.

Jüngst wurden der Verkauf von Alkohol und Alkoholwerbung gesetzlich eingeschränkt. Als Turkish Airlines die Flugbegleiterinnen zu neuen knöchellangen Uniformen zwingen und die Benutzung von rotem Lippenstift und Nagellack verbieten wollte, zwangen Proteste das Unternehmen zu einem Rückzieher. Bei seinem Kreuzzug gegen Abtreibung (und auch gegen den Kaiserschnitt!) predigte Erdogan den türkischen Frauen, sie sollten mindestens drei Kinder bekommen. Auch die Rechte von Homosexuellen hat er häufig verurteilt. Im vergangenen Mai wurde in der U-Bahn der Hauptstadt Ankara das Küssen verboten und so Paare, die gegen „Regeln der Moral“ verstoßen, ins Visier genommen.

Hintergrund der gegenwärtigen Proteste ist unter anderem das im März von der Regierung getroffene Abkommen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die im vorwiegend kurdischen Südosten der Türkei drei Jahrzehnte lang einen militärischen Kampf gegen die Zentralregierung führte. Über 40 000 Kurden wurden bei ihrem mutigen Einsatz, nationale Rechte der Kurden durchzusetzen, von der Armee abgeschlachtet. Das Abkommen soll dem kurdischen Volk „Autonomie“ bringen, darunter auch größere Kultur- und Sprachenrechte wie auch Freiheit für den PKK-Führer Abdullah Öcalan und andere Aktivisten. Die PKK behielt ihre Waffen, erklärte aber einen Waffenstillstand, und viele Kämpfer zogen sich in die kurdische Enklave im Nordirak zurück. PKK-Militärführer haben über den einseitigen „Friedensprozess“ geklagt, in dem die Kurden Zugeständnisse machen, während in den Kurdengebieten neue türkische Armeeposten errichtet werden. Am 28. Juni schossen in der kurdischen Provinz Diyarbakir Sicherheitskräfte auf Demonstranten und töteten einen Mann. Am nächsten Tag protestierten in Istanbul etwa 10 000 Linke und Kurden sowie eine Reihe von Gewerkschaftern des öffentlichen Dienstes gegen diesen Mord.

Die Proteste auf dem Taksim-Platz spiegeln die scharfe Polarisierung in der türkischen Gesellschaft über die kurdische nationale Frage wider. Die pro-kurdische Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) mobilisierte ihre Unterstützer nur widerwillig, Ausdruck ihrer zwiespältigen Haltung gegenüber Erdogan, dem Verhandlungspartner der PKK. Als sie dann doch auftauchten, trafen junge Aktivisten mit Öcalan-Plakaten auf fahnenschwingende türkische Chauvinisten. Die beiden wichtigen bürgerlichen Oppositionsparteien, die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), denen die faschistoiden Grauen Wölfe angeschlossen sind, haben versucht, aus der Unzufriedenheit mit Erdogan Kapital zu schlagen. Insbesondere die MHP hat die Regierung für ihr zu großes Entgegenkommen gegenüber der PKK und den Kurden verurteilt.

In den vergangenen zehn Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner effektiv um 43 Prozent gewachsen, wobei sich die Exporte nahezu verzehnfachten und ausländische Direktinvestitionen ebenfalls in die Höhe schossen. Die Türkei ist heute die siebzehntgrößte Wirtschaft der Welt. Doch das Land ist in hohem Maße von ausländischem Kapital abhängig, dessen Abzug einen wirtschaftlichen Abschwung auslösen könnte. Einhaltung der IWF-Richtlinien, Senkung der Sozialausgaben und massenhafte Privatisierungen kamen einer neuen Schicht kapitalistischer Unternehmer zugute, doch zu den türkischen und kurdischen Arbeitern und Bauern sind Reichtum und Wohlstand nicht durchgesickert. Der Mindestlohn für Arbeiter liegt weiterhin bei 773 türkischen Lira oder 305 Euro im Monat bei einer 6-Tage-Woche. Viele Arbeiter schuften für noch weniger Geld 70 Stunden die Woche in der „Schattenwirtschaft“, die ein Drittel der türkischen Wirtschaft ausmacht. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 9 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Prozent.

