Spartakist Nr. 195 |
Oktober 2012 |
„Revolutionäre Sozialisten umarmen Islamisten
Ägypten: Militär übergibt Präsidentschaft an die Muslimbruderschaft
Übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 1005 (6. Juli), Zeitung der Spartacist League/U.S.
In den ersten Wochen des Jahres 2011 war die Welt Zeuge außergewöhnlicher Szenen des Protests von Millionen Ägyptern buchstäblich aller sozialen Klassen im ganzen Land, die sich unerschrocken Polizeiangriffen und -geschossen entgegenstellten. Mobilisiert unter der Losung „Das Volk will den Sturz des Regimes“ schafften sie es, den verhassten Diktator Hosni Mubarak zu verjagen, doch das Ergebnis war, dass das Militär im eigenen Namen die Macht übernahm. Im Verlauf der letzten anderthalb Jahre wich die Euphorie über die „Ägyptische Revolution“ zunehmend der kalten Realität: blutige Militärherrschaft, größere wirtschaftliche Not und der Aufstieg islamistischer Reaktionäre – die Muslimbruderschaft und die noch rechteren Salafisten.
Mitte Juni standen die Ägypter vor Wahlen, bei denen sie „wählen“ konnten zwischen Präsidentschaftskandidaten, die die beiden mächtigsten und bestorganisierten Kräfte im Lande verkörpern: Ahmed Schafik – ein früherer Luftwaffenkommandeur und Mubaraks letzter Premierminister – als Vertreter des Militärs und Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft. Viele Liberale und vorgebliche Linke klagten, diese Wahlen seien ein Schlag gegen die von der „Ägyptischen Revolution“ errichtete „Demokratie“; doch das Wahlergebnis war Folge der Politik der nationalen Einheit gegen Mubarak, die diese Proteste antrieb, bei denen die Arbeiterklasse nie als eigenständiger Faktor auftauchte, sondern bürgerlichen politischen Kräften untergeordnet wurde.
Am 24. Juni wurde Mursi zum Wahlsieger erklärt. Angesichts drohender Korruptionsanklagen verließen Schafik und der größte Teil seiner Familie das Land. Im Grunde überließ das Militär der Bruderschaft die Präsidentschaft als Fassade für die fortbestehende Herrschaft des Obersten Militärrats (SCAF). In Erwartung eines Wahlsiegs der Bruderschaft verstärkte der SCAF unmittelbar vor den Wahlen seinen blutigen Griff über die Gesellschaft noch mehr. Mit Verweis auf eine Gerichtsentscheidung über „Unregelmäßigkeiten“ bei den Wahlen löste er das sechs Monate zuvor gewählte, von Islamisten dominierte und im Grunde machtlose Parlament auf. Die Militärpolizei wurde ermächtigt, Zivilisten, auch streikende Arbeiter, zu verhaften. Zwar hob eine spätere Gerichtsentscheidung diese und andere Maßnahmen auf, doch tatsächlich versuchte das Militär nur zu legalisieren, was ohnehin bereits Realität war: Über 10 000 Zivilisten waren seit Februar 2011 vor Militärtribunale gestellt worden.
Wenn bürgerliche Experten und „sozialistische“ Linke in Ägypten und im Ausland den Aufstand vom vergangenen Jahr beschreiben, benutzen sie leichthin den Terminus „Revolution“, und Gruppen wie die ägyptischen Revolutionären Sozialisten (RS) rufen dazu auf, sich mit der reaktionären Muslimbruderschaft zu verbünden, um die „Konterrevolution“ zu zerschlagen. Überall in den Straßen Kairos preisen die von unterschiedlichen politischen Kräften, auch vom Militär, aufgestellten Plakatwände und Transparente die „Revolution vom 25. Januar“. Graffiti bejubeln als „Märtyrer der Revolution“ die von der Militärpolizei getöteten Menschen – fast 1000 während der Erhebung und viele andere seither.
