Spartakist Nr. 198

Mai 2013

 

Für das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe ... und Scheidung!

Frankreich: Wirbel um „Homo-Ehe“

Der folgende Artikel erschien in Le Bolchévik Nr. 203 (März 2013), Zeitung der Ligue trotskyste de France (LTF), Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga. Das Gesetzespaket zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und Adoption wurde von der Nationalversammlung am 12. Februar verabschiedet. Dem Ehegesetz stimmte am 9. April auch der Senat zu, der Gesetzesteil zur Adoption wird dort Ende Mai verhandelt werden.

Die LTF hat sich an den jüngsten Mobilisierungen für das Recht auf „Ehe für alle“ beteiligt, die zum Ziel haben, ein gewisses Maß an grundlegenden Rechten für homosexuelle Paare zu erringen, darunter endlich auch das Recht, Kinder zu adoptieren. Tatsächlich wurde gleichgeschlechtlichen Paaren erst 1999 mit der Einführung des Zivilen Solidaritätspaktes (PACS, eine Art eingetragene Partnerschaft) erstmals begrenzte rechtliche Anerkennung zuteil. Als Marxisten unterstützen wir das Recht von Homosexuellen zu heiraten – und sich nach Belieben scheiden zu lassen –, weil wir für volle rechtliche Gleichstellung und demokratische Rechte von Homosexuellen eintreten, wie wir auch jegliche rechtliche Verbesserungen unterstützen, die die Arbeiterklasse und die Unterdrückten den Kapitalisten und ihrem Staat abringen können. Gleichzeitig kämpfen wir für eine Gesellschaft, in der niemand in eine rechtliche Zwangsjacke gesteckt wird, ohne die ihm die grundlegenden Rechte verwehrt werden, die die kapitalistische Gesellschaft heute nur denen zugesteht, die sich in das traditionelle Rechtsschema „ein Mann und eine Frau, ein Leben lang“ einpassen.

Gleich nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes durch das Parlament schrieb die Kommunistische Partei (PCF), dass „Eheschließung nicht mehr (ausschließlich) eine patriarchalische Einrichtung, unzeitgemäß und reaktionär ist“ und dass „die Nationalversammlung die Institution der Familie revolutioniert“ hat (l’Humanité, 13. Februar). Einerseits erfasst die PCF hier eine gewisse Wahrheit: Das Gesetz zur Homo-Ehe ist dazu gedacht, Eheschließung an die Realität heutiger Lebensweisen anzupassen, um die Institution der bürgerlichen Familie besser zu verteidigen. Wie Jean-Jacques Urvoas, der „sozialistische“ Vorsitzende der parlamentarischen Gesetzgebungskommission in einem Interview gegenüber Le Monde (15. Januar) erklärte: „Es ist verfehlt, uns vorzuwerfen, wir würden die Familie angreifen, wo es doch unser Anliegen ist, alle Familien abzusichern.“

Andererseits wird sich die Funktion der Ehe als tragende Säule der bürgerlichen Einzelfamilie bis zu dem Tage, an dem der Kapitalismus zerstört wird, nicht ändern. Wie die Unterdrückung der Frauen ist die Unterdrückung der Homosexuellen nicht in erster Linie das Ergebnis rechtsgerichteter Reaktion und sozialer Rückständigkeit, sondern sie ist in der Institution der Familie verwurzelt, deren historische Aufgabe es ist, das Privateigentum an den Produktionsmitteln an „legitime“ Erben weiterzuvererben. Das ist der Grund, weshalb Frankreich es Alleinstehenden und gleichgeschlechtlichen Paaren verbietet, künstliche Befruchtung, medizinisch unterstützte Fortpflanzung (darunter auch In-Vitro-Fertilisation) oder Leihmutterschaft in Anspruch zu nehmen. Die Familie ist auch eines der Instrumente der herrschenden Klasse, das Achtung vor Autoritäten und Gehorsam gegenüber ihren Moralgesetzen lehren soll. Homosexualität wird von der katholischen Kirche und der bürgerlichen Ordnung als „sündig“ und „abartig“ betrachtet, weil sie von der patriarchalischen Struktur der monogamen Ein-Mann-eine-Frau- Familie abweicht.