Die Türkei hat ein bedeutendes Industrieproletariat. Doch weniger als 10 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert, Ausdruck der massiven Niederlage, die der Arbeiterbewegung 1980 durch einen Militärputsch und drei darauffolgende Jahrzehnte schwerer Repression zugefügt worden war. Dieses Jahr versuchten die Gewerkschaften am 1. Mai eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz zu organisieren, doch starke Polizeipräsenz und Tränengaseinsatz verhinderten die Veranstaltung. Als einige Wochen später die gegenwärtigen Proteste ausbrachen, riefen zwei Gewerkschaftsverbände – die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (DISK) und die Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK) – zu einem Solidaritätsstreik auf, an dem der größte Gewerkschaftsverband nicht teilnehmen wollte. Doch DISK und KESK beschränkten sich darauf, die Forderungen des Taksim-Solidaritätskomitees, wie Freiheit für die Verhafteten und Baustopp im Gezi-Park, zu unterstützen. Ein KESK-Funktionär erklärte, „Gewerkschaften sollten keine Lehrer- oder Führerrolle in Anspruch nehmen. Wir sollten einfach nur dabei sein.“ Dies sagt im Grunde aus, dass die Arbeiterklasse – die einzige Klasse mit der Fähigkeit, die kapitalistische Ordnung zu stürzen – lediglich ein untergeordneter Bestandteil der klassenübergreifenden Opposition des Volkes gegen das AKP-Regime bleiben darf.

Verschiedene Pseudomarxisten bejubeln einen „Türkischen Frühling“ und rufen auf: „Verwandelt den Taksim-Platz in den [Kairos] Tahrir-Platz“. Dies ist sowohl sachlich irreführend wie auch politisch dumm. Das Hauptergebnis des „Arabischen Frühlings“ war die Stärkung der Kräfte des politischen Islam, die in Tunesien und Ägypten (wie auch dank NATO-Bomben und -Raketen in Libyen) damit betraut wurden, kapitalistische Austeritätspolitik gegen die Arbeiter und die Armen zu vollstrecken. Die Anführer der Proteste vom Tahrir-Platz waren hin- und hergerissen zwischen Unterstützung für die Islamisten und Bejubelung der Armeeoffiziere, während die Arbeiter weiterhin unterdrückt werden und die Frauen versklavt bleiben. Die Demonstranten in der Türkei aber haben sich ausdrücklich einer islamistischen Regierung, die seit mehr als einem Jahrzehnt an der Macht ist, entgegengestellt.

Diese Absage an eine schleichende Islamisierung ist positiv. Aber sie greift nicht die Klassenspaltung in der Gesellschaft auf. Das Proletariat muss hervortreten und im Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft alle Unterdrückten anführen. Wenn das Proletariat als unabhängiger Anwärter auf die Macht erfolgreich sein soll, muss es von religiöser Reaktion, türkischem Chauvinismus und jeglicher Form von Nationalismus gebrochen werden. Das erfordert die Führung einer multinationalen leninistischen Avantgardepartei, geschmiedet aus fortgeschrittenen Arbeitern und revolutionären Intellektuellen.

Das Erbe Atatürks

Bei den Gezi-Park-Protesten kam es zu hitzigen Debatten über Kemal Atatürk, den Gründer und ersten Führer des modernen türkischen Staates nach dem Zerfall des osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs. „Freiheit-für-Öcalan“-Sprechchöre trafen auf die Rufe „Wir sind die Soldaten Atatürks“.

Atatürk ist eine umstrittene Figur, dessen Vermächtnis für unterschiedliche Personen verschiedene Bedeutung hat. Als die Avantgarde der aufkommenden türkischen Bourgeoisie führten die Kemalisten eine Reihe von Reformen ein, die den Zweck hatten, die Türkei als modernen kapitalistischen Nationalstaat auszugestalten. Mustafa Kemal Atatürk und seine Volkspartei erbten ein wirtschaftlich rückständiges Land ohne eine konzentrierte moderne Industrie. In diesen Tagen war die kleine Kapitalistenklasse entweder armenisch oder griechisch mit einem kleinen jüdischen Bestandteil. Die Kemalisten erklärten das Land zu einer säkularen Republik und schafften das Kalifat (Amt des islamischen Herrschers) ab. Der Islam hörte auf, Staatsreligion zu sein, und das Gesetz der Scharia wurde durch eine Verfassung ersetzt, die auf dem Zivilrecht der Schweiz und dem italienischen Strafrecht (Mussolinis) beruhte, Polygamie wurde verboten und religiöse Orden und Bruderschaften wurden illegal. Religiöse Symbole – der Schleier in Schulen und öffentlichen Einrichtungen, der Fez überall – wurden verboten (siehe: „Türkei: Frauen und permanente Revolution“, Spartakist Nr. 170, März 2008).

