Spartakist Nr. 199 |
August 2013 |
Blutiger Putsch in Ägypten: Militär stürzt reaktionäres Mursi-Regime
Der nachfolgende Artikel ist übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1027, 12. Juli, Zeitung unserer Genossen der Spartacist League/U.S.
8. Juli – Fünf Tage, nachdem das ägyptische Militär die reaktionäre Regierung Mohammed Mursis und der Muslimbruderschaft entmachtet hatte, erschoss es mehr als 50 Mursi-Unterstützer vor einem Offiziersclub der Republikanischen Garde in Kairo, wo der Islamistenführer vermutlich festgehalten wird. Mit diesem Massaker hat das Militär zu verstehen gegeben: Was sie heute den Unterstützern der Bruderschaft antun, werden sie morgen ohne zu zögern jedem zufügen, der der Aufrechterhaltung der Ordnung im Weg steht.
Der Putsch vom 3. Juli fand statt, nachdem Massenproteste im ganzen Land tagelang den Rücktritt Mursis forderten, dessen Jahr an der Macht von fortschreitendem wirtschaftlichem Verfall, zunehmender Unterversorgung mit Treibstoff und anderen Bedarfsgütern und plumpen Versuchen der Durchsetzung islamischer rechtlicher und gesellschaftlicher Restriktionen geprägt war. Die Nachricht vom Putsch und Mursis Verhaftung wurde von Hunderttausenden bejubelt, die sich auf Kairos Tahrir-Platz versammelt hatten. Militärhubschrauber und Kampfjets flogen über die Köpfe hinweg und machten unmissverständlich klar, dass die Generäle die „Verteidiger der Nation“ und die höchsten Schiedsrichter darüber sind, wer herrschen wird. Bei nächtlichen Zusammenstößen zwischen Pro- und Anti-Mursi-Kräften gab es auf beiden Seiten zahlreiche Tote. Jetzt, nach dem heutigen Blutbad, hat die Muslimbruderschaft dazu aufgerufen, ihre Proteste zu einem nationalen Aufstand auszuweiten.
Als Marxisten lehnen wir den Putsch ebenso entschieden ab wie wir die islamistische Regierung ablehnen. Viele der bürgerlich-nationalistischen und liberal-reformistischen Organisationen, die die Anti-Mursi-Proteste mit anstießen, beschönigen den Putsch, vor dem das Militär schon lange vorher gewarnt hatte, mit der Behauptung, die Massen auf der Straße würden das Geschehen bestimmen. Die opportunistischen Revolutionären Sozialisten, die vor einem Jahr zur Stimmabgabe für Mursi aufgerufen hatten, fallen nun in das Gerede von einer „zweiten Revolution“ ein. Die Massen, die sich vor zwei Jahren gegen das verhasste bonapartistische Regime Husni Mubaraks erhoben hatten, wollten eine grundlegende Veränderung ihrer durch Armut, brutale Unterdrückung und fehlende demokratische Rechte bestimmten Lage. Mubarak wurde entmachtet. Doch was die Werktätigen und Unterdrückten bekamen, war nicht eine Revolution, sondern ein neues politisches Gesicht für dasselbe System kapitalistischer Unterdrückung – zuerst unter dem Obersten Militärrat (SCAF), dann unter der gewählten Präsidentschaft Mursis und jetzt wieder unter direkter Militärherrschaft. Wie wir 2011 nach der Entmachtung des Mubarak-Regimes schrieben:
„Wir Marxisten lehnen diesen bankrotten reformistischen Bezugsrahmen ab, der vorgibt, dass die Arbeiterklasse in Ägypten nur zwei Alternativen hat, entweder vor dem ,säkularen‘, vom Militär unterstützten bürgerlich-nationalistischen Regime oder vor dem politischen Islam zu kapitulieren. In Wirklichkeit sind dies alternative Wege, die kapitalistische Klassenherrschaft aufrecht zu erhalten, das System, das seinen Herrschern riesigen Reichtum sichert, während es für die städtischen und ländlichen Massen nur schreckliche Armut übrig hat. Wir setzen stattdessen auf die revolutionäre Mobilisierung des ägyptischen Proletariats an der Spitze aller Unterdrückten in einem Kampf für sozialistische Revolution, die allein die grundlegenden Probleme der Massen angehen kann.“ („Pandering to Reactionary Muslim Brotherhood“ [Anbiederung an die reaktionäre Muslimbruderschaft], Workers Vanguard Nr. 974, 18. Februar 2011)
Dieselben Streitkräfte, die am Tahrir-Platz gefeiert wurden, haben 2011 Tausende von Demonstranten zusammengetrieben und viele davon Elektroschocks und anderer brutaler Folter unterzogen. Die „Straße der Augen der Freiheit“ am Tahrir-Platz bekam ihren Beinamen, nachdem Sicherheitskräfte in einem grausamen und gezielten Angriff direkt in die Gesichter von Demonstranten geschossen hatten, die sich zu einer Kundgebung gegen die Herrschaft des Militärrats versammelt hatten. Beim Maspero-Massaker vom 9. Oktober 2011 mähten Militärfahrzeuge zusammen mit der Polizei und Islamisten Dutzende koptischer Christen nieder, die gegen das Niederbrennen ihrer Häuser und Kirchen demonstrierten. Von der Armee inhaftierte Demonstrantinnen wurden erniedrigenden „Jungfräulichkeitstests“ unterzogen. Jetzt kam es unter den Augen der Sicherheitskräfte erneut zu zahlreichen Gruppenvergewaltigungen und anderen Angriffen auf Demonstrantinnen.
Es überrascht nicht, dass während des Putsches US-Funktionsträger ständig mit ihren ägyptischen Amtskollegen in Telefonkontakt standen. Das ägyptische Militär ist von den 1,3 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern abhängig, die es jährlich aus Washington bezieht. General Abd al-Fattah al‑Sisi, die zentrale Figur des Putsches (und Mursis Verteidigungsminister), wurde am US Army War College ausgebildet und besitzt ausgezeichnete Kontakte zu amerikanischen Spitzenmilitärs. Auch Washington machte Mursi klar, dass seine Zeit abgelaufen war. Unter Benutzung einer gebräuchlichen Anspielung auf die USA schickte ein Mursi-Berater kurz vor dem Putsch einem Mitarbeiter eine Kurznachricht: „Mutter hat uns gerade erklärt, dass unser Spiel in einer Stunde aus ist.“
Das Militär – zusammen mit der Polizei das Rückgrat aller ägyptischen bürgerlichen Regime – griff ein, um den sozialen Aufruhr zu beenden und so den wirtschaftlichen Zusammenbruch aufzuhalten, der alle außer den reichsten Schichten Ägyptens in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Staatsschuld ist in den letzten zwei Jahren um 10 Milliarden Dollar angewachsen, und die Devisenreserven des Landes gehen zusehends zur Neige. Die lebenswichtige Tourismusindustrie ist seit dem Beginn der Proteste 2011 praktisch zusammengebrochen. Der Wert des Ägyptischen Pfund ist im Verlauf des vergangenen Jahres abgestürzt, während die Lebensmittelpreise sprunghaft angestiegen sind. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 80 Prozent.
In den Augen der Kapitalisten ist die einzige Politik, einer solchen Krise zu begegnen, die Werktätigen auszusaugen. Mursis Regierung brach Streiks und begann, grausame Austeritätsmaßnahmen gegen die Armen einzuführen, um die Bedingungen eines IWF-Kredits zu erfüllen. Nichts anderes hat die Arbeiterklasse vom Militärrat zu erwarten, der eine lange, blutige Geschichte der Unterdrückung von Arbeiterkämpfen und politischem Widerspruch aufzuweisen hat. Dafür wenden sich die Generäle wieder einmal an Veteranen des Mubarak-Regimes. Adli Mansur, ein ehemaliger Kumpel Mubaraks, wurde zum Nachfolger Mursis ernannt. Auch andere von Mubarak ernannte Bürokraten aus dem sogenannten „tiefen Staat“ sind hervorgetreten, um das Regieren zu übernehmen.
Eine Schlüsselaufgabe für revolutionäre Marxisten ist die Bekämpfung der weit verbreiteten nationalistischen Ideologie, die unter den Demonstranten zum Vorschein kommt, wenn sie ägyptische Fahnen schwingen und die Armee und sogar die Polizei als ihre Verbündeten willkommen heißen. Bei ihren Kämpfen mit Unterstützern der Bruderschaft vergangene Woche skandierte die Anti-Mursi-Menge: „Volk und Polizei Hand in Hand.“ Selbst die New York Times (6. Juli) nannte es „ein seltsames Schauspiel, wo doch die Polizei wegen des Tötens von Demonstranten während der Anti-Mubarak-Erhebung weithin verhasst war“. Insbesondere beim Kleinbürgertum gibt es eine Stimmung, die Bullen im Dienste von „Gesetz und Ordnung“ wieder auf die Straße zu holen.
Illusionen in die Armee sind gerade in Ägypten tief verwurzelt, wo Offiziere unter der Führung von Gamal Abdel Nasser 1952 die von Britannien gestützte Monarchie stürzten. Ungeachtet Nassers Anspruchs auf einen „arabischen Sozialismus“ folterte und tötete sein Regime Hunderte von Gegnern oder ließ sie verschwinden, darunter Arbeiter und Kommunisten. Er war aber auch geschickt darin, Kommunisten und andere zu vereinnahmen, wenn sie sich zur Loyalität verpflichteten.
Während der Erhebungen des „Arabischen Frühlings“ in Tunesien und Ägypten 2011 wiesen wir auf die Arbeiterklasse, deren Streiks beim Sturz beider despotischer Regime eine wichtige Rolle spielten, als den potenziellen Totengräber der bürgerlichen Ordnung hin. Wir betonten, wie dringend notwendig es ist, dass das Proletariat als Führer aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft, darunter Frauen, Kopten und verarmte Bauern, auftritt. Das Proletariat führt weiterhin wirtschaftliche Kämpfe, wie im April, als ein landesweiter Lokführerstreik tagelang den Bahnverkehr in Ägypten lahm legte. Doch politisch bleibt das Proletariat bisher bürgerlichen Kräften untergeordnet.
Es wird kein Ende der Ausbeutung der Werktätigen, keine Emanzipation der Frauen oder Befreiung der Bauernmassen geben ohne eine proletarische Revolution, die den bürgerlichen Staat hinwegfegt, die Kapitalisten als Klasse enteignet und dazu übergeht, eine kollektivierte Wirtschaft zu errichten. Es gibt keinen national begrenzten Weg zur Emanzipation der Arbeiter und Unterdrückten. Das mächtige ägyptische Proletariat kann eine führende Kraft sein im Kampf für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens, Teil eines weltweiten Kampfes für proletarische Revolution, die unbedingt auch die imperialistischen Zentren erfassen muss. Um diese Perspektive in die Arbeiterklasse hineinzutragen, ist der Aufbau einer leninistischen Avantgardepartei notwendig. Diese wird im politischen Kampf gegen Reformisten, Liberale und andere geschmiedet werden, die die Arbeiterklasse den Imperialisten, Nationalisten und Kräften der islamischen Reaktion unterordnen wollen.