Dass die PCF die Leihmutterschaft ablehnt – ein Verfahren, das vor allem homosexuellen Männern zugute kommt –, zeugt von ihrem Vertrauen in die Institution der Familie. Leihmutterschaft ist gegenwärtig mit einer Strafe von 45 000 Euro und drei Jahren Gefängnis belegt. Sie wurde sowohl von Justizministerin Christiane Taubira als auch von Marie-Georges Buffet von der PCF in der Parlamentsdebatte zur Homo-Ehe heftigst verurteilt und auch von Feministinnen in der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) angegriffen. Sie alle wenden ein, dies würde eine Kommerzialisierung des Körpers der Frau bedeuten: „Die Schwangerschaft einer Frau dem Einfluss von Dritten zu unterstellen ist eine Bedrohung für das Recht auf Abtreibung. Darüber hinaus öffnet die Möglichkeit, ihren Körper durch einen Vertrag zu veräußern, der Legalisierung der Prostitution Tür und Tor“ (Zeitschrift Tous Est à Nous! La Revue, April 2011).

Im Grunde befürworten sie das bürgerliche Modell, das vorschreibt, dass es die Aufgabe der Frau (und nicht etwa von zwei Männern) ist, Kinder großzuziehen. Außerdem verweigern sie der Frau das grundlegende Recht, über ihren Körper selbst zu bestimmen. Wenn sich eine Frau dafür entscheidet, für jemand anderen ein Kind auszutragen, ist das ihre Sache, und der Staat und seine Politiker sollen sich da heraushalten. Ebenso ist es ihre Sache und nichts, worüber der kapitalistische Staat per Gesetz zu bestimmen hat, wenn sie ihren Lebensunterhalt lieber als Prostituierte verdient, als sich von irgendeinem Fabrikbesitzer in einem Job ausbeuten zu lassen, wo sie sich abrackert oder ständiger Schikanierung ausgesetzt ist.

Wir treten für die Entkriminalisierung der Prostitution ein, die wir ebenso wie Drogengebrauch, Glücksspiel, Pornographie, gleichgeschlechtlichen oder generationenübergreifenden Sex als „Verbrechen ohne Opfer“ betrachten – Aktivitäten, die unter dem kapitalistischen Recht im Allgemeinen verboten oder streng reguliert sind. Für uns Marxisten ist die tatsächliche Einwilligung das Leitprinzip bei sexuellen Beziehungen, nicht Alter, Art der Beziehung, Geschlecht, Anzahl der Beteiligten oder Vertrautheitsgrad. Das heißt nichts weiter als gegenseitiges Einverständnis und beiderseitige Zustimmung im Gegensatz zu Zwang. Solange die Beteiligten einvernehmlich handeln, hat niemand, und schon gar nicht der Staat, das Recht, es ihnen zu verbieten. Staat raus aus dem Schlafzimmer!

Homophobe Hysterie und der Kampf für demokratische Rechte

Die Kirche und die rechten Parteien haben in letzter Zeit in den Straßen Hunderttausende Reaktionäre gegen die „Homo-Ehe“ aufmarschieren lassen. Die Hysterie gegen Homosexuelle ist mitunter so grotesk, dass sie schon wieder komisch wirkt. Zum Beispiel die Hetzrede von Dassault, einem der führenden Kapitalisten Frankreichs, der das Ende der Zivilisation vorhersagt für den Fall, dass die gleichgeschlechtliche Ehe Gesetz wird: „Es wird keine Fortpflanzung mehr geben, wozu soll das gut sein? Wollen wir etwa eine Nation von Schwulen? Nun gut, dann ist in zehn Jahren niemand mehr übrig; es ist so idiotisch… Schaut euch die Geschichte an, das antike Griechenland; das war eine der Ursachen seines Niedergangs“ (Le Monde online, 7. November 2012). Aber es gibt auch weitaus bösartigere Reaktionen. Die Jugendgruppe der UMP [Union für eine Volksbewegung, Partei des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy] im Bezirk Haute Garonne veröffentlichte auf ihrer Website das Foto eines an einem Strick erhängten jungen Mannes mit nacktem Oberkörper unter der Überschrift: „Du wirst kein Schwuler sein, mein Sohn.“ All das ist dazu angetan, gewalttätige Angriffe auf Schwule und Lesben anzustacheln … und auf ihre Kinder. Einer für das Schwulen- und Lesbenmagazin Tétu durchgeführten Umfrage zufolge wurde in den letzten zehn Jahren jeder vierte Homosexuelle Opfer eines körperlichen Angriffs. Die Organisation SOS Homophobie, die sich für die Rechte Homosexueller einsetzt, veröffentlichte in ihrem letzten Jahresbericht eine Liste von 29 im Laufe des vergangenen Jahrzehnts in Frankreich begangenen Morden, die durch Homophobie oder Transphobie motiviert waren.