Atatürk war ein modernisierender Nationalist, der glaubte, er könne das Land mit ein paar Federstrichen aus dem Mittelalter ins 20. Jahrhundert befördern. Seine Reformen, einem rückständigen, zu 80 Prozent bäuerlichen Land von oben verordnet, waren zwangsläufig bruchstückhaft. Es gab keine Versuche, eine Landreform durchzuführen oder die Großgrundbesitzer zu enteignen. Das Kalifat wurde zwar abgeschafft, aber eine wirkliche Trennung von Moschee und Staat wurde nie durchgeführt. Stattdessen wurde die religiöse Hierarchie mittels des Amtes für religiöse Angelegenheiten staatlicher Kontrolle unterstellt.

Städtische Frauen, insbesondere die der herrschenden Klasse, profitierten zweifellos von den kemalistischen Reformen. Doch das Leben der überwiegenden Mehrheit der Frauen, vor allem auf dem rückständigen, konservativen Lande, änderte sich kaum. Demokratische Errungenschaften, die für westliche Frauen selbstverständlich sind, wie das Recht ihren Ehemann selbst auszusuchen, sind vielen türkischen Frauen verwehrt. Diese Erfahrung zeigt die Grenzen bürgerlicher Reformen auf: Die Unterdrückung der Frauen, die in der Institution der Familie verwurzelt ist, wird durch die extreme Armut, die Ungleichheit und den wirtschaftlichen Mangel der türkischen Gesellschaft noch brutal verschärft.

Die kurdische nationale Frage

Die türkische Republik entstand 1923 nach einem erbitterten Krieg, der den Imperialisten, allen voran Britannien, und ihren Verbündeten, die die spätere moderne Türkei untereinander aufzuteilen versuchten, eine Niederlage zufügte. Zum Aufbau des kapitalistischen Nationalstaates bediente sich die kemalistische Bewegung des türkischen Nationalismus als Waffe. Die Armenier – im Ersten Weltkrieg Opfer eines Völkermordmassakers – wurden wie auch die Griechen größtenteils aus dem Lande vertrieben, und die Juden wurden Opfer pogromistischer Gewalt.

Bald nach seiner Gründung versuchte der türkische Staat die kurdische Bevölkerung gewaltsam zu assimilieren und ihre eigenständige nationale Identität zu zerstören. Es wurde verboten, kurdisch zu sprechen und in kurdischer Sprache zu publizieren, und die Verfassung schrieb fest, dass die Türkei durch und durch türkisch sei. Schließlich wurden die Kurden als „Bergtürken“ definiert. In den frühen 1960er-Jahren erließ die Regierung ein Gesetz zur türkischen Umbenennung kurdischer Ortsnamen. Die staatliche Unterdrückung nahm, insbesondere mit Beginn der militärischen Kampfhandlungen gegen die PKK Mitte der 1980er-Jahre, sprunghaft zu, und Zehntausende von Kurden wurden in türkischen Gefängnissen weggesperrt.

Das Militär zerstörte Tausende kurdischer Dörfer, brachte dabei Zehntausende Menschen um und veranlasste Massenumsiedelungen. Heute lebt eine Mehrheit der etwa 15 Millionen Kurden in den westlichen Städten; eine Schätzung spricht von etwa drei Millionen Kurden allein in Istanbul. Nach einer Untersuchung des Forschungsinstituts KONDA wohnt fast ein Viertel der in Istanbul lebenden Kurden in einem Slumgebiet der Stadt. In Städten der östlichen Mittelmeerregion, z. B. in Mersin und Antalya, sind es 72 Prozent, in Izmir knapp 60 Prozent. Die Studie zeigt außerdem, dass fast ein Drittel aller Kurden im erwerbsfähigen Alter arbeitslos sind. 27 Prozent der Kurden sind von den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen.

