Spartakist Nr. 199 |
August 2013 |
Frauen und Revolution
Frankreich: Pseudotrotzkisten unterstützen Entlassung von Frauen mit Kopftuch
Weg mit den rassistischen Kopftuch-Verboten!
Der folgende Artikel ist übersetzt aus Le Bolchévik Nr. 204 (Juni 2013), Zeitung unserer Genossen der Ligue trotskyste de France.
3. Mai – Im März hob der Kassationsgerichtshof (in Frankreich das höchste Gericht für Privatrecht) ein Urteil auf, das die Kindertagesstätte Baby Loup dazu berechtigt hatte, eine Angestellte wegen Tragens eines islamischen Kopftuchs zu entlassen. Präsident François Hollande [von der Sozialistischen Partei] nahm dieses Urteil zum Anlass anzukündigen, dass er ein neues Gesetz wolle, das die Beschränkungen für das Tragen des Kopftuchs, die bereits in öffentlichen Schulen gelten, auf den privaten Sektor ausdehnt. Er erklärte: „Überall, wo es bei der sogenannten öffentlichen Kleinkindbetreuung zum Kontakt mit Kindern kommt, sollte das Gleiche gelten wie in [öffentlichen] Schulen.“
Während Regierung und Kommunalverwaltungen schon längst Entbindungskliniken schließen, die Familienbeihilfe kürzen, Kindern von Arbeitslosen das Schulessen verwehren usw., können Krabbler und Kleinkinder ruhig schlafen, denn Hollande und sein Bildungsminister Vincent Peillon werden sie vor kopftuchtragenden Betreuerinnen beschützen. Hollande & Co. hoffen, ihr neuerlicher Kreuzzug im Namen des heiligen Prinzips des „Laizismus“ und der „Werte der Republik“ werde ihnen etwas Entlastung verschaffen, indem er die Aufmerksamkeit der Menschen von der grassierenden Arbeitslosigkeit und den immer neuen Kahlschlagsprogrammen ablenkt.
Unter den Unterstützern Hollandes in der Baby-Loup-Affäre befinden sich viele derjenigen, die gestern schon die antimuslimischen Provokationen eines Sarkozy lautstark unterstützt haben: Alain Finkielkraut, Philippe Val, Jeannette Bougrab, Elisabeth Badinter usw. Doch hinter ihnen stehen die Parti de gauche und Lutte ouvrière (LO) als groteske linke Flankendeckung für diesen jüngsten rassistischen Angriff des französischen Staates. Und sie haben sich der Meute ausgerechnet im Namen des Kampfes gegen Frauenunterdrückung angeschlossen. So betitelte LO ihren Artikel zum Baby-Loup-Urteil: „Der Kassationsgerichtshof und die Baby-Loup-Kindertagesstätte: ein Angriff auf Frauenrechte“ (Lutte Ouvrière, 29. März).
Es ist offensichtlich, dass ein neues Gesetz, das das Kopftuch im privaten Sektor verbietet, nur die häusliche Isolation muslimischer Frauen und ihre wirtschaftliche Not verstärken wird. Ihre Familien werden den Preis zu bezahlen haben. Diese Kampagne steht im Dienste der rassistischen Lüge, dass nicht das kapitalistische System, sondern angeblich Frauen mit Kopftuch und Muslime und Minderheiten allgemein das wirkliche gesellschaftliche Problem sind. Die Ajatollahs des Laizismus wollen ihre Offensive noch ausdehnen. Im Namen „religiöser Neutralität“ versuchen sie jetzt, auch Kinderbetreuerinnen, die von zu Hause aus arbeiten, das Tragen des Kopftuches zu verbieten. Ein ähnliches Gesetz war vor einem Jahr vom Senat verabschiedet worden. Es wurde von der Gesetzgebungsagenda der Nationalversammlung gestrichen, ist aber jetzt auf Betreiben von Roger-Gérard Schwartzenberg, Ehrenpräsident der [bürgerlichen] Radikalen Linken und Mitglied der Regierungsmehrheit, wieder aufgetaucht.
