Spartakist Nr. 199

August 2013

 

Leserbrief

Zum Neupack-Streik

Nachfolgend drucken wir einen Leserbrief zu unserem Artikel „Monatelanger Kampf für Tarifvertrag: Streik bei Neupack – Für Streikpostenketten, die niemand überquert!“ aus Spartakist Nr. 198, Mai 2013 ab. Am 28. Juni wurden die Verhandlungen der IG-BCE mit dem Neupack-Vorstand über eine Betriebsvereinbarung beendet. Der Einstiegslohn beträgt nun 9 Euro statt zuvor 7,80 Euro und die willkürliche Lohnpolitik wurde eingedämmt. Die wesentlichen Streikziele der Arbeiter wie die Erkämpfung eines Tarifvertrags wurden nicht erreicht. Stattdessen sind nur sehr bescheidene Maßnahmen erkämpft worden. Dass die Maßregelungsklausel nicht den Betriebsratsvorsitzenden Murat Günes einschließt, stellt ein Zurückweichen der Gewerkschaften vor dem Rachefeldzug des Kapitalisten Krüger dar. Statt gegen mögliche Sanktionen der Kapitalisten gegen die Streikenden vorzugehen und sie gegen Kündigung zu verteidigen, überlässt die IG-BCE-Führung es den bürgerlichen Gerichten, über die Streikenden zu entscheiden. Weg mit allen Gerichtsverfahren gegen Murat Günes und alle anderen Streikenden!

Halle, 21. Mai 2013

Liebe Genossen!

Mit eurem sehr guten Artikel zum Streik bei Neupack stimme ich zu 99,9 Prozent überein. Deshalb hab ich ihn kopiert und an Freunde und Kollegen verteilt, um mit ihnen darüber zu diskutieren. Ein paar Kritikpunkte und Fragen hab ich dennoch: Betriebsrat Murat Günes sagte, dass vor dem Streik die polnischen, die deutschen Kollegen usw. jeweils unter sich blieben. (Das hab ich so auch von Kollegen aus anderen Betrieben gehört.) Auf der nächsten Seite schreibt ihr dagegen, dass die polnischen, die deutschen Arbeiter usw. schon vor dem Streik „kollegial“ zusammen arbeiteten. Das widerspricht sich doch! Ich sehe hierin eine gewisse „Idealisierung“. Auch würde ich gern erfahren, wie die Streikbrecher in dem Wohnheim auf die Streikinfos in polnischer Sprache reagierten.

Des weiteren nanntet ihr Syndikalismus und Opportunismus in einem Atemzug als „bürgerliche Ideologie“. (Jaja ich weiß – bei Lenin so ähnlich…) Aber ich halte Syndikalismus weder für per se revolutionär, noch für per se bürgerliche Ideologie. Er ist ganz einfach, wie Lenin auch sagte, eine Strafe für den Opportunismus. Ich denke, syndikalistisch orientierte Kollegen, es sind ohnehin sehr wenige, kann man viel eher in eine kämpferische Praxis integrieren – sprich auch anhand der Praxis überzeugen – als reformistische Arbeiteraristokraten. In diesem Zusammenhang jetzt der grüne Elefant: Ihr kritisiert ganz richtig die reformistische DGB-Führung usw. Dann soll aber nun aus Streiks eine klassenkämpferische Führung entstehen. Aber wie genau soll das gehen? Ich denke, dass im Fall des Klassenverrats selbstständig organisierte Streiks wie bei Opel Bochum (2004) eine sehr wichtige Rolle spielen werden, wohl auch Fabrikkomitees, der Basis verpflichtete Streikleitungen usw. – aber in den Gewerkschaften. Die DGB-Gewerkschaften und ihre Führungen sind ja in ihrer Struktur und Praxis nicht demokratisch – oder nur formal demokratisch –, sondern sie sind bürokratisch und reformistisch, ein Teil des Systems. Sie können deshalb nicht reformiert werden. Es geht ja immerhin auch um die Verfügungsgewalt über Streikgelder usw. Deshalb denk ich, dass in den Gewerkschaften und Betrieben, nicht abgeschottet, sondern in Aktionseinheit mit der Basis, eine revolutionäre oder zumindest klassenkämpferische Opposition organisiert werden muss, um den Verrat der Führungen zu verhindern oder wirkungslos zu machen (z. B. bei einem unbefristeten Generalstreik in der Großindustrie).