Kurdistan selbst ist größtenteils wirtschaftlich rückständig und besteht zum überwiegenden Teil aus schrecklich unterdrückten Bauern und landlosen Pächtern unter der Knute der kurdischen Klanführer, des sunnitischen Klerus und des türkischen Militärs. Doch entstand, zum Teil als Ergebnis der Politik der verbrannten Erde des Militärs, ein kurdisches Proletariat, das sowohl in Westeuropa als auch in der Türkei an integrierten Klassenkämpfen teilnimmt.

1991 kämpften beim Bergarbeiterstreik von Zonguldak türkische und kurdische Bergarbeiter tagelang Seite an Seite. Eine ihrer Forderungen war die Beendigung des „Desert-Storm“-Kriegs des US-Imperialismus gegen den Irak. Im Winter 2009/10 führten kurdische und türkische Arbeiter einen mutigen Streik, als der ehemalige staatliche Tabakmonopolbetrieb Tekel privatisiert und an British American Tobacco verkauft wurde, was die Schließung von 12 Fabriken zur Folge hatte. Etwa 12 000 Arbeiter aus dem ganzen Land marschierten zur Unterstützung der entlassenen Arbeiter nach Ankara und hielten trotz eisiger Temperaturen einen zentralen Park besetzt. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt. Die Arbeiter wurden von der Polizei verprügelt und mit Pfefferspray angegriffen, ihre Führer verhaftet. Der Streik bekam landesweite Unterstützung, wobei sich 100 000 Arbeiter an Solidaritätsdemonstrationen beteiligten. Auch wenn die Gewerkschaftsbosse den Streik schließlich sabotierten, so zeigte diese Schlacht doch, dass nationale Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse in gemeinsamem Klassenkampf überwunden werden können.

Das kurdische Volk ist die größte Nation der Welt ohne eigenen Staat. Kurdistan erstreckt sich von der östlichen Türkei und einem Teil Syriens über den Nordirak bis in den Iran. Als Marxisten, die für die Gleichheit der Nationen eintreten und jeglichen Ausdruck von nationalem Chauvinismus bekämpfen, betonen wir, dass die Rechte des kurdischen Volkes nur durch die Zerschlagung der vier kapitalistischen Staaten erreicht werden können, die es unterdrücken. Diese Perspektive erfordert die Verknüpfung revolutionärer Kämpfe in der gesamten Region wie auch bedingungslose Ablehnung jeglicher imperialistischer Intervention. Wie wir in „Trotzkismus kontra PKK-Nationalismus“ (Spartakist Nr. 136, Sommer 1999) erklärten, ist für diese Aufgabe das Werkzeug leninistisch-trotzkistischer Parteien notwendig, die die Werktätigen verschiedener nationaler und ethnischer Herkunft vereinen.

Um das Vertrauen der kurdischen arbeitenden Massen zu gewinnen, müssen solche Parteien ihre Opposition gegenüber jeglichem anti-kurdischen Chauvinismus unter Beweis stellen, indem sie zum Beispiel für volle Gleichberechtigung der kurdischen Sprache eintreten. Proletarische Revolutionäre in der Türkei würden, ohne die PKK politisch zu unterstützen, dieser Organisation in einem militärischen Konflikt mit dem bürgerlichen Staat beistehen. Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes, d. h. des Rechts auf Gründung seines eigenen Staats, ist für Kommunisten in der Türkei eine grundlegende Pflicht.

Im Gegensatz dazu strotzt eine Erklärung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) vor türkischem Chauvinismus, wo es heißt, dass die türkische Fahne jetzt eine „Fahne in den Händen patriotischer Menschen“ ist. Die Kurden wurden jahrelang von fahnenschwingenden türkischen Patrioten verfolgt, eingesperrt und abgeschlachtet, nur weil sie sich Kurden nannten. Weiter erhebt die TKP den Anspruch, „kurdische Politik“ müsse „ein starker Bestandteil einer vereinigten, patriotischen und aufgeklärten Bewegung der Werktätigen werden“. Und was, wenn es die Kurden entgegen dem türkischen Patriotismus der TKP vorziehen, ihren eigenen Staat zu gründen? Eine solche Möglichkeit ist von der TKP nicht vorgesehen. Und diese erbärmliche Politik ist nicht neu: Die TKP hat die erbittert anti-kurdische CHP als Alternative zu anderen bürgerlichen Parteien unterstützt.