Diese häuslichen Kinderbetreuerinnen, oft Musliminnen, versehen angesichts des Mangels an Kindertagesstätten in Frankreich einen Dienst, der es vielen Tausend anderen Frauen erlaubt, aus dem Haus zu kommen und arbeiten zu gehen. Die Kindertagesstätte Baby Loup bietet in einer der Arbeitervorstädte von Paris die gesamte Woche hindurch Kinderbetreuung rund um die Uhr an – was sehr selten ist. Doch die großartigen Verteidiger von Laizismus und Frauenrechten sind nicht nur bereit, lieber die Schließung dieser Einrichtung in Kauf zu nehmen als eine Frau mit Kopftuch dort angestellt zu haben, sie sind auch bereit, zahllose andere Frauen zur Arbeitslosigkeit zu verdammen, sollte ihr Gesetz über häusliche Kinderbetreuung verabschiedet werden. Wir sagen: Nein zu rassistischer Ausgrenzung und zu Gesetzen gegen das Kopftuch! Nieder mit der antimuslimischen Offensive der Regierung!
„Laizismus“: Deckmantel für antimuslimische Vorurteile
Dieser sogenannte Laizismus, der ein Deckmantel für antimuslimische Vorurteile ist, hat nichts mit dem Prinzip des Säkularismus zu tun, das 1789 von der Französischen Revolution begründet wurde. Wie wir in unserem Artikel „Frauen und Immigration in Frankreich“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 23, Frühjahr 2003) erklärten:
„In Wirklichkeit verfälschte der französische Staat die Ziele und Werte der Französischen Revolution mit seinem Angriff auf diese muslimischen jungen Frauen. Unter dem Ancien Régime des französischen Königs galt Frankreich als die ,älteste Tochter der Kirche‘. Das Prinzip des Säkularismus in der Französischen Revolution ergab sich aus der Notwendigkeit, die freie Meinungsäußerung zu schützen und die Gesellschaft aus den Händen der katholischen Kirche zu befreien. Dass dieses Prinzip heute in der französischen Gesellschaft von der katholischen Mehrheit zur Unterdrückung einer muslimischen Minderheit missbraucht wird, ist eine grausame Ironie der Geschichte. Dies unterstreicht das Ausmaß der Degeneration der französischen Bourgeoisie im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs gegenüber der Klasse, die die Revolution von 1789 angeführt hat, die eine historische Wasserscheide im Kampf für die menschliche Emanzipation darstellte.“
Die Ligue trotskyste de France war von jeher gegen Kopftuch und Schleier, die das reaktionäre soziale Programm repräsentieren, Frauen zu Hause innerhalb des Familienkreises in einer sklavenähnlichen Position einzusperren. Ebenso lehnen wir auch die äußeren Symbole der anderen Religionen ab, die alle die Familie hochhalten, die die Grundlage der Frauenunterdrückung ist. Ein Gesetz von 1905 führte in Frankreich zu einer gewissen Trennung von Kirche und Staat, doch der Katholizismus hat sich beträchtlichen gesellschaftlichen Einfluss bewahrt und wird von der herrschenden Klasse dazu benutzt, gesellschaftlichen Konservativismus zu stärken und die kapitalistische Klassenherrschaft zu segnen. Dies wurde in den vergangenen sechs Monaten wiederholt vorgeführt, als Geistliche und ihre gut situierten Schäfchen auf die Straße gingen, um ihr reaktionäres Gift zu versprühen und gegen neue demokratische Rechte von Homosexuellen und für ihr Leitbild „ein Mann und eine Frau, lebenslang“ zu beten und zu demonstrieren.
Der Islam wird in Frankreich nie etwas anderes sein als eine Religion des Gettos, d. h. eine Religion der Unterdrückten, die oftmals die Hoffnung aufgegeben haben, gegen die rassistische Ausgrenzung und die Armut, die sie unter dem französischen Kapitalismus erdulden müssen, zu kämpfen. Sie wenden sich der Religion nicht nur als Zuflucht zu, sondern auch als Akt der Auflehnung gegen den französischen Staat, der sie ausgrenzt. Aus diesem Grund nannte Marx die Religion „das Gemüt einer herzlosen Welt“. In Chanteloup-les-Vignes, dem Standort des Kinderbetreuungszentrums Baby Loup, sind die Moscheen überfüllt, ebenso in vielen Banlieues [Minderheiten- und Arbeiterviertel am Rand großer Städte] im ganzen Land, wo die Arbeitslosenquote mindestens doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt (und für Jugendliche noch höher).
