Spartakist Nr. 188 |
Mai 2011 |
Eine marxistische Perspektive für den Nahen Osten
Nachfolgende Präsentation des Genossen Bruce André erschien zuerst in Le Bolchévik Nr. 162 (Winter 2002/2003), Zeitung der Ligue trotskyste de France.
Genossen, diese Diskussion wirft Fragen auf, die besonders im Nahen Osten für den Aufbau einer revolutionären Partei grundlegend sind. Aber bevor ich zu programmatischen Fragen komme, möchte ich die Unterschiede zwischen drei Dingen klarstellen: dem jüdischen Volk, das jahrhundertelang ganz unabhängig vom Staat Israel oder gar vom Zionismus existierte; der hebräischsprachigen Nation in Palästina; und dem zionistischen Staat. Ich denke, es gibt eine Tendenz, das durcheinander zu bringen, besonders die letzteren zwei, die hebräischsprachige Nation und den zionistischen Staat.
Fangen wir an mit dem jüdischen Volk. Unser Verständnis wurde