Marxisten lehnen das kleinbürgerlich-nationalistische Programm der PKK entschieden ab. Ja, die PKK hat tatsächlich einen heroischen militärischen Kampf gegen die weit besser ausgerüstete türkische Armee geführt. Doch sie leugnet die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution und schreibt die türkische Arbeiterklasse ab. So bleiben der PKK nur Kungeleien mit verschiedenen Fraktionen der türkischen Bourgeoisie übrig sowie fruchtlose Appelle an die europäischen und amerikanischen Imperialisten, zu ihren Gunsten zu intervenieren.

Die PKK passt ihre Forderungen an das an, wovon sie sich erhofft, dass es für die türkische Bourgeoisie akzeptabel sei, und ruft heute nicht mehr zur Unabhängigkeit der Kurden auf. Stattdessen fordert sie Autonomie und erhofft sich mehr Sprachen- und kulturelle Rechte innerhalb des türkischen Staates. Aber regionale Autonomie unter dem Kapitalismus bedeutet, dass die entscheidende Macht in den Händen des Nationalstaates verbleibt. Selbst wenn ein solches Abkommen erreicht werden könnte, wäre es der türkische bürgerliche Staat und seine Armee, die am Steuer sitzen und letzten Endes entscheiden, welche Rechte die Kurden wirklich bekommen oder nicht bekommen sollen. Dies wird nie zur nationalen Befreiung der Kurden führen.

Nur durch revolutionären proletarisch-internationalistischen Kampf – in dessen Verlauf die kurdischen, türkischen, arabischen und iranischen arbeitenden Massen zusammengeschweißt werden – ist der Sieg möglich. Wir rufen auf zu einer Sozialistischen Republik Vereinigtes Kurdistan als Teil einer Sozialistischen Föderation des Nahen Ostens. Dies ist ein konkreter Ausdruck des trotzkistischen Programms der permanenten Revolution. In Ländern verspäteter kapitalistischer Entwicklung können die lange zuvor im Westen vollendeten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolutionen innerhalb eines kapitalistischen Rahmens nicht gelöst werden. Die dringende Notwendigkeit, diese Gebiete zu modernisieren, eine Agrarrevolution durchzuführen, die nationale Unterdrückung der Kurden und anderer Minderheiten zu beseitigen und grundlegende Rechte für Frauen zu verwirklichen, macht es notwendig, dass die Arbeiterklasse, unterstützt von der Bauernschaft, die Macht ergreift. Um zu überleben und sich zu entwickeln, muss eine sozialistische Revolution in den zurückgebliebenen Ländern auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Europas, der USA und Japans ausgeweitet werden. Deren wirtschaftliche, technologische und wissenschaftliche Fähigkeiten sind entscheidend, damit die halbkoloniale Welt auf das wirtschaftliche Niveau des Westens gehoben werden kann – auf dem Weg zur Errichtung einer sozialistischen, auf materiellem Überfluss basierenden Gesellschaft.

Der politische Islam in der Türkei

Weil das türkische Volk von „säkularen“ nationalistischen Regierungen enttäuscht war, haben nachfolgende Regime die religiöse Karte ausgespielt. Tatsächlich stärkten die kemalistischen Generäle selbst den Islamisten den Rücken. Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren gab es in der Türkei Hunderttausende von Linken. Als Antwort darauf förderten die Generäle das Wachstum der klerikalen Reaktion. Nach einem Militärputsch im Jahre 1971 verhafteten die Machthaber die Führer linksgerichteter Parteien, nicht aber den damaligen Führer der Islamisten Necmettin Erbakan. Erbakan tauchte aus der Bedeutungslosigkeit auf und war in den 1970er-Jahren als stellvertretender Premierminister an zwei Koalitionsregierungen beteiligt. Dennoch unterstützen, wie ein im April veröffentlichter Pew-Forschungsbericht belegt, nur knapp über zehn Prozent der Landesbevölkerung die Einführung der Scharia als geltende Rechtsnorm, im Vergleich zu drei Viertel der Muslime in Ägypten.