Fatima Afif, die Arbeiterin, die im Zentrum der Baby-Loup-Affäre steht, wollte, als sie im Dezember 2008 aus einer fünfjährigen Elternpause zu ihrer Kindertagesstätte zurückkehrte, offenbar das Kopftuch wieder tragen. Vor ihrer Elternpause, die im Mai 2003 begann, hatte sie keine Schwierigkeiten gehabt, ihr Kopftuch auf Arbeit zu tragen. Doch während ihrer Abwesenheit waren im Sommer 2003 an ihrem Arbeitsplatz neue Richtlinien eingeführt worden, die „philosophische, politische und religiöse Neutralität“ verlangten. Während ihrer fünfjährigen Pause hat rassistische Ausgrenzung Frauen wie Afif noch tiefer in religiösen Obskurantismus getrieben.
Für eine multiethnische revolutionäre Arbeiterpartei
Die Benutzung von Laizismus als Deckmantel für anti-islamische Voreingenommenheit griff Anfang der 1990er-Jahre um sich und erreichte 2004 unter dem damaligen Präsidenten Chirac mit dem gesetzlichen Verbot des Kopftuchs an Schulen seinen Höhepunkt. Der Hintergrund für diesen Aufschwung der Reaktion war die kapitalistische Konterrevolution 1990–92 in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa – eine ungeheure Niederlage für die Arbeiterklasse und die Unterdrückten weltweit, die von praktisch der gesamten „Linken“ bejubelt wurde. Die Kapitalistenklasse, die sich den von den Arbeitern produzierten Reichtum aneignet, brauchte einen Sündenbock, um die weiterhin ausbrechenden Klassenkämpfe zu vereiteln.
Die Kommunistische Partei und die Ligue communiste révolutionnaire (LCR – die schließlich das „kommunistisch“ in ihrem Namen wegließ, um zur „Neuen Antikapitalistischen Partei“ zu werden) nahmen die Lügen der Bourgeoisie vom sogenannten „Tod des Kommunismus“ und dem Ende des Grand Soir [der revolutionären Hoffnungen] für bare Münze. Doch die Bourgeoisie wusste, dass sie sich weiter Mechanismen ausdenken musste, um die Arbeiterklasse zu spalten und zu schwächen – daher beschwor sie die „Grüne [islamische] Gefahr“. Bereits 1991, zu Beginn des ersten Golfkriegs, führte [der „sozialistische“ Präsident François] Mitterrand erstmals „Vigipirate“ ein [eine Kampagne des Bullenterrors in Minderheitengemeinden]. Es erinnerte an die antimuslimische Offensive in Paris während des Algerienkriegs und bereitete den „Krieg gegen Terror“ gegen den Islam vor. Es bot auch die Grundlage für eine beträchtliche Verstärkung des Unterdrückungsarsenals des Staates gegen jede vermeintliche Widersacher kapitalistischer Herrschaft und letztlich gegen die Arbeiterklasse. Nieder mit Vigipirate! Für Arbeitermobilisierungen gegen rassistischen Staatsterror!
Die heutige Isolation und Hoffnungslosigkeit der Unterdrückten in dieser Gesellschaft sind die bitteren Früchte des Verrats der Linken. Die „sozialistischen“ Herrscher Mitterrand, Lionel Jospin und jetzt Hollande haben allesamt Muslime als den neuen „inneren Feind“ dargestellt und haben Abschiebungen und Angriffe auf Immigranten ohne Papiere verschärft. Sie haben auch den Lebensstandard der ärmsten Schichten der Gesellschaft gesenkt. Die Wirtschaftskrise, in deren Verlauf die Fabriken geschlossen wurden, in denen die Väter und Großväter der heutigen Minderheitenjugendlichen arbeiteten, hat alles nur noch verschlimmert. Die geplante Schließung des PSA-Autowerks in Aulnay, die Streichung von 800 Zeitarbeitsstellen in Sochaux und die Entscheidung, 1200 Arbeitsplätze bei Phone House abzubauen, sind nur die Spitze des Eisbergs stetig steigender Jugendarbeitslosigkeit.
Die Eltern und Großeltern der heutigen Minderheitenjugendlichen trugen in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg zur Schaffung von Frankreichs Wohlstand bei. Doch ihre Nachkommen werden großteils als überschüssige Bevölkerung behandelt, die bestenfalls für gelegentliche Kurzzeitjobs gebraucht wird, deren Bestimmung aber öfter das nächste Arbeitsamt oder Gefängnis ist.