Aber die Wahrheit muss gesagt werden: Dies war keine Revolution. Abertausende gingen in Kairo, Alexandria und kleineren Städten auf die Straße, getrieben von bitterer Armut und dem heftigen Verlangen, die diktatorische Herrschaft und allseitige Unterdrückung abzuschütteln, die dem ägyptischen Kapitalismus eigen ist. Doch alles, was ihnen von den politischen Kräften, die den Aufstand anführten, angeboten wurde, war eine andere Form kapitalistischer Klassendiktatur. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts führten Arbeiter Streiks und Fabrikbesetzungen durch, dies erreichte einen Höhepunkt im Jahr 2011, aber die Arbeiterklasse griff nicht eigenständig in die politische Auseinandersetzung ein, um für ihre eigenen Klasseninteressen zu kämpfen.
Bei den Präsidentschaftswahlen ging im ersten Wahlgang ein Großteil der Stimmen der Arbeiterklasse an Hamdin Sabahi, der mit fast 21 Prozent Dritter wurde. Sabahi sammelte eine Menge Unterstützung, weil er sich auf den links-nationalistischen Führer Gamal Abdel Nasser und dessen Verstaatlichungsprogramm berief, das Hand in Hand mit brutaler Unterdrückung ging. Dieses Votum drückte zwar den Wunsch vieler Werktätiger aus, sowohl dem Militär als auch den Islamisten eine Absage zu erteilen, doch war es auch ein deutliches Zeichen für die politische Unterordnung des Proletariats unter seinen kapitalistischen Klassenfeind. Das riesige Reservoir an nationalistischem Bewusstsein – bei den Demonstrationen letztes Jahr an der Allgegenwart der ägyptischen Flagge und der ständig wiederholten Losung „Armee und Volk, Hand in Hand“ zu erkennen – leistet den ägyptischen Herrschern schon seit langem gute Dienste, indem es die Klassenspaltung zwischen der winzigen Schicht stinkreicher Kapitalisten und den brutal ausgebeuteten Arbeitern und Bauern verschleiert.
Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land. Es hat eine der größten, kämpferischsten und potenziell mächtigsten Arbeiterklassen der Region. Obwohl das Militär an der Macht festhält, bleibt Ägypten eine zutiefst instabile Gesellschaft. Trotz Wochen endlosen Wahlkampfes und Drucks, zur Wahl zu gehen, war es mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten nicht der Mühe wert, sich an dem Wahlzirkus des SCAF zu beteiligen. Die materiellen Lebensbedingungen haben sich für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich verschlechtert, Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit steigen stark an. Die verhasste Polizei, einschließlich der Zentralen Sicherheitskräfte (CSF), bleibt unangetastet und wird bald wieder auf der Straße eingesetzt werden, um „Gesetz und Ordnung“ Geltung zu verschaffen. Sowohl das Militär als auch die Bruderschaft haben ihre Absicht zur Wiederherstellung der „Stabilität“ deutlich gemacht, auch durch hartes Durchgreifen gegenüber Streiks.
Die Lage schreit förmlich nach dem Aufbau einer internationalistischen Arbeiterpartei. Wie wir nach Mubaraks Sturz schrieben („Ägypten: Militär übernimmt kapitalistisches Regime“, Spartakist Nr. 187, März 2011):
„Elementare demokratische Rechte wie rechtliche Gleichheit für Frauen und die völlige Trennung von Religion und Staat; Agrarrevolution, um das Land den Bauern zu geben; ein Ende von Arbeitslosigkeit und zermürbender Armut: Die grundlegenden Sehnsüchte der Massen können erst mit dem Sturz der bonapartistischen kapitalistischen Ordnung erfüllt werden. Das Werkzeug, das die Arbeiterklasse unbedingt braucht, um die Führung zu übernehmen, ist eine proletarisch-revolutionäre Partei, die nur im unnachgiebigen Kampf gegen alle bürgerlichen Kräfte aufgebaut werden kann, vom Militär zur Bruderschaft und den Liberalen, die fälschlicherweise behaupten, die Kämpfe der Massen zu unterstützen. Solch eine Partei muss, indem sie gegen die Unterdrückung von Frauen, Bauern, koptischen Christen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten kämpft, als ,Volkstribun‘ handeln, wie es der bolschewistische Führer W. I. Lenin ausdrückte.“
Bückling vor der Muslimbruderschaft
Jene Gruppen in Ägypten, die sich auf den Sozialismus berufen, stehen dem Kampf für die Macht der Arbeiterklasse im Weg, denn sie propagieren die Notwendigkeit einer Einheit „des Volkes“ zur „Fortsetzung der Revolution“ und lassen so die spezifischen Klasseninteressen des Proletariats verschwinden. Hier sind vor allem die Revolutionären Sozialisten zu nennen, eine in der Tradition von Tony Cliff stehende Tendenz mit Verbindungen sowohl zur amerikanischen International Socialist Organization (ISO) als auch zur britischen Socialist Workers Party (SWP) [in Deutschland marx21]. Insbesondere seit der Erhebung vom vergangenen Jahr stiegen die RS zur einflussreichsten „extrem linken“ Gruppe in Ägypten auf, deren Erklärungen und Artikel von linken Organisationen weltweit übersetzt und gelesen werden.