Nach dem Militärputsch von 1980 trieben die Generäle die Islamisierung durch Maßnahmen wie Pflichtunterricht in Religion an staatlichen Schulen, Ausbildung von mehr Imamen und Eröffnung zahlreicher religiöser Hochschulen weiter voran. Wie Stephen Kinzer in seinem Buch Halbmond und Stern (2001) schrieb: „Die Generäle ihrerseits setzten auf den Islam als Gegengewicht zu den liberalen und radikalen Strömungen, die an Einfluss gewannen.“ Nach einem Patt bei den Wahlen von 1995 wurde Erbakan Premierminister einer Koalitionsregierung. Kaum an der Regierung scherte sich Erbakan nicht um die Generäle, prangerte den Westen an und solidarisierte sich mit dem iranischen Klerus. 1997 wurde Erbakan zum Rücktritt gezwungen, und seine Wohlfahrtspartei wurde verboten. Obgleich Erbakan zu Gefängnis verurteilt worden war, wurde er amnestiert und musste nicht in Haft. Doch sein Islamisten-Zögling Erdogan wurde wegen Subversion verurteilt und für vier Monate ins Gefängnis gesteckt.

Obwohl die Islamisten einen Rückschlag erlitten, wurden sie nicht zerschlagen. 2002 wurde Erdogans AKP ins Regierungsamt gewählt. Erdogan bemühte sich um das Image eines „moderaten“ Islamisten und „Demokraten“. Er trieb die Bewerbung der Türkei um EU-Mitgliedschaft voran und verfügte einige kleinere Reformen in Kurdistan, so den Gebrauch der kurdischen Sprache in privaten – nicht aber in staatlichen – Schulen und in sehr begrenztem Umfang kurdischsprachige Radiosendungen. Das machte im Westen einen guten Eindruck und wurde von verschiedenen bürgerlichen Kritikern hoch gelobt.

Derweil stellte Erdogan seinen Feinden unter den kemalistischen Generälen nach, weil er erkannte, dass sie für die Festigung seiner Macht eine Bedrohung darstellten. Mit Hilfe der Gerichte und anderer Institutionen säuberte er schrittweise das Offizierskorps. So ist in der Türkei die Armee heute den Islamisten untergeordnet. Dies ist zweifellos eine andere Situation als in Ägypten.

Als Erdogan sicherer im Sattel saß, brachte er den staatlichen Repressionsapparat zunehmend gegen jeden in Stellung, der als Gegner angesehen wurde. Bis 2005 hatte die AKP-Regierung die militärische Repression in Kurdistan dermaßen erhöht, dass die PKK ihren fünfjährigen Waffenstillstand beendete. Die Türkei begann auch PKK-Lager im Irak zu bombardieren. Derweil wurden „Anti-Terror“-Gesetze dazu benutzt, Tausende Gewerkschaftsaktivisten, Studenten, Rechtsanwälte, Journalisten und Universitätsdozenten zu verfolgen.

Unter Erdogan wurde eine der berüchtigtsten Klauseln der türkischen Verfassung, Artikel 301, „reformiert“, so dass es jetzt ein Verbrechen ist, die türkische Nation zu verunglimpfen statt wie früher das „Türkentum“ – was absolut keinen Unterschied ausmacht. Im Oktober 2005 erhielt der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink eine sechsmonatige Bewährungsstrafe nach Artikel 301, weil er über das Massaker von 1915 an den Armeniern geschrieben hatte. Dink wurde von einem türkischen Nationalisten ermordet, für den der Artikel 301 eine Lizenz zum Töten darstellte. Mehrere Dutzend Mitglieder der Lehrergewerkschaft Egitim Sen, die auf eine stolze Geschichte der Verteidigung des Rechtes auf muttersprachlichen Unterricht zurückblicken kann, wurden monatelang wegen erfundener Anklagen aus der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung inhaftiert und sehen immer noch einem Prozess entgegen.

Erdogan hat ein massives Bauprogramm in Angriff genommen, das oftmals der Verherrlichung der osmanischen Zeiten dienen soll. Ein Beispiel ist das Einkaufszentrum, das den Gezi-Park ersetzen soll, mit einer Artilleriekaserne jener Zeit und einer Moschee. Bauinvestoren haben es auf ärmere innerstädtische Viertel abgesehen und vertreiben so Kurden, Roma und andere in Slums außerhalb der Stadtgrenze.