Und dennoch wird die Bourgeoisie, bis der Kapitalismus gestürzt ist, ein Proletariat brauchen, das sie ausbeuten und aus dem sie einen Mehrwert herausziehen kann, um Profite und Kapital zu erwirtschaften. Zwar versuchen die Kapitalisten immer mehr Fertigung ins Ausland zu verlagern, wo aus ausländischen Arbeitern noch mehr Profit herausgepresst werden kann, doch gibt es hierzulande immer noch eine industrielle Infrastruktur, die auch in Zukunft bestehen bleiben wird. Schaut man sich den Flughafen Charles de Gaulle, die Autofabriken, den öffentlichen Nahverkehr, das Baugewerbe usw. an, ganz abgesehen von der Gebäudeinstandhaltung und den Belegschaften von Altersheimen, wird klar: Die Arbeiter sogenannter „sichtbarer Minderheiten“ stellen einen überproportionalen Anteil der Belegschaft. Ihre zentrale Rolle in der Produktion verleiht ihnen die soziale Macht, die für den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung unerlässlich ist. Das ist auch der Grund, weshalb die Bourgeoisie sie als besondere Bedrohung ansieht.
Die Kämpfe zur Rettung einzelner Fabriken oder zur Verteidigung örtlicher Arbeitsbedingungen, die jetzt oft isoliert sind und in Niederlagen enden, müssen auf ein höheres Niveau gehoben werden. Dafür braucht die Arbeiterklasse eine revolutionäre Führung, einen Volkstribun. Eine solche Führung würde für Arbeit für alle kämpfen, insbesondere für Jugendliche mit Immigrantenhintergrund. Sie würde den täglichen rassistischen Terror in den Minderheitenvierteln bekämpfen und einen Kampf für Frauenrechte führen. Sie würde aufzeigen, wie das Gift des Rassismus, einer Form von „falschem Bewusstsein“, dazu benutzt wird, die Arbeiterklasse zu spalten. Sie würde versuchen, die Arbeiterklasse dafür zu gewinnen, Gettojugendliche und verschleierte Frauen gegen Repression zu verteidigen. Wenn Arbeiter die Spaltungsmanöver der Herrschenden bekämpfen, werden sie ihre soziale Macht mit größerer Einheit einsetzen können und gegenüber den Bossen stärker werden.
Eine revolutionäre Partei würde auch die von der Linken feilgebotenen Lügen angreifen, der Kapitalismus könne humaner, freundlicher und weniger ausgrenzend gemacht werden. Nur die Arbeiter können, wenn sie ihre Ausbeuter durch eine sozialistische Revolution stürzen, einer neuen, auf zentral geplanter Wirtschaft aufbauenden Gesellschaft den Weg ebnen. Dieser Kampf muss international ausgeweitet werden, doch es wird sofort möglich sein, die Geißeln des Kapitalismus – Arbeitslosigkeit, Mangel und soziale Unterdrückung – anzugehen, zusammen mit den Vorurteilen und der Reaktion, die sie ausbrüten. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine solche Führung aufzubauen. Unser Vorbild ist die Erfahrung der bolschewistischen Partei und der Russischen Revolution vom Oktober 1917.
Schulverweise gegen Mädchen mit Kopftuch
Im Jahre 2003 brachen im öffentlichen Sektor riesige Streiks gegen die Fillon-Reform, einen Angriff auf die Renten, aus. Daraufhin ereignete sich eines der offensichtlichsten Beispiele davon, wie die Bourgeoisie den „Laizismus“ dazu einsetzt, um die Arbeiter zu spalten und ihre Kämpfe zu schwächen. Lehrer bildeten bei diesen Streiks einen der militantesten Bestandteile. Obgleich die Proteste im Juni mit einem Ausverkauf durch die Gewerkschaftsbürokraten endeten, drohten viele Lehrer, ihre Streikaktion zu Schulbeginn wieder aufzunehmen. Gleich zu Beginn der Streikbewegung zur Verteidigung der Renten brachte der „Sozialist“ Jack Lang, ein ehemaliger Erziehungsminister, im Parlament einen Gesetzentwurf für das Verbot des Kopftuchs in Schulen ein. Dann nahm sein „Sozialisten“-Kollege Laurent Fabius den Ball auf. Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung Ende Mai verlangte er öffentlich ein solches Gesetz und schloss sich damit den Führern der [regierenden konservativen] UMP an, die in zunehmendem Maße ebenfalls ein solches Gesetz forderten.