Die RS verursachten ihren eigenen Mitgliedern einige Bauchschmerzen, als sie im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen offiziell den Kandidaten der Muslimbruderschaft Mursi unterstützten. Die Grundlage für diese Kapitulation vor den Todfeinden von Frauen, Arbeitern und religiösen Minderheiten war schon bei der Gründung der RS in den 1990er-Jahren geschaffen worden, als sie sich der Feindseligkeit anderer Linker gegenüber dem politischen Islam entgegenstellten. Die RS behaupten, die Bruderschaft sei wegen ihrer Massenbasis mit „Widersprüchen“ behaftet, die Sozialisten ausnutzen können (siehe „Pandering to Reactionary Muslim Brotherhood“ [Appelle an reaktionäre Muslimbruderschaft], WV Nr. 974, 18. Februar 2011). Am 28. Mai veröffentlichten die RS eine Erklärung mit dem Aufruf zu „einer nationalen Front, die sich gegen den Kandidaten der Konterrevolution [Schafik] stellt“.
Darauf folgte am 4. Juni eine Erklärung mit dem Titel „An Genossen“, in der die RS einräumten, dass die Erklärung vom 28. Mai „bei einer Reihe von RS-Mitgliedern ein negatives Echo hervorgerufen“ habe. Dennoch unterstützten die RS weiterhin die Bruderschaft auf der Grundlage, die „Konterrevolution“ müsse besiegt werden. Doch am 4. Juni veröffentlichten sie noch eine weitere Erklärung (abgedruckt in der Ausgabe vom 8. Juni ihrer Zeitung The Socialist), in der sie zum Boykott der Wahlen aufriefen, falls das „politische Ausschlussgesetz“ – das vom Parlament Anfang des Jahres verabschiedet worden war und ehemalige hochrangige Mitglieder des Mubarak-Regimes daran hindert, zur Wahl anzutreten – nicht umgesetzt werden sollte. Da Schafik der Hauptkandidat mit Verbindungen zu Mubarak war, war diese Linie einfach eine Form der Unterstützung für die Bruderschaft durch die Hintertür. (Das Gesetz wurde nicht umgesetzt.)
In ihrer Erklärung „An Genossen“ beschrieben die RS die Bruderschaft als „eine Organisation voller Klassenwidersprüche, die sich hinter vagen religiösen Losungen verbergen“. Nein! Dies ist eine religiöse bürgerliche Organisation. Und nichts an ihrem religiösen Programm ist „vage“. Der erstickende Mief des Einflusses der Bruderschaft durchdringt Ägypten schon seit langem. Es gibt kein Gesetz, das Frauen dazu zwingt, das Kopftuch zu tragen, doch die überwiegende Mehrheit tut es aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, der von der Muslimbruderschaft und den noch unnachgiebigeren Salafisten ausgeübt wird. Ägyptens koptische Christen sind mit Recht über den Sieg der Bruderschaft entsetzt. Und Frauen steht eine noch düsterere Zukunft bevor. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, was die Islamisten vorhaben, braucht man sich nur zwei im jetzt aufgelösten Parlament eingebrachte Gesetzentwürfe anzusehen. Der eine, eingebracht von einem Salafisten, wollte die grauenhafte Praxis der Genitalverstümmelung von Frauen wieder legalisieren, die ohnehin grassiert. Ein anderer wollte das Mindestheiratsalter für Mädchen auf 14 Jahre senken.
