Spartakist Nr. 194 |
Juli 2012 |
Zitat
Mehrheit, Proletariat und Staatsmacht
Gegen die Sozialdemokraten der Zweiten Internationale polemisierend, die predigten, dass der Sozialismus durch Gewinnen der Mehrheit im bürgerlichen Parlament eingeführt werden könne, unterstrich der bolschewistische Führer W.I. Lenin, dass das Proletariat die Unterstützung der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung gewinnen könne durch die Zerschlagung des bürgerlichen Staats und dessen Ersetzung durch einen Arbeiterstaat, der das kapitalistische Eigentum enteignet. Diese Lehre hat spezielle Wichtigkeit heute in den USA, Europa und in der gesamten kapitalistischen Welt, wo die Massen der Bevölkerung verarmt werden durch die dauernde wirtschaftliche Krise.
Auf welche Weise kann die Staatsmacht in den Händen des Proletariats zum Werkzeug seines Klassenkampfes werden, um Einfluss auf die nichtproletarischen werktätigen Massen zu bekommen? um diese Massen auf die Seite des Proletariats herüberzuziehen? um sie der Bourgeoisie zu entreißen, abzugewinnen?
In erster Linie erzielt das Proletariat dies dadurch, dass es nicht den alten Apparat der Staatsmacht in Bewegung setzt, sondern ihn zerbricht, keinen Stein von ihm auf dem andern lässt (dem Gezeter der erschreckten Kleinbürger und den Drohungen der Saboteure zum Trotz) und einen neuen Staatsapparat schafft. Dieser neue Staatsapparat ist der Diktatur des Proletariats und seinem Kampf gegen die Bourgeoisie um die nichtproletarischen werktätigen Massen angepasst. Dieser neue Apparat ist nicht von irgend jemand erdacht, er wächst hervor aus dem Klassenkampf des Proletariats, aus der Verbreiterung und Vertiefung dieses Kampfes. Dieser neue Apparat der Staatsgewalt, dieser neue Typus der Staatsmacht ist die Sowjetmacht.
Als das Proletariat Russlands die Staatsmacht erobert hatte, erklärte es den alten Staatsapparat (der, wie Marx gezeigt hat, jahrhundertelang darauf eingerichtet war, den Klasseninteressen der Bourgeoisie zu dienen, und zwar auch in der demokratischsten Republik) unverzüglich, innerhalb weniger Stunden, für aufgelöst und übergab alle Macht den Sowjets…
Zweitens kann und muss das Proletariat sofort oder zum mindesten sehr bald der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Demokratie „ihre“ Massen, d. h. die Massen, die ihnen gefolgt sind, abgewinnen, und zwar dadurch, dass es auf revolutionärem Wege, durch Expropriation der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die dringlichsten ökonomischen Bedürfnisse dieser Massen befriedigt.
Dazu ist die Bourgeoisie nicht imstande, selbst wenn sie über eine noch so „mächtige“ Staatsgewalt verfügt.
Das Proletariat dagegen ist sofort am Tage nach der Eroberung der Staatsmacht dazu imstande, denn es besitzt sowohl den hierfür erforderlichen Apparat (die Sowjets) als auch die ökonomischen Mittel (die Expropriation der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie)…
Diese Dialektik haben die Verräter, Dummköpfe und Pedanten der II. Internationale nie begreifen können: das Proletariat kann nicht siegen, ohne die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu erobern. Allein diese Eroberung unter der Herrschaft der Bourgeoisie auf die Erzielung einer Stimmenmehrheit bei Wahlen beschränken oder sie davon abhängig machen zu wollen zeugt von abgrundtiefer Beschränktheit oder läuft auf einen glatten Betrug an den Arbeitern hinaus. Um die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen, muss das Proletariat erstens die Bourgeoisie stürzen und die Staatsmacht erobern; es muss zweitens die Sowjetmacht einführen, nachdem es den alten Staatsapparat in Trümmer geschlagen hat, wodurch es sofort die Herrschaft, die Autorität, den Einfluss der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Paktierer unter den nichtproletarischen werktätigen Massen untergräbt. Es muss drittens den Einfluss der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Paktierer innerhalb der Mehrheit der nichtproletarischen werktätigen Massen durch revolutionäre Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse auf Kosten der Ausbeuter endgültig vernichten.
– W.I. Lenin, „Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariats“, Dezember 1919, Werke Band 30