Bei Schulbeginn fungierten Lutte ouvrière und führende LCR-Mitglieder wie Pierre-François Grond (jetzt mit der Antikapitalistischen Linken in der Linksfront) als Fußtruppen des Laizismus und eröffneten, anstatt den Rentenkampf wieder aufzunehmen, eine neue Front. Dieses Mal marschierten sie aber Seite an Seite mit [Arbeitsminister François] Fillon und Chirac, um junge kopftuchtragende Frauen von ihren Schulen zu entfernen. Einige LO-Mitglieder und Grond spielten beim Rauswurf von Alma und Lila Levy aus ihrem Gymnasium in Aubervilliers eine entscheidende Rolle. LO und Grond fungierten als Speerspitze für das Kopftuchgesetz von 2004, das dem damaligen Präsidenten Chirac einen seltenen Moment nationaler Einheit bescherte. Dieser startete, darauf aufbauend, neue Angriffe auf die Arbeiter, insbesondere die Privatisierung von EDF-GDF (Strom- und Gasunternehmen) im Juni 2004.
Vor Schulbeginn im August 2003 beklagte sich LO, dass Chirac das Kopftuchverbot an Schulen nicht durchziehen würde. LO schrieb: „Wenn sie ein Problem begraben wollen, berufen sie eine Kommission ein. Und was Chirac einzurichten vorschlägt, steht gewiss in dieser Tradition“ (Lutte Ouvrière, 8. August 2003). Aber LO sollte von der Kommission unter Bernard Stasi nicht enttäuscht werden. Die empfahl im Dezember 2003 ein Verbot des Kopftuchs an Schulen. Nur wenige Wochen später wurde das Gesetz mit 93 Prozent der Abgeordnetenstimmen aller Parteien verabschiedet. In einem kürzlich erschienenen Artikel zur Baby-Loup-Affäre bemerkte Alain Gresh von Le Monde Diplomatique bezüglich der Stasi-Kommission (blog.mondediplo.net):
„Zur Debatte von 2003/04 zurückzugehen ist wichtig, denn die Kommission stützte sich bei der Rechtfertigung ihrer Entscheidung auf ,Beispiele‘ und ,Fälle‘, die angeblich bewiesen, dass das Schulsystem durch Immigranten unmittelbar bedroht sei. Jetzt wird derselbe Vorwand in der Baby-Loup-Affäre dazu benutzt, ein neues Gesetz zu rechtfertigen, dessen einziges Ergebnis wieder einmal sein wird, Muslime pauschal als Verdächtige zu stigmatisieren.“
Erst am letzten Tag der Anhörungen hatte sich die Kommission dazu bereit erklärt, auch kopftuchtragende Frauen anzuhören. Davor hatte sie jedoch keine Bedenken, die [faschistische] Nationale Front zu befragen oder sich von handverlesenen Lehrern und Schulrektoren immer dieselbe Horrorgeschichte anzuhören, dass das sogenannte Juwel der Republik – sein säkulares öffentliches Schulsystem – von islamischen Fanatikern belagert werde. Die Ligue trotskyste de France nahm an der Demonstration vom 14. Februar 2004 gegen dieses Gesetz mit einem Banner teil: „Nein zum rassistischen Gesetz gegen Jugendliche, die Kopftuch tragen! Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten! Frauenbefreiung durch sozialistische Revolution!“
LO jedoch begrüßte Chiracs Gesetz: „Sollte am Ende ein Gesetz herauskommen, umso besser. Denn für all diese Mädchen, die darum kämpfen, sich so zu kleiden, so zu arbeiten und so zu leben, wie sie möchten, also nicht den Schleier zu tragen, kann dies ein Rückhalt sein“ (Lutte Ouvrière, 6. Februar 2004). Seit das Gesetz 2004 verabschiedet wurde, haben rassistische Spaltung und Spannungen nur noch zugenommen. Inzwischen existieren mindestens ein Dutzend muslimische Privatschulen, darunter auch in Aubervilliers, wo Lutte ouvriére dafür gesorgt hatte, dass Alma und Lila ausgeschlossen wurden. Und wenngleich es schwierig ist, die genaue Anzahl von Ausschlüssen innerhalb dieser neun Jahre festzustellen, so ist doch unbestreitbar, dass junge Mädchen weiterhin aus öffentlichen Schulen in private religiöse Schulen getrieben werden.