Eine revolutionäre Partei muss der Arbeiterbewegung alle reaktionären Angriffe auf Homosexuelle und jeden anderen unterdrückten Teil der Bevölkerung und deren Diskriminierung energisch bewusst machen und gegen diese Angriffe aufs Schärfste protestieren. Solche Angriffe zielen letztendlich darauf ab, die gesamte Arbeiterklasse zu schwächen, indem sie sie entlang von Geschlechter- und Rassengrenzen spaltet, um die Unterdrückungsmechanismen des kapitalistischen Staates zu stärken und die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Arbeiterklasse muss zu der Erkenntnis gelangen, dass sie, um sich von den Fesseln kapitalistischer Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien, ihrer historischen Aufgabe gerecht werden muss: die Klassengesellschaft abzuschaffen, um allen den Weg zu menschlicher Freiheit zu eröffnen.

Um jedoch die gewaltige soziale Macht der organisierten Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zu mobilisieren, ist es notwendig, einen politischen Kampf gegen die Führer der sozialdemokratischen Parteien der Linksfront, der NPA und anderer zu führen, die sich die Verteidigung der bürgerlichen Familie, wenn auch in aufpolierter Form, zur Aufgabe gemacht haben. Sie wollen uns weismachen, dass sich der Kapitalismus „revolutionieren“ und dank einer „linken“ Regierung menschlicher werden kann, wenn wir nur auf der Straße genügend Druck ausüben. Mit diesen Lügen arbeiten sie der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung und der damit einhergehenden sozialen Reaktion in die Hände.

Die „republikanischen Werte“ der Regierung: Feindlich gegen Frauen und Jugendliche

Angesichts dieses von der Rechten verbreiteten reaktionären Mülls fällt es der „sozialistischen“ Hollande-Regierung nicht schwer, als „fortschrittlich“ dazustehen, wenn sie „Ehe für alle“ propagiert (was ihre Kapitulation vor der Kirche und den Parteien der Rechten in der Frage der In-Vitro-Fertilisation überhaupt nicht schmälert). Die Regierung rechnet damit, das als politisches Kapital ausschlachten zu können, um ohne großen Widerstand weiter Fabrikschließungen, die Kriminalisierung der Gewerkschaften und den Rest ihrer rassistischen, arbeiterfeindlichen Agenda durchziehen zu können. In Britannien ist es der konservative Premierminister, der soeben ein Votum für die Homo-Ehe durchs Parlament bugsiert hat, um die Institution der Familie zu stärken und auch, wie bei Hollande, als „soziales“ Mäntelchen, um seinen anhaltenden Sozialkahlschlag besser durchzusetzen.

Justizministerin Taubira sagte über das neue Ehegesetz: „Ehe für alle illustriert gut das Motto der Republik … Freiheit der Wahl, Gleichheit für alle Paare, Brüderlichkeit, denn keinerlei Unterschiede sollen als Vorwand für Diskriminierung durch den Staat dienen“ (l’Humanité, 30. Januar). Was für eine Heuchelei! Der französische Staat, ob von der Rechten oder der Linken regiert, hat keinerlei Skrupel, Familien zu zerbrechen, wenn es sich um die Arbeiterklasse, Immigranten oder andere unterdrückte Schichten handelt. Erst kürzlich wurde bei einer Versammlung in Aubervilliers des ersten Jahrestags der Abschiebung von Changfeng Mo gedacht, einem Immigranten ohne Papiere mit zwei Kindern, die in Frankreich geboren und eingeschult wurden. Er wurde abgeschoben, nachdem er zehn Jahre im Land gelebt und gearbeitet hatte. Volle Staatsbürgerrechte für alle Immigranten und ihre Familien! Selbstverständlich gibt es von Seiten des Bullenministers Valls keinerlei Geste der „Brüderlichkeit“, um diesen Mann wieder mit seiner Familie zu vereinen.