Die RS versuchten ihre ungeheuerliche Unterstützung für die Bruderschaft mit dem Argument zu rechtfertigen, dass die „Feloul“ – „Überbleibsel“ des Mubarak-Regimes – um jeden Preis vernichtet werden müssten. Doch während die RS sich heute über die von den Militärherrschern ausgehenden Gefahren ereifern, hatten sie, als kurz vor Mubaraks Rücktritt die Armee in den Straßen Kairos aufmarschierte, an der nationalistischen Jubelfeier teilgenommen. Inmitten vorherrschender Illusionen in das Militär klagten sie in einer Erklärung vom 1. Februar 2011: „Diese Armee ist nicht mehr die Armee des Volkes.“ Die Armee der kapitalistischen Regime von Nasser, Sadat und Mubarak war niemals „die Armee des Volkes“. Die RS verbreiteten sogar Illusionen in die Polizei und freuten sich in einer Erklärung vom 13. Februar 2011, dass „die Welle der sozialen Revolution täglich breiter wird und sich neue Bereiche dem Protest anschließen wie Polizisten, Muchabarin [Agenten des Geheimdienstes Muchabarat] und Polizeioffiziere“!
Wir als Marxisten sind gegen das reformistische Bezugssystem der RS, das davon ausgeht, die einzigen beiden „Alternativen“ seien eine Kapitulation entweder vor den „säkularen“, vom Militär unterstützten Kräften wie Schafik oder vor den Islamisten wie der Bruderschaft. In Wirklichkeit sind dies nur alternative Wege, um die kapitalistische Herrschaft aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz zur Unterstützung der Bruderschaft durch die RS gaben unsere Genossen von der Trotzkistischen Gruppe Griechenlands der Kommunistischen Partei (KKE) kritische Wahlunterstützung (Erklärung abgedruckt in Spartakist Nr. 194, Juli 2012). Einfach ausgedrückt: Die KKE, eine Partei der Arbeiterklasse, zog in diesen Wahlen trotz ihres stalinistischen Programms der Klassenzusammenarbeit eine grobe Klassenlinie gegenüber der imperialistischen Europäischen Union und nimmt für sich in Anspruch, den Kapitalismus zu hassen. Die reaktionäre Bruderschaft hingegen, wie sogar die Cliff-Anhänger zugeben, liebt den Kapitalismus!
Die Inkohärenz der Inkohärenz
Was die RS-Mitglieder am Wahltag wirklich taten, darüber kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall unterstützten die Gesinnungsgenossen der RS in der britischen SWP den Aufruf zur Wahl Mursis voll und ganz. Anne Alexander schrieb in einem Artikel im Socialist Worker vom 16. Juni: „Die Stimmabgabe für Mursi und gegen Schafik ist ein wichtiger Schritt beim Aufbau einer revolutionären Bewegung über die Wahlen hinaus.“ Um sich zu verdeutlichen, was bei der Unterstützung islamistischer Kräfte herauskommen kann, braucht man nur nach Tunesien zu schauen, der Wiege des „Arabischen Frühlings“, historisch die säkularste Gesellschaft in Nordafrika. Unter der „moderat“-islamistischen Ennahda-Regierung brennen die Salafisten Büros des Gewerkschaftsverbandes UGTT nieder und üben eine Terrorherrschaft gegen Frauen an den Universitäten aus. In Ägypten laufen die Salafisten bereits Amok und brennen Kasinos, Bars, Spirituosenläden und vermeintliche Bordelle nieder und setzen Frauen ungeheuer unter Druck, den Ganzkörperschleier Niqab zu tragen.