Das jüngste Beispiel ist die 15 Jahre alte Sirine, die Anfang April von ihrer Schule in Val-de-Marne verwiesen wurde, nachdem sie vier Monate lang daran gehindert worden war, den Unterricht zu besuchen, weil ihren Inquisitoren ihr Stirnband zu breit und ihr Rock zu lang war. Eigentlich hatte das Gericht in Melun Mitte März entschieden, dass ihre Schule sie wieder aufnehmen müsse, doch die Schulbezirksverwaltung ging in Revision, und so wurde sie kurz darauf für immer von der Schule verwiesen. Sirine wird jetzt eine Privatschule besuchen, zweifelsohne eine religiöse und wahrscheinlich eine muslimische. Wie solche Ausschlüsse Frauenunterdrückung bekämpfen sollen, müssen LO und die anderen Anbeter des Laizismus noch erklären. [Sirine besucht inzwischen doch eine andere öffentliche Schule.]
Lutte ouvrière: Für das Verbot von Entlassungen … außer für verschleierte Frauen!
2003/04 war LO Vorreiter der Bemühungen für die Verabschiedung eines Gesetzes, mit dem verschleierte junge Frauen aus den Schulen vertrieben werden. Heute im Gefolge der Baby-Loup-Affäre präsentieren sie sich wieder als Garanten eines neuen Gesetzes, das von Hollandes Laizismus-Beobachtungsstelle (Observatoire de la laïcité – Regierungsbehörde zur Sicherstellung der Durchsetzung des Laizismus im öffentlichen Sektor) vorgeschlagen werden soll. In einem Artikel in ihrer Zeitung (29. März) schrieb LO über das Gerichtsurteil zugunsten von Fatima Afif: „Dieses Urteil rief mit Recht eine Protestwelle hervor, denn es liefert Obskurantisten aller Art Munition, und viele fordern im Namen des Laizismus eine Änderung der bestehenden Gesetze und die Erweiterung des Verbots sichtbarer Zeichen der Religionszugehörigkeit.“ Angesichts ihres Protestes gegen das Urteil muss man annehmen, dass sich LO selbst zu den „vielen“ zählt, die ein neues Gesetz fordern. Und das alles vor dem Hintergrund zunehmender rassistischer Angriffe, deren Hauptopfer oft Frauen sind: Nach einer Aufstellung des Kollektivs gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) sind 94 Prozent der Opfer antimuslimischer Gewalt Frauen.
Am 18. Mai ruft das Kollektiv Mamans toutes égales (MTE – „Alle Mamas sind gleich“) zu einer weiteren Demonstration gegen jegliches zukünftige Gesetz auf, das es verschleierten Frauen verbietet, im privaten Sektor zu arbeiten. Es fordert auch die Außerkraftsetzung des Chatel-Rundschreibens von 2012 [„Rundschreiben über die Morallehre an der Schule“ von Sarkozys Erziehungsminister Luc Chatel an die Rektoren der Grundschulen], das im Namen von „Laizismus und Neutralität des öffentlichen Dienstes“ empfiehlt, kopftuchtragende Mütter daran zu „hindern“, ihre Kinder zu Schulausflügen zu begleiten. Natürlich erklärte der Bullenminister Manuel Valls von der Sozialistischen Partei, der auch für „Religionsangelegenheiten“ zuständig ist, dass er das Chatel-Rundschreiben in Kraft lassen wolle. Im vergangenen Jahr schrieb das MTE-Kollektiv alle Kandidaten wegen der Auswirkungen des Gesetzes von 2004 an und fragte nach ihrer Position zum Chatel-Rundschreiben, zum Verbot gegen verschleierte Frauen im öffentlichen Dienst usw. Nathalie Arthaud, Führerin von LO und deren damalige Präsidentschaftskandidatin, antwortete:
„Weit davon entfernt, junge Mädchen auszuschließen, macht es das Gesetz jedem möglich, eine Schule zu besuchen, und für jene, die keinen Schleier tragen wollen, diesen Ort der Freiheit zu bewahren…