Was meint ihr dazu?

revolutionäre Grüße
T. aus Halle

Spartakist antwortet:

Unser Wissen über Neupack und den Streik beziehen wir aus Gesprächen, die wir mit den Streikenden beim Verkauf unserer Zeitung vor Ort führten, sowie aus Artikeln von Linken und der bürgerlichen Presse. In einer „Antwort der Streikenden und des Solikreises auf eine Anbiederung vom 5.1.13 auf der HH-Website der NPD“ (12. Januar) verwies der Soli-Kreis Neupack auf die multiethnische Zusammensetzung der Neupackarbeiter schon vor dem Streik:

„Nun passieren den Nazis bei dem Versuch, sich ,deutschen Arbeitern‘ anzuschmieren, weitere Fehler. Sie malen ein schreckliches Gemälde an die Wand: Künftig drängen Polen, Bulgaren, Rumänen, Spanier, Italiener, Portugiesen und Griechen ,massenhaft auf den deutschen Arbeitsmarkt‘. Konkret haben sie übersehen, dass bei Neupack in Stellingen und Rotenburg etliche Angehörige dieser Nationalitäten seit vielen Jahren und zwar recht friedlich und kollegial nebeneinander arbeiten. Und seit Streikbeginn sich besser kennengelernt haben und zusammengeschweißt worden sind. Und das kann auch keine Nazi-Propaganda beeinträchtigen.“

Ohne das Vorhandensein solch rudimentären Klassenzusammenhalts unter Teilen der Belegschaft, ohne solche politisch fortgeschritteneren Arbeiter, hätte der Streik bei Neupack gar nicht aufgenommen werden können. Der Streik trug dann seinerseits dazu bei, die vielfältigen von der Bourgeoisie geschürten Spaltungen der Arbeiter entlang ethnischer und nationaler Linien – Männern und Frauen, Alt und Jung – unter allen Streikenden, d. h. auch unter zuvor rückständigeren Arbeitern, zu überwinden. Reaktionen auf die polnisch-sprachigen Streikinfos seitens der zum Streikbruch angeheuerten Arbeiter sind uns leider nicht bekannt.

Deine 99,9-prozentige Zustimmung zum Artikel freut uns natürlich, doch selbst Quantitäten so klein wie 0,1 Prozent können qualitativ entscheidend sein. Deine Einwände dagegen, den Syndikalismus wie den Opportunismus als Form bürgerlicher Ideologie zu charakterisieren, sind nicht stichhaltig. Entscheidend für eine marxistische Beurteilung politischer Tendenzen ist nicht, wie kämpferisch die Anhänger einer politischen Richtung für ihr Programm eintreten, sondern ihre Stellung zur Frage: Welche Klasse soll herrschen? Der Syndikalismus entwickelte sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Anarchismus und trat für eine kollektivierte Wirtschaft unter Kontrolle der Gewerkschaften ein, was ultimativ durch einen Generalstreik erreicht werden sollte. Unter dem Eindruck der Russischen Revolution von 1917 spalteten sich die Syndikalisten und die besten von ihnen gingen aufgrund der Lehren dieser ersten siegreichen proletarischen Revolution zu den Bolschewiki über. Spätestens seither ist die Ablehnung der Diktatur des Proletariats, der Errichtung von Arbeiterstaaten, seitens des Syndikalismus wie auch seitens des Reformismus in der Praxis bestätigt und explizit. Damit passen sich beide notwendig an die bürgerliche Ordnung und ihren Bewahrer, den kapitalistischen Staat, an.

In Deutschland, wo vorm Ersten Weltkrieg die Gewerkschaften von der SPD aufgebaut wurden und die Gewerkschaftsbürokratie eine der Hauptstützen des Opportunismus war, wurde der Syndikalismus nie sehr stark und auch heute sind Syndikalisten im ideologischen Sinne eine Randerscheinung. Was heute in der Linken und Arbeiterbewegung als reine Gewerkschafter firmiert, sind in der Regel Vertreter der ökonomischen Version des Reformismus, die vom politischen Reformismus, d. h. Parlamentarismus, von SPD und Linkspartei enttäuscht sind. Mit Hilfe von Militanz im Betrieb soll die Lage der Arbeiter verbessert werden, aber alles bleibt im Rahmen des Kapitalismus und die politische Dominanz der Sozialdemokratie über die Arbeiterbewegung wird nicht in Frage gestellt – und natürlich macht man bei Wahlen, wenn’s mal eng wird, stillschweigend sein Kreuz beim „kleineren Übel“. Sobald politische Fragen aufgeworfen werden, die über den Rahmen von Streiktaktiken hinausgehen, teilen solche reinen Gewerkschafter alle Illusionen in den bürgerlichen Staat, wie sie von SPD und Linkspartei und ihren linken Satelliten verbreitet werden.

Was hatten denn die als Gewerkschaftsopposition auftretende Jour fixe und die Führer vom Soli-Kreis Neupack den Arbeitern politisch als Alternative zum Reformismus zu bieten? Die Sozialpartnerschaft der IG-BCE-Führung wurde mit heftigen Worten kritisiert, die Taktik des Flexistreiks als „Flexiverarsche“ gebrandmarkt usw., aber die politische Grundlage von Sozialpartnerschaft und zahnlosen Streiktaktiken wurde nicht angerührt. Sich auf den Flexistreik-Rückzug einzuschießen verdeckte, dass schon zuvor die Streikpostenketten nicht dicht waren, wodurch die Produktion nicht wirklich zum Erliegen gebracht werden konnte. Das hat sicher eine demoralisierende Wirkung auf die Streikenden gehabt – „Kampf! Kampf!“-Aufrufe ohne Antwort darauf, wie man den Laden wirklich dicht kriegt, helfen nicht.

Angesichts des Einsatzes von Streikbrechern, Bullenangriffen und Gerichtsinterventionen stand von Anfang an die Aufgabe, Massenstreikpostenketten aufzubauen, die niemand überquert. Mit einer Belegschaft von ein paar Hundert wie bei Neupack wäre das nur durch die breitere Mobilisierung der IG-BCE-Mitgliedschaft bzw. anderer Gewerkschafter möglich gewesen, um den Neupack-Bossen und ihrem Staat die Stirn bieten zu können. Eine solche klassenkämpferische Strategie ist nicht nur der Klassenzusammenarbeit der sozialdemokratischen IG-BCE-Führung entgegengesetzt, sie ist auch dem Vertrauen auf den bürgerlichen Staat an der Gewerkschaftsbasis entgegengesetzt. Wieso sollte man als Basis-Gewerkschafter Kopf und Kragen bei der Verteidigung von Streikpostenketten gegen Bullenknüppel riskieren, wenn doch der „demokratische“ Staat gefälligst die Neupack-Bosse zurückpfeifen und dafür sorgen sollte, dass seine Bürger „gerechten Lohn für gerechte Arbeit“ bekommen? Genau solche Illusionen wurden von Jour-fixe und dem Soli-Kreis usw. nicht nur nicht bekämpft, sondern noch verstärkt. Wie unser Artikel darlegt, führten sie im Streik Veranstaltungen für bessere Streikgesetze durch, losgelöst vom Klassenkampf.

Wenn du in deinem Brief schreibst, dass die reformistischen und bürokratischen DGB-Gewerkschaften „ein Teil des Systems“ seien und „deshalb nicht reformiert werden“ können, so verwischst du den Klassenunterschied zwischen Gewerkschaften, die Massenorganisationen der Arbeiterklasse sind, und dem bürgerlichen Staat, der der Bourgeoisie dient und tatsächlich nicht dazu gebracht werden kann, der Arbeiterklasse zu dienen. Wie die Bourgeoisie insgesamt, verstehen auch die Neupack-Bosse diesen Unterschied sehr wohl, bekämpfen die IG-BCE und stützen sich dabei auf ihren Staat.

Dein Brief stellt einfach eine kämpferische Basis einer unwilligen Führung gegenüber und wischt hinweg, dass es eines politischen Kampfes bedarf, um die Arbeiterbasis von ihrer reformistischen Führung zu brechen. Du zählst verschiedene organisatorische Mittel und Taktiken auf, um zu einer klassenkämpferischen Arbeiterführung zu gelangen – Fabrikkomitees, der Basis verpflichtete Streikleitungen, selbstständig organisierte Streiks, unbefristeter Generalstreik –, lässt aber das entscheidende Instrument, das Bewusstsein der Arbeiter zu heben, weg: eine leninistisch-trotzkistische Arbeiterpartei, die in die Klassenkämpfe interveniert. Notwendig ist nicht ein kämpferischerer Reformismus, sondern ein bewusster Bruch damit und das Bewusstsein, dass die Arbeiterklasse sich durch den Sturz der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse konstituieren muss.

Das wird kein Generalstreik, auch oder gerade wenn er nicht einfach symbolisch bleibt, erreichen können, wie auch der letzte unbefristete Generalstreik in diesem Land gezeigt hat, der im März 1920 den rechten Kapp-Putsch abwehrte. Der Generalstreik ging in einen proletarischen Aufstand über, als zehntausend bewaffnete Arbeiter in der Roten Ruhrarmee begannen, Reichswehr und Polizei zu zerschlagen. Da die Mehrheit der Arbeiter noch der reformistischen SPD und der zentristischen USPD folgten und die KPD nur eine Minderheit darstellte, konnte die Erhebung auf das Ruhrgebiet begrenzt, durch das Versprechen einer linken parlamentarischen Koalitionsregierung aus SPD und USPD gespalten und anschließend mit Truppen aus dem übrigen Reich blutig niedergeschlagen werden. Wie Trotzki in Lehren des Oktober 1924 zusammenfasste: „Ohne eine Partei, unter Umgehung einer Partei, durch ein Surrogat einer Partei kann die proletarische Revolution nie siegen.“