Oder zum Beispiel Frankreichs jüngstes Departement, die kleine Insel Mayotte [Teil der Komoreninseln im Indischen Ozean, nahe Mosambik], das im Jahr 2010 26 400 Abschiebungen, darunter 6400 Kinder, durchgeführt hat, nicht viel weniger als die 33 000, die das französische Mutterland abgeschoben hat. Unter Valls & Co. arbeitet die Abschiebungsmaschinerie in Mayotte weiterhin mit einer solchen Geschwindigkeit, dass Kinder nicht selten aus der Schule nach Hause kommen und feststellen müssen, dass ein Elternteil oder beide fort sind, in ein Durchgangslager überstellt, wo sie auf ihre Abschiebung warten. Es sind auch mehrere Fälle dokumentiert, wo Kinder ohne ihre Eltern abgeschoben wurden, indem man sie willkürlich einer fremden Person „zugeordnet“ hat. Schluss mit den Abschiebungen!

Monatelang konnte man Politiker der Linken und der Rechten hören, wie sie schworen, dass sie nur das Beste für Kinder und Jugendliche im Sinn hätten, während sie gleichzeitig alle zusammen daran arbeiten, die wirkliche Quelle von Gewalt, Verbrechen und Entfremdung, die den jungen Menschen in dieser Gesellschaft angetan werden, am Leben zu erhalten: die Kapitalistenklasse und ihren staatlichen Unterdrückungsapparat. In Frankreich sind heute ein Viertel aller 16- bis 24-Jährigen arbeitslos und sehen kurzfristig so gut wie keine Möglichkeit, den Schoß der Familie zu verlassen und unabhängig zu leben. In vielen Banlieue-Vierteln [Minderheiten- und Arbeiterviertel an der Peripherie großer Städte] liegt die Arbeitslosenquote für Jugendliche schon seit einigen Jahren bei 50 Prozent (und mehr). Die Banlieue-Revolte von 2005 war ein Indikator für diese Verzweiflung, besonders bei jungen Männern aus ethnischen Minderheiten, die für sich außer einem McJob oder eher noch dem Arbeitsamt oder dem Gefängnis keine Zukunft sehen. Und seit 2005 hat sich die Lage nur noch verschlimmert.

Heute schließen der Peugeot-Konzern und Hollande das Autowerk in Aulnay, das von jeher einer der Hauptarbeitgeber für Jugendliche des Departements „93“ [Seine-Saint-Denis, ein überwiegend von Minderheiten bewohntes Departement nordöstlich von Paris] war (wenn auch nur mit miserablen Zeitverträgen). Leute wie Arnaud Montebourg [„sozialistischer“ Minister für Industrieentwicklung] drohen in der Tradition ihres Helden Jules Ferry [Kolonialist aus dem 19. Jahrhundert] mit dem erhobenen Zeigefinger: Sie predigen den Arbeitern, sie müssten sich „mehr anstrengen“, flexibler sein und Jobs Hunderte Kilometer von ihrem Zuhause entfernt annehmen. Gerade dadurch schaffen sie Tausende zusätzliche Ein-Eltern-Haushalte mit all der damit verbundenen Unterdrückung, vor allem für Frauen. Wiederholte tiefe Einschnitte bei den Bildungs- und Gesundheitshaushalten in den vergangenen Jahren belasten ebenfalls vor allem Frauen und Kinder. Es ist jetzt in etlichen Gemeinden gängige Praxis, Kindern arbeitsloser Eltern das Schulessen – zuweilen deren einzige warme Mahlzeit am Tag – zu verweigern. Die Argumentation des Staates: Die Kinder könnten zum Essen doch nach Hause gehen, da die Eltern ja nicht arbeiten. So garantieren sie, dass die Mütter (zum Großteil) arbeitslos und im Haushalt isoliert bleiben. Für kostenlose und hochwertige Schulessen und Kinderbetreuung rund um die Uhr!

Die bürgerliche Familie als Stütze des Kapitalismus

Der einzige Weg zur Beseitigung des tiefsitzenden Chauvinismus und der vom kapitalistischen Profitsystem gegenüber Jugendlichen, Frauen, Homosexuellen, Immigranten und anderen unterdrückten Schichten ausgeübten Gewalt ist der Kampf für den Sturz der kapitalistischen Herrschaft durch die sozialistische Revolution. Eine Arbeiterregierung wird durch die Enteignung der Produktionsmittel der Kapitalistenklasse die Grundlage für eine Planwirtschaft schaffen, die die Produktivkräfte enorm anwachsen lässt, den Mangel beseitigt und den wissenschaftlichen Kenntnisstand ausweitet und vertieft. Ein solcher gesellschaftlicher Produktivitätssprung setzt die internationale Ausweitung der Revolution, vor allem auf die fortgeschrittenen imperialistischen Länder, voraus. Dann kann die sozialistische Revolution damit beginnen, durch Bereitstellung der materiellen Mittel zur Vergesellschaftung und Kollektivierung der Hausarbeit die Grundlagen für die Ersetzung der Familie zu schaffen. So wird es gemeinschaftliche Kinderbetreuung rund um die Uhr, gemeinschaftliche Kantinen, Küchen und Wäschereien sowie kostenlose Gesundheitsversorgung geben.