Dass Frauen es [das Kopftuch] tragen wollen, ist eine Sache, aber es ist etwas anderes, wenn diese diskriminierende Tatsache von der Gesellschaft erlaubt wird…
Wir kritisieren eure Herangehensweise nicht im Namen von Laizismus oder des Kampfes gegen die Religion, sondern im Namen des Kampfes der Frauen für ihre Emanzipation. Diese wird nicht dadurch erreicht, dass das Tragen des Schleiers in öffentlichen Einrichtungen erlaubt wird, sondern im Gegenteil dadurch, dass man jenen, die ihn nicht tragen wollen, das zugesteht…
So erstreckt sich unsere Solidarität vor allem auf die Frauen und Mädchen, die den Mut haben, diesem Druck standzuhalten, auf jene, die ihr Leben frei und unverschleiert leben wollen und die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen.“
Arthaud weigert sich, das Tragen des Kopftuches in öffentlichen Einrichtungen zu „sanktionieren“, und will nicht, dass verschleierte Mütter ihre Kinder begleiten. Angesichts dessen und der Reaktion von Lutte ouvrière in der Baby-Loup-Affäre scheint es, dass der Schlachtruf von LO „Gegen Arbeitslosigkeit, Verbot von Entlassungen“ seine Grenzen hat. Ihre Solidarität erstreckt sich nicht auf kopftuchtragende Frauen, von denen viele zu den ärmsten und unterdrücktesten Frauen der französischen Gesellschaft gehören. Als könne man Frauenunterdrückung dadurch bekämpfen, dass man kopftuchtragende junge Frauen daran hindert, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen, und sie so an den heimischen Herd zurückschickt! Hinter solcher Diskriminierung und Ausgrenzung steckt das Gezeter von Valls & Co., dass sich diese Frauen nicht in ihre geliebte Republik integrieren wollen.
Wenn LO das öffentliche Schulsystem als „Ort der Freiheit“ bezeichnet, so zeigt dies nur ihren Reformismus auf diesem Gebiet. Es spiegelt auch die Tatsache wider, dass sie unter der Lehrerschaft eine starke Basis hat. Die Schule ist in der Tat eine Schlüsseleinrichtung zur Aufrechterhaltung kapitalistischer Herrschaft. Sie bringt den Kindern der Bourgeoisie bei, wie man herrscht, und den Kindern der Unterdrückten, dass sie die Unterwerfung unter die bürgerliche Autorität hinzunehmen haben oder ausgeschlossen werden. Nathalie Arthaud unterrichtet in Aubervilliers, einer Stadt mit sehr vielen Immigranten, wo viele Mütter das Kopftuch tragen. Arthaud ist nicht realitätsblind, aber sie macht sich mit ihrer „laizistischen“ Voreingenommenheit selbst (und vor allem ihren Unterstützern) etwas vor.
Die Weigerung von LO, besondere Unterdrückung zu verstehen – und zu verstehen, dass die am meisten Unterdrückten das Kopftuch tragen –, lässt sie verschleierte Frauen als militante Ideologinnen wahrnehmen, die Frankreich islamisieren wollen. Tatsächlich führen einige dieser Frauen, zum Teil Immigrantinnen, die repressiven religiösen Praktiken ihrer Herkunftsländer weiter, in denen der Islam Staatsreligion ist. Andere wiederum tragen das Kopftuch, bewusst oder nicht, in Auflehnung gegen die rassistische Ausgrenzung, die sie unter dem französischen Kapitalismus erdulden müssen, und um für ihr Martyrium und ihre Stigmatisierung etwas Trost zu finden. In keinem Fall ist LOs Nachplappern der rassistischen Kampagne gegen „grünen Faschismus“ dazu geeignet, die materielle Unterdrückung dieser Frauen oder ihre rückschrittlichen religiösen Anschauungen auch nur ansatzweise anzugehen; es kann sie nur verstärken.