Das islamistische Regime hat auch die Provokationen gegen die alevitische Minderheit verschärft. Die Aleviten, die bis zu 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind ein nicht-orthodoxer Nebenzweig des schiitischen Islam. Sie werden als Verfechter des Säkularismus betrachtet und sind überproportional in der Linken vertreten. Alevitische Männer und Frauen gehen gemeinsam auf Pilgerfahrt; Frauen sind nicht verschleiert. Aleviten fasten nicht während des Ramadan und beten normalerweise weder in Moscheen noch betrachten sie den Koran als Quelle der Rechtsprechung. Die Regierung benannte eine neue, im Bau befindliche dritte Bosporusbrücke nach dem Osmanenherrscher Yavuz Sultan Selim. Wegen seiner Rohheit als Selim der Grausame bekannt, massakrierte dieser im 16. Jahrhundert Zehntausende Aleviten. Wie vorherzusehen war, empörte die Namensgebung der Brücke die Aleviten. Sie werden von den sunnitischen Traditionalisten als Ketzer betrachtet und auch heute noch verfolgt.

Die regionalen Ambitionen der Türkei

Die Türkei ist immer noch, wie seit vielen Jahrzehnten, ein fester Verbündeter der westlichen Imperialisten. Als Nachbarland der ehemaligen Sowjetunion diente sie den USA nach dem Zweiten Weltkrieg als wertvoller Horchposten. Als zuverlässiger NATO-Verbündeter entsandte die Türkei Truppen, die Seite an Seite mit den Imperialisten im Koreakrieg kämpften. Während die USA der größte militärische Unterstützer der Türkei sind, sind die türkischen Kapitalisten wirtschaftlich vom deutschen Imperialismus abhängig, wohin sie mehr als anderswohin exportieren. Deutschland trainierte und drillte auch die Todesschwadronen des türkischen Militärs, die in Kurdistan eingesetzt wurden.

Nach seinem Machtantritt propagierte Erdogan massiv die Vorteile der Europäischen Union und stellte die Mitgliedschaft als den Weg zu wirtschaftlichem Wohlstand dar. Die Internationale Kommunistische Liga war immer ein konsequenter Gegner der EU, eines imperialistischen Bündnisses, dessen Zweck es ist, den europäischen Arbeitern Austerität aufzuerlegen und den größeren Mächten, vor allem Deutschland, als Werkzeug zur Ausbeutung der schwächeren, abhängigen kapitalistischen Staaten zu dienen. Die EU hat seitdem schon lange ihren Glanz verloren, vor allem im Lichte der schwer lastenden kapitalistischen Wirtschaftskrise. Die sich rapide verschlechternden Lebensbedingungen in Europa, insbesondere in Spanien, Griechenland, Zypern und anderswo im Süden der EU, zeigen, dass das Gerede vom „Zusammenwachsen“ Europas nichts damit zu tun hat, ärmere Länder auf das Niveau reicherer Nationen zu heben, sondern im Gegenteil noch mehr kapitalistische Ausbeutung ermöglicht.

Viele Kurden haben die Illusion, die EU würde Minderheitenrechte schützen, doch die Wahrheit ist, dass EU-Staaten Immigranten und ethnische Minderheiten, wie die Basken in Spanien und Frankreich und die Katholiken in Nordirland, brutal verfolgen. Sowohl die EU als auch die USA haben die PKK als „terroristische Organisation“ verboten. Die IKL fordert Freiheit für Öcalan und ist Gegner des PKK-Verbots. Ebenso haben wir zur Verteidigung türkischer Guerilla-Anhänger, wie der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), und anderer Linker aufgerufen, die im Rahmen der „Anti-Terrorismus“-Hexenjagd verfolgt werden.

Es ist höchst fraglich, ob die rassistischen und scheinheiligen europäischen Herrscher jemals einem großen, überwiegend muslimischen Land wie der Türkei die EU-Mitgliedschaft bewilligen würden, deren Bürger das Recht hätten, in EU-Staaten zu reisen und dort zu arbeiten. Jedenfalls legt die EU dem Beitritt der Türkei immer neue Hindernisse in den Weg. Während das AKP-Ziel eines EU-Beitritts ins Stocken geraten ist, legt Erdogans „Neo-Osmanismus“ besonderen Wert auf die Einflussnahme in Gegenden, wo einst das Sultanat herrschte oder wo Turksprachen gesprochen werden, ein Gebiet, das sich von Bosnien auf dem Balkan über den Nahen Osten bis nach Zentralasien erstreckt. Zwar bleibt Europa der größte Handelspartner der Türkei, doch von 2002 bis 2010 hat sich der Handel mit den Golfstaaten verfünffacht und mit Ägypten versiebenfacht. Bauunternehmen wie auch die Lebensmittel- und die Textilkonzerne der Türkei, die vom Persischen Golf ausländische Kapitalinvestitionen erhalten, investieren ihrerseits im übrigen Nahen Osten.

Erdogans Türkei hat sich mit den sunnitischen arabischen Staaten und den westlichen Imperialisten in einen Block eingereiht, dessen oberstes Angriffsziel der schiitische Iran ist. So steht die AKP-Regierung auf der Seite der syrischen Aufständischen gegen das bonapartistische Regime von Baschar-al-Assad, einem Verbündeten des Iran. Als Durchgangsland für Waffenlieferungen an die Aufständischen hat die Türkei erfolgreich die Stationierung von NATO-Patriot-Raketen auf ihrem Boden vorangetrieben. Doch Erdogans Kriegskurs ist in der Türkei äußerst unpopulär, und die Furcht, das Land könnte in einen Krieg hineingezogen werden, ist weit verbreitet. Als Marxisten sagen wir, dass in dem kommunal bestimmten syrischen Bürgerkrieg beide Seiten zutiefst reaktionäre Feinde der Arbeiterklasse sind. Doch sollten die USA und/oder die europäischen Mächte einen militärischen Angriff auf Syrien beginnen, müssen die Werktätigen weltweit gegen die imperialistischen Streitkräfte auf der Seite Syriens stehen.

Die Türkei hat umfangreiche Beziehungen zur kurdischen Regionalregierung im Nordirak, wo türkische Firmen den Großteil der Bauverträge haben. Irakisch-Kurdistan ist jetzt eine halb-autonome Enklave, deren geschützter Status vor allem auf der Unterstützung des US-Imperialismus beruht. Aus jüngst erschlossenen Ölfeldern in Irakisch-Kurdistan wird über Pipelines Öl in die Türkei fließen, was die mehrheitlich schiitische Regierung des Irak ärgert, die sich beklagt, keinen gerechten Anteil aus den Einnahmen zu bekommen. Inzwischen sind viele Kämpfer der PKK nach Irakisch-Kurdistan abgewandert. Sollte es zwischen der Türkei und der PKK erneut Kampfhandlungen geben, könnten die pro-amerikanischen irakisch-kurdischen Anführer womöglich auf kurdische PKK-Kämpfer Jagd machen, wie sie es bereits in der Vergangenheit taten.

Es gibt eine lange Geschichte gegenseitigen Verrats zwischen rivalisierenden kurdisch-nationalistischen Gruppen, die den Imperialisten oder dem einen oder anderen regionalen kapitalistischen Staat Avancen machen. Während der US-Besetzung des Irak betonten wir, dass „jeder Kampf für kurdische Unabhängigkeit, der nicht den Widerstand gegen die Besatzung und gegen die nationalistischen Parteien, die ihr dienen, zu seinem Ausgangspunkt macht, unausweichlich der Besatzung untergeordnet sein“ wird („Die US-Besatzung und die kurdische Frage“, Spartakist Nr. 163, Sommer 2006). Der Artikel fährt fort:

„Als Teil des multinationalen Proletariats des Nahen Ostens können die kurdischen Arbeiter eine führende Rolle beim Sturz des verrotteten Gefüges spielen, das im Dienste der imperialistischen Herrscher errichtet wurde. Kurdische und türkische Arbeiter in Europa, besonders in Deutschland, können ein lebendiges Bindeglied sein zur Verknüpfung des kurdischen Unabhängigkeitskampfes mit dem Kampf für sozialistische Revolution im Nahen Osten und in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Westeuropas.“

Dieser Kampf erfordert die Führung durch internationalistische Arbeiterparteien, die in Opposition zu allen bürgerlichen Kräften und allen Formen religiöser Reaktion geschmiedet werden.

Übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1027, 12. Juli