Die Familie hat ihren Ursprung in der Entstehung von Klassen. Vor dieser geschichtlichen Etappe spielte das Wissen um die Vaterschaft keine Rolle, da Kinder weitgehend von der gesamten Gemeinschaft kollektiv aufgezogen wurden. Doch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht ermöglichte es Menschen erstmals, mehr zu produzieren, als sie selbst konsumieren konnten. Dies führte zur Schaffung eines Überschusses und von Privateigentum und so zu einer müßigen Klasse, die von der Arbeit anderer leben konnte. Um ihr Vermögen und ihr Eigentum an die nächste Generation weiterzuvererben, war es für diese Klasse wichtig, zu wissen, wer der Vater ist. Das ist der Ursprung der Institution der Ehe, die genau den Zweck hat, die sexuelle Aktivität der Frauen einzuschränken und ihnen (nicht dem Mann) Monogamie abzuverlangen. Deshalb liegt es im Wesen der Familie, sexuell unterdrückend zu sein. Selbst heute noch muss sich in Frankreich eine Frau, die in den ersten neun Monaten nach ihrer Scheidung wieder heiraten will, einer medizinischen Untersuchung unterziehen, um eine ärztliche Bescheinigung zu bekommen, dass sie nicht schwanger ist. Dies steht im Einklang mit dem Code civil [dem französischen Zivilgesetzbuch]: „Ein während der Ehe empfangenes Kind oder geborenes Kind hat den Ehemann zum Vater“ [Art. 312].

Das Vermächtnis der Französischen Revolution für Frauen und Homosexuelle

Um zu verstehen, dass sich sozialer Fortschritt nur aus revolutionärem Kampf ergibt, muss man zurückblicken und sich die bedeutenden Verbesserungen ansehen, die Frauen sowie Homosexuelle und andere Minderheiten in solchen Perioden erlangten. Die Französische Revolution von 1789 war eine bürgerliche Revolution, die das Privateigentum bewahrte, was den von ihr eingeführten Veränderungen Grenzen setzte. Dennoch brachte sie enormen Fortschritt für die Rechte von Frauen und Homosexuellen mit sich, insbesondere während ihrer ersten, radikalsten Jahre.

Noch 1783 wurde unter dem Ancien Régime ein Mönch bei lebendigem Leibe verbrannt, nachdem er angeklagt worden war, mit einem Jungen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. 1791 wurde der Tatbestand der Sodomie aus dem Strafgesetzbuch [Code pénal] gestrichen, das sie zu einem „eingebildeten Verbrechen“ erklärte. Nach der Revolution nahm die Überwachung bekannter Homosexuellentreffpunkte wie des Tuileriengartens deutlich ab.

Frauen hatten unter dem Ancien Régime keinerlei Rechte. Die Monarchie versuchte ständig, die Kontrolle des Vaters über die Ehe seiner Kinder zu festigen, zu verstärken und auszuweiten. Frauen, die des Ehebruchs angeklagt waren, wurden öffentlich ausgepeitscht, ins Gefängnis geworfen oder, im Extremfall, für den Rest ihres Lebens ins Kloster gesteckt. Selbst erwachsene Männer konnten nicht ohne elterliche Einwilligung heiraten, und wenn sie eine Minderjährige (unter 25 Jahren) ohne diese Einwilligung ehelichten, konnten sie zum Tode verurteilt werden, auch wenn die Frau in die Ehe einwilligte. Die Ehe war unauflösbar – eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.