Frauenunterdrückung ist in der Klassengesellschaft verwurzelt. Die historische Funktion der Familie unter dem Kapitalismus ist es, Privateigentum an „legitime“ Erben weiterzugeben (was Monogamie von Seiten der Frau erfordert), wie auch Respekt vor Autoritäten und Gehorsam gegenüber der bürgerlichen Moral anzuerziehen. Aus diesem Grunde sagen wir, dass Frauenbefreiung letzten Endes nur durch sozialistische Revolution erreicht werden kann. Ein Arbeiterstaat würde bestrebt sein, Kinderbetreuung rund um die Uhr, kommunale Kantinen und Küchen, Wäschereien und kostenlose, hochwertige Gesundheitsversorgung anzubieten, Einrichtungen, die mit der Zeit die sozialen Funktionen der Familie ersetzen und es Frauen erlauben würden, voll am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Für neue Oktoberrevolutionen!
Unser Vorbild für Frauenbefreiung ist die Arbeit der bolschewistischen Partei. Unter ganz anderen Voraussetzungen als im heutigen imperialistischen und „laizistischen“ Frankreich zogen viele bolschewistische Frauen unter der Leitung des Schenotdel (Abteilung für Arbeit unter Arbeiterinnen und Bäuerinnen) selbst den Schleier über, um zu den Frauen in Sowjet-Zentralasien zu gehen und sie zu unterrichten und zu befreien. Es war eine äußerst gefährliche Arbeit, und viele der bolschewistischen Organisatorinnen wurden ermordet. Wie wir im Spartacist schrieben:
„Die Schaffung einer geplanten, kollektivierten Wirtschaft erlaubte es dem Arbeiterstaat, den Überschuss aus dem entwickelteren Westen im rückständigeren Osten zu investieren und dadurch anzufangen, die Grundlage für die Gleichheit der Völker in der Sowjetunion zu legen. Dies zeigt sich, wenn man sich die Bevölkerungsstatistiken in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion an der Grenze zu Afghanistan betrachtet und sie mit denen auf der anderen Seite der Grenze vergleicht. Auf der sowjetischen Seite waren Frauen nicht mehr unter dem Schleier gefangen gehalten, sie waren des Lesens und Schreibens mächtig; auf der afghanischen Seite der Grenze waren sie größtenteils Analphabeten, und die Statistiken über Kindersterblichkeit und Lebenserwartung unterschieden sich auf den beiden Seiten der Grenze in dramatischer Weise voneinander.“
Nachdem die sowjetische Rote Armee 1979 auf Ersuchen der dortigen Regierung in Afghanistan einmarschiert war, konnten Frauen eine Ausbildung bekommen. Sie wurden Lehrerinnen, Krankenschwestern, Soldatinnen. Doch im Rahmen des imperialistischen Kreuzzugs, in der Sowjetunion den Kapitalismus wiedereinzuführen, bewaffneten die USA die islamistischen Reaktionäre, die die Frauen unter der Burka [dem Ganzkörperschleier] einsperrten und denjenigen, die Mädchen Lesen und Schreiben beibringen wollten, Säure ins Gesicht schütteten. (Gleichzeitig taten sich „Ärzte ohne Grenzen“ und andere „humanitäre“ Organisationen mit dem französischen Geheimdienst zusammen, um den islamistischen „Widerstandskämpfern“ Hilfe zu leisten.) In Afghanistan war der Schleier für Frauen eine Frage von Leben und Tod. Doch Lutte ouvrière verurteilte die sowjetische Intervention (eine Position, an der sie bis heute festhält) und verglich den fortschrittlichen Akt der Roten Armee mit der Vergewaltigung Vietnams durch die französischen und später die amerikanischen Imperialisten. So viel zu den selbsternannten Verfechtern der Frauenrechte.
Wir glauben, eine andere Welt ist möglich – aber hier, nicht im Himmel, und nicht solange das kapitalistische System noch intakt ist. Im Gegensatz zu unseren reformistischen Kontrahenten sagen wir die Wahrheit. Wie weit entfernt diese Perspektive heute auch erscheinen mag, so können wir doch nur mittels einer proletarischen sozialistischen Revolution damit beginnen, eine Gesellschaft aufzubauen, die von Hunger, Krieg und Rassismus frei ist; eine Welt, in der Männer und Frauen nicht mehr in religiösen Fantasien Zuflucht suchen müssen, um der harten Realität dieser kapitalistischen Gesellschaft von Unterdrückung und Elend zu entkommen. Um das zu erreichen, kämpfen wir für die Aufrechterhaltung eines revolutionären Programms und für den Aufbau einer internationalen Partei, die sich verpflichtet, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen.