Spartakist Nr. 192 |
März 2012 |
Tunesien und der Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung
Der nachfolgende Text ist ein leicht redigierter Auszug aus einem ausführlichen Artikel über die tunesischen Wahlen aus Le Bolchévik Nr. 198 (Dezember 2011).
Nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes war der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung populär. Es wurde argumentiert, dass so demokratische Forderungen angesprochen werden könnten. In Wirklichkeit kann aber nur die proletarische Macht diese Forderungen erfüllen. Wir betonten in unserer Propaganda, dass die Arbeiterklasse „Fabrikkomitees, Organe der Doppelherrschaft am Arbeitsplatz und darauf aufbauend unter Einbeziehung der städtischen Armen und Arbeitslosen Arbeitermilizen zur Selbstverteidigung gegen die staatlichen Schläger“ errichten muss (Le Bolchévik Extra, 4. Februar 2011). Doch wir erhoben unmittelbar nach Ben Alis Sturz, wie auch kurz danach in Ägypten, zusätzlich die Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung. Nach reiflicher Untersuchung und Überlegung aber hat die Internationale Kommunistische Liga ihre Position in dieser Frage geändert. Zwar haben wir wie unsere Vorgänger in der trotzkistischen Bewegung (auch Trotzki selbst) in der Vergangenheit und unter anderen Umständen häufig die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung erhoben, dennoch hielten wir es für notwendig, die Frage aufzuwerfen, ob diese Forderung vom Standpunkt der proletarischen Revolution aus gesehen aufgrund historischer Erfahrung Bestand haben kann und prinzipienfest ist, oder nicht. Eine jüngst vom Internationalen Exekutivkomitee der IKL angenommene Resolution erklärt:
„Während die konstituierende Versammlung in der großen französischen bürgerlichen Revolution von 1789 eine fortschrittliche Rolle spielte, zeigt die spätere historische Erfahrung, dass dies danach nicht mehr zutraf. Seit den Revolutionen von 1848 war es immer, wenn eine konstituierende Versammlung oder eine ähnliche bürgerliche gesetzgebende Körperschaft vor dem Hintergrund eines proletarischen Aufstandes einberufen wurde, deren Ziel, die Kräfte der Konterrevolution gegen das Proletariat zu sammeln und die proletarische Macht zu liquidieren. Das war bei der Pariser Kommune 1871, der Oktoberrevolution 1917 und der Deutschen Revolution 1918/19 offensichtlich. Obwohl dies von der KI (Kommunistische Internationale) in der Folge nie als allgemeines Leitprinzip festgeschrieben wurde, war es die Stoßrichtung der Bolschewiki unter der Führung Lenins und Trotzkis nach der Oktoberrevolution, die konstituierende Versammlung als eine Agentur der Konterrevolution zu behandeln.“
Somit lehnt die IKL Aufrufe zu einer konstituierenden Versammlung aus Prinzip ab. In unserer Propaganda zu Tunesien haben wir betont, dass es nötig ist, nach Jahrzehnten diktatorischer Herrschaft die brennenden demokratischen Forderungen der Massen anzusprechen, was ein Hebel ist, um die Arbeiterklasse und hinter ihr die Unterdrückten für eine sozialistische Revolution zu mobilisieren. Solche Forderungen sind etwa die nach Presse- und Versammlungsfreiheit, wirklicher Trennung von Kirche und Staat usw. Doch der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung ist keine demokratische Forderung, sondern der Ruf nach einer kapitalistischen Regierung. Unsere Ablehnung eines solchen Aufrufs spiegelt sowohl die historische Erfahrung des Proletariats als auch die Erweiterung des marxistischen Programms über die Jahre wider. (Dies schließt nicht aus, bei solchen Wahlen Kandidaten aufzustellen mit dem Ziel, den Wahlkampf und mögliche errungene Parlamentssitze als Plattform zu nutzen, um die Arbeiterklasse dazu aufzurufen, sich als Klasse für sich zu organisieren – d. h. für ihre eigene Klassenherrschaft zu kämpfen.)
Marx knüpfte an die Erfahrung der Revolutionen von 1848 an, wo die europäischen Bourgeoisien gemeinsame Sache machten mit den Kräften der aristokratischen Reaktion, als er „Die Revolution in Permanenz“ propagierte. Er verwies auf den Verrat der demokratischen Kleinbourgeoisie und argumentierte, es sei die Aufgabe, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert“ und die Revolution international ausgeweitet wurde („Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850“). Trotzki wandte diese Erkenntnis in seinen Schriften von 1904–06 auf das zaristische Russland an und verallgemeinerte dann zur Zeit der Zweiten Chinesischen Revolution das Programm der permanenten Revolution generell auf alle Länder mit rückständiger Entwicklung. Unser Verständnis vom reaktionären Charakter der Bourgeoisie, sowohl in den halbkolonialen als auch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, bedeutet, dass es kein revolutionäres bürgerliches Parlament geben kann. Der Aufruf zu einer konstituierenden Versammlung steht somit in Widerspruch zur permanenten Revolution.