1792 wurde das gesetzliche Mündigkeitsalter für alle auf 21 Jahre heruntergesetzt, und Eheschließung ohne die elterliche Einwilligung wurde ermöglicht. Das im selben Jahr erlassene Ehescheidungsgesetz war äußerst liberal (selbst nach heutigen Maßstäben) und erlaubte Paaren die Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen oder dann, wenn einer der Ehepartner Unverträglichkeit geltend machte. Es machte die Scheidung auch für die Armen im ganzen Land erschwinglich. 70 Prozent aller Scheidungen im Jahr nach der Einführung des Gesetzes wurden von Frauen beantragt. Außerdem berechtigte ein Erlass aus dem Jahre 1793 uneheliche Kinder, sowohl von der Mutter als auch vom Vater zu erben, und es gab auch ein Gesetz, das „freie Lebensgemeinschaften“ anerkannte – zum Beispiel konnten die unverheirateten Partnerinnen von Soldaten eine staatliche Pension beziehen. Mit einem Schlag verlor die Institution der Familie eine ihrer Hauptfunktionen, nämlich die Weitergabe von Eigentum an die nächste Generation. Wie wir in „Frauen und die Französische Revolution“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 22, Sommer 2001) schrieben:

„Die Familie wurde zeitweise unterminiert, als dies den Erfordernissen der Revolution gegen deren Feinde, den Feudaladel und die katholische Kirche, dienlich war. Das ist ein Beweis dafür, dass gesellschaftliche Institutionen, die unveränderlich, ,natürlich‘ und ,ewig‘ zu sein scheinen, in Wirklichkeit nichts weiter sind als die Kodifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die vom jeweils bestehenden Wirtschaftssystem diktiert werden. Nachdem die Bourgeoisie ihre Macht als neue herrschende Klasse konsolidiert hatte, stellte sie die Zwänge der Familie wieder her. Aber nichts sollte jemals wieder so sein wie vorher. In Die deutsche Ideologie erfasste Karl Marx die widersprüchliche Realität der französischen Revolution – den atemberaubenden Sprung bei der Erringung individueller Rechte und die strikten Grenzen, die diesen Rechten gesetzt wurden, weil es sich um eine bürgerliche und keine sozialistische Revolution handelte. Er schrieb, dass ,das Dasein der Familie durch ihren Zusammenhang mit der vom Willen der bürgerlichen Gesellschaft unabhängigen Produktionsweise nötig gemacht ist. Am frappantesten zeigt sich diese Unentbehrlichkeit in der französischen Revolution, wo die Familie für einen Augenblick gesetzlich so gut als aufgehoben war.‘ “

Mit der thermidorianischen Reaktion wurden viele dieser Errungenschaften beschnitten oder abgeschafft, doch die Stellung der Frau hatte sich qualitativ verbessert, ebenso die der Homosexuellen; eine Rückkehr zur totalen Unterwerfung der Frauen, wie sie unter dem Ancien Régime existiert hatte, konnte es nie mehr geben. Und einige Jahrzehnte später, während der Pariser Kommune, spielte der Kampf für Frauenbefreiung eine zentrale Rolle. Mit dem Inkrafttreten des napoleonischen Code civil, der die bürgerliche Ordnung konsolidierte, wurden im Jahr 1804 verschiedene Moralgesetze wieder eingeführt, die auch zur Unterdrückung homosexueller Männer benutzt wurden, doch stand im Code pénal [Strafgesetzbuch] Homosexualität an sich nicht unter Strafe. Das war der Grund, weshalb Oscar Wilde und andere schwule Männer nach Frankreich ins Exil gingen, um dem Gefängnis in ihrem Heimatland zu entgehen.

Unterdrückung der Homosexuellen nach dem Zweiten Weltkrieg

Erst 1942 unter dem Vichy-Regime [französisches Regime im nicht besetzten Teil Frankreichs, das mit den Nazis kollaborierte] änderte die Pétain-Regierung das Gesetz, um Homosexualität von Neuem ausdrücklich unter Strafe zu stellen. Unter der deutschen Besatzung führten die französische Polizei und die Gestapo vermehrt Razzien gegen Homosexuelle durch, um sie dann in die Konzentrations- und Todeslager zu schicken – Verbrechen, die erst 2005 von einem französischen Staatsoberhaupt eingestanden wurden. Diese Gesetze wurden von den ersten Nachkriegsregierungen unter de Gaulle und der PCF nicht widerrufen, sondern bekräftigt. Das war die Periode der „bataille de la production“ [Produktionsschlacht]: Nach den Verwüstungen des imperialistischen Krieges gab es enorme soziale Erwartungen und große Wut in der Arbeiterklasse. Die PCF strengte sich an, den französischen Kapitalismus zu retten, und unterstützte de Gaulles „moralische Ordnung“. Sie verurteilte Streiks und drängte die Arbeiter dazu, härter und länger zu arbeiten, um mehr Profit zu erwirtschaften (aber auch mehr Kinder, künftige Fabrikarbeiter, zu zeugen…). 1945 beschwor de Gaulle die „12 Millionen schönen Babys, die Frankreich in 12 Jahren benötigt“, und Gesetze zur weiteren Stärkung der Familie wurden verabschiedet.

Im Juli 1945 beschloss die Regierung, die Altersgrenze der sexuellen Mündigkeit für Heterosexuelle auf 15 und für Homosexuelle auf 21 heraufzusetzen (1832 war sie für alle auf 11 Jahre und dann 1863 auf 13 Jahre festgesetzt worden). Im darauffolgenden Jahr verabschiedete die Regierung ein gegen Homosexuelle gerichtetes Gesetz, wonach nur Menschen von „gutem moralischen Charakter“ Beamte werden konnten. 1960, wieder unter General de Gaulle, prangerte ein gaullistischer Abgeordneter Homosexualität als eine „Geißel, vor der wir unsere Kinder schützen müssen“, an; und die Notwendigkeit, neben Alkoholismus, Prostitution und gewissen Krankheiten wie Tuberkulose auch „Homosexualität zu bekämpfen“, wurde gesetzlich verankert. Diese Gesetzesänderung rief nicht die geringste Debatte hervor.

Erst nach der Revolte vom Mai 1968 wurde es anders. Im Mai 1968 erhoben sich Jugendliche gegen de Gaulles stumpfsinnige Moralordnung und lösten damit Streiks und Fabrikbesetzungen aus, die die kapitalistische Ordnung bedrohten. Frauen und Homosexuelle erlangten erneut Verbesserungen ihrer demokratischen Rechte. Schon im Mai 68 kam es zu den ersten Versuchen, ein Revolutionäres Komitee für Schwule Aktion [CAPR] ins Leben zu rufen, aber dessen an der Sorbonne angeschlagene Flugblätter wurden heruntergerissen. In den folgenden Jahren bildeten sich Homosexuellenorganisationen wie die FHAR [Homosexuelle revolutionäre Aktionsfront], die vorrangig für Homosexuellenrechte, aber auch für das Recht auf Abtreibung und Verhütung und gegen die Sexualmündigkeitsgesetze kämpften. Diese Organisationen verschafften dem Kampf für die Rechte Homosexueller eine zuvor nie erreichte öffentliche Aufmerksamkeit. Sie nahmen an den traditionellen Mai-Demonstrationen der Arbeiterbewegung teil, wobei sie die Feindseligkeit der damaligen PCF-Führung auf sich zogen. Über die Teilnahme der FHAR an der Mai-Demonstration von 1972 schrieb Roland Leroy von der PCF in l’Humanité: „Dieses Gesindel repräsentiert nicht die Avantgarde der Gesellschaft, sondern die Verderbtheit des Kapitalismus in seinem Niedergang.“

Doch genau diese Weigerung der Arbeiterbewegung (vor allem der PCF), sich des Kampfes für die Rechte der Homosexuellen anzunehmen, führte zum Entstehen eines kleinbürgerlichen Sektoralismus, also der Auffassung, dass der Kampf für Homosexuellenrechte eine gesonderte Frage sei, um die sich vor allem die Betroffenen selbst kümmern müssten. Die heutigen Homosexuellenrechte-Gruppen haben kaum Verbindungen zur Arbeiterbewegung und zum Klassenkampf und treten ihnen oft feindselig gegenüber, obwohl nur mit deren Hilfe die Befreiung der Homosexuellen erreicht werden kann. 1974 wurde das Recht auf Verhütung endlich auch auf Minderjährige ausgedehnt und die Pille von der staatlichen Krankenversicherung bezahlt. Im Jahr darauf wurde Abtreibung legalisiert. Zwischen 1980 und 1982 wurden unter [dem konservativen Präsidenten] Giscard d’Estaing und [dem „sozialistischen“ Präsidenten François] Mitterrand schließlich auch die Gesetze gegen Homosexuelle größtenteils außer Kraft gesetzt.

Die Russische Revolution und der Kampf für soziale Emanzipation

Im Gegensatz zu Schwulenrechtsorganisationen wie der FHAR in den 1970er-Jahren oder Gruppen wie Act Up heute haben Marxisten für Homosexuelle kein gesondertes Programm. Das kommunistische Programm beinhaltet Forderungen, die die besondere Unterdrückung der Homosexuellen betreffen, und wir wissen, dass das Schicksal der Homosexuellen – wie das aller anderen unterdrückten Gruppen – vom Klassenkampf abhängt. Doch unter dem Kapitalismus sind Errungenschaften und Fortschritte reversibel, und in wirtschaftlichen Krisenperioden erstarkt stets, wie man auch heute wieder sehen kann, die soziale Reaktion.

Nur eine sozialistische Revolution kann die Grundlage dafür schaffen, mit der sozialen Unterdrückung ein für alle Mal Schluss zu machen. Unser Vorbild ist die Oktoberrevolution von 1917, die von Lenins und Trotzkis bolschewistischer Partei geführt wurde. Sofort nach der Machtübernahme begann der sowjetische Arbeiterstaat die alten bürgerlichen Vorurteile und sozialen Institutionen zu untergraben, die für die Unterdrückung der Frauen und der Homosexuellen verantwortlich waren. Die Bolschewiki schafften alle gesetzlichen Hindernisse für die Gleichheit der Frauen und alle Gesetze gegen homosexuelle und andere einvernehmliche sexuelle Aktivitäten ab. Der Leiter des Moskauer Instituts für Sozialhygiene, Dr. Grigori Batkis, erläuterte die bolschewistische Position in der Broschüre Die Sexualrevolution in Russland (1923) (siehe auch: „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 25, Frühjahr 2006):

„Die Sowjet-Gesetzgebung baut auf folgenden Prinzipien auf: Sie erklärt absolute Nichteinmischung des Staates und der Gesellschaft in geschlechtliche Beziehungen, soweit sie Niemandem Schaden bringen und Niemandes Interessen verletzen… Gegenüber dem Homosexualismus, der Sodomie und irgendwelcher anderen Form der sexuellen Befriedigung, die von den europäischen Gesetzgebungen als öffentliches Vergehen gegen die Sittlichkeit hingestellt werden, verhält sich die Sowjet-Gesetzgebung genau so wie zu dem sogenannten ,natürlichen‘ Verkehr. Alle Formen des Verkehrs sind Privatangelegenheit.“

Für die Bolschewiki war die Emanzipation der Frauen integraler Bestandteil der Emanzipation der Arbeiterklasse selbst, nicht etwas ihr Untergeordnetes. Die Bolschewiki, inspiriert von ihrem marxistischen Programm zur Frauenbefreiung, bemühten sich vergesellschaftete Alternativen zur Familie aufzubauen, soweit es ihre Möglichkeiten im rückständigen Russland zuließen: Das Land war vom Ersten Weltkrieg und dem kurz nach der Revolution ausgebrochenen Bürgerkrieg ausgeblutet und befand sich noch dazu unter dem ungeheuren Druck feindlicher imperialistischer Umzingelung. Inmitten der bitteren wirtschaftlichen Lage kämpften sie darum, die materiellen und wirtschaftlichen Mittel bereitzustellen, um die Einheit der Familie abzuschaffen und die Frauen aus der Isolation der Kinderbetreuung und der Hausarbeit zu befreien. Dieses Aufschimmern einer neuen Gesellschaft und eines Endes der Unterdrückung der Frauen wie auch der Homosexuellen verblasste während der politischen Konterrevolution, die unter den Verhältnissen der Isolation des jungen Arbeiterstaates 1923/24 unter Stalins Führung ablief. Ende 1934 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Homosexualität mit Gefängnis bestrafte, und 1936 wurde Abtreibung verboten.

Sexualität ist an sich keine politische Frage. Es ist die Bourgeoisie, die das Thema politisiert, indem sie diejenigen verfolgt, die sich den von Familie, Staat und Kirche errichteten Normen nicht fügen. Unser Bestreben ist es, das Programm von Lenins und Trotzkis Bolschewiki mit Leben zu erfüllen und das Proletariat zur Verteidigung der Rechte aller Unterdrückten zu mobilisieren, als Teil des Kampfes zum Sturz des Kapitalismus durch sozialistische Revolution. Um wirklich freie und gleiche Beziehungen zwischen den Menschen in allen Sphären, einschließlich der Sexualität, zu etablieren, bedarf es nicht weniger als der Zerschlagung der kapitalistischen Klassenherrschaft und der Schaffung einer kommunistischen Welt.