Die amerikanischen Cliff-Anhänger der ISO fanden die Linie der RS, zur Stimmabgabe für Mursi aufzurufen, „überraschend“ und fügten hinzu, dass deren Erklärung vom 28. Mai „viele beunruhigende Fragen aufwirft“. Doch ihre Meinungsverschiedenheiten sind rein taktischer Natur. In „Egypt’s Elections Dead End“ [Sackgasse der ägyptischen Wahlen] beklagt Alan Maass von der ISO, dass die Bruderschaft „während der Rebellion von 2011 unentschlossen war“ und „sich immer wieder gesträubt hat, die Revolution zu verteidigen“ (socialistworker.org, 31. Mai). Maass fügt zwar hinzu, dass die Bruderschaft ein „glühender Verfechter der Politik des freien Marktes“ und „in vielen gesellschaftlichen Fragen im großen und ganzen konservativ eingestellt ist“, doch die ebenso auf Klassenzusammenarbeit basierende „Alternative“ der ISO bestand darin, dem bürgerlichen Nasser-Anhänger Sabahi hinterherzulaufen.
Die doch recht milde Kritik von Maass ließ Mostafa Ali und andere von den RS aufheulen, wie in Einträgen auf der Website der ISO zu sehen ist. In einem Eintrag vom 3. Juni weist Ali Maass zurecht, er habe „einseitig“ „die Verpflichtung der Bruderschaft auf den Kapitalismus zum Barometer für Entscheidungen darüber gemacht, ob man sie wählen solle oder nicht“. Ali versicherte den Lesern, man könne nun seit dem ersten Wahlgang „auf Millionen zählen, um die Muslimbruderschaft auf Schritt und Tritt unter Druck zu setzen“. Am nächsten Tag erklärte Bill Crane von der ISO in Erwiderung auf Maass: „Die Führer der Bruderschaft haben trotz ihrer reaktionären Politik ein direktes Interesse daran, Errungenschaften der Revolution wie politische Demokratie und Beendigung staatlicher Repression zu erhalten.“
Dies ist ein Nachhall der von den opportunistischen linken Organisationen im Iran und international vertretenen Linie, in der „Islamischen Revolution“ von 1978/79, die die blutige Herrschaft des von den USA gestützten Schah beendete, ihre Unterstützung für Ajatollah Chomeinis Aufstieg zur Macht zu propagieren. Wir verwiesen auf die soziale Macht des iranischen Proletariats und erhoben die Losung: Nieder mit dem Schah! Nein zu den Mullahs! Arbeiter an die Macht! Was ISO und SWP angeht, so gehörten sie zu denen, die die islamischen Reaktionäre am meisten bejubelten, wobei die ISO einen ihrer Artikel betitelte: „Die Form – Religion, der Geist – Revolution“ (Socialist Worker, Januar 1979). Als die Islamisten an die Macht kamen, verübten sie mörderische Repression gegen Frauen, Homosexuelle, religiöse, ethnische und nationale Minderheiten sowie ein Blutbad an den Linken, von denen sie als „antiimperialistische“ Kraft hochgejubelt worden waren.
Die Unterstützung der RS für die ägyptische Bruderschaft kann sich als ähnlich selbstmörderisch erweisen. Ende letzten Jahres setzten Islamisten eine bösartige Kampagne gegen die RS in Gang, die von den Sicherheitskräften des Staates aufgegriffen und vom Großteil der bürgerlichen Medien verbreitet wurde. Die Zeitung der Muslimbruderschaft veröffentlichte einen Titelseitenartikel, der die RS als gewalttätig brandmarkte, und die salafistische Al-Nour-Partei beschuldigte die Organisation der „Anarchie“ und der Finanzierung durch die CIA – ein offener Aufruf zu Verhaftung und Schlimmerem. Doch die RS lassen von ihrer sonderbaren Begeisterung für die Islamisten – nicht nur für die Bruderschaft – nicht ab. In einem Blogeintrag über die jüngste Teilnahme seiner Gruppe an von Salafisten organisierten Demonstrationen schildert der RS-Führer Hossam el-Hamalawy voller Begeisterung, wie die RS „dem revolutionärsten Flügel der salafistischen Bewegung die Hand reichen und sich dort Respekt erwerben“.
In einem „offenen Brief“ vom 5. Juni an die RS zeigt sich die reformistische Internationale Marxistische Tendenz (IMT) von Alan Woods besorgt darüber, dass eine Unterstützung der Bruderschaft „das Ansehen und den Einfluss der Revolutionären Sozialisten bei den Arbeitern und breiteren Massen beschädigen“ wird. Wie die ISO warb die IMT für den nasseristischen Kandidaten Sabahi, der einem Artikel von Woods vom 1. Juni zufolge „das enorme Potenzial für einen künftigen Sieg der Linken in Ägypten zeigt“. Unterstützung für derartige bürgerliche Kräfte ist der IMT in Fleisch und Blut übergegangen; ihr gehören Sektionen an, die seit Jahren kapitalistischen Parteien angehören, wie z. B. der pakistanischen Volkspartei.
Unterstützung für arabischen Nationalismus hat zur blutigen Niederlage der Arbeiterbewegung im gesamten Nahen Osten geführt, nicht zuletzt in Ägypten, wo Nasser mit Unterstützung der Stalinisten an die Macht kam, nur um sie später brutal zu unterdrücken. Der völlige Bankrott des bürgerlichen Nationalismus und der stalinistischen Politik der Unterordnung unter diese Kräfte führten in Ägypten und im gesamten Nahen Osten zum Anwachsen des politischen Islam, der sich aus dem Elend und der Armut der Massen nährt.
In ihrem Material zur Rechtfertigung der Stimmabgabe für Mursi stellten die RS die Bruderschaft im Grunde als eine Organisation dar, die sich in ständigem Konflikt mit den ägyptischen Herrschern befindet. Unter Nasser, Anwar Sadat und Mubarak wurden die Islamisten zu verschiedenen Zeiten unterdrückt, toleriert und sogar gehätschelt. Anfang der 1970er-Jahre ließ Sadat messerschwingende Bruderschaftler auf die Universitäten los, um dort die Kommunisten zu zerschlagen. Mubarak wiederum fand es nützlich, die Bruderschaft zu tolerieren, um sein Regime als die einzige Barriere gegen eine islamische Herrschaft darzustellen.
Letztlich gibt es für die werktätigen Massen Ägyptens nur zwei Alternativen: entweder Verelendung und scharfe soziale Unterdrückung unter der einen oder anderen Form bürgerlicher Herrschaft – oder Herrschaft der Arbeiterklasse und Ausweitung der sozialistischen Revolution auf ganz Nordafrika und den Nahen Osten sowie auf die imperialistischen Zentren. Wie Leo Trotzki erklärte, als er seine Theorie der permanenten Revolution ausarbeitete, ist die Bourgeoisie in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung zu schwach, zu rückständig und zu abhängig vom Imperialismus, um die Modernisierung und allseitige Entwicklung dieser Gesellschaften zustande zu bringen. So schrieben wir in „Ägypten: Militär, Islamisten bedrohen Frauen, Kopten, Arbeiter“ (Spartakist Nr. 192, März 2012):
„Die Befreiung der ägyptischen Massen erfordert den Sturz nicht nur des Militärs, sondern auch der Kapitalisten, der Großgrundbesitzer, des islamischen Klerus und der Imperialisten, die von der qualvollen Unterdrückung der Bevölkerung profitieren. Die Macht dazu liegt in den Händen der Arbeiterklasse, deren Bewusstsein umgewandelt werden muss von dem einer Klasse an sich, die ihre Lage innerhalb des Rahmens des Kapitalismus zu verbessern versucht, zu dem einer Klasse für sich, die ihr historisches Potenzial erkennt, alle Unterdrückten in einem revolutionären Kampf gegen das kapitalistische System anzuführen.“
Die kapitalistische Wirtschaftskrise, die verheerende Auswirkungen auf Leben und Auskommen der arbeitenden Menschen von Nordafrika bis Europa, Nordamerika und Japan hat, unterstreicht die Notwendigkeit einer Perspektive, die gleichzeitig revolutionär, proletarisch und internationalistisch ist. Für die Umsetzung dieser Perspektive ist eine proletarische Führung von entscheidender Bedeutung. Es gilt, revolutionäre Arbeiterparteien auf der Grundlage politischer Unabhängigkeit von allen bürgerlichen Kräften und mit der Verpflichtung zum Kampf für eine sozialistische Weltordnung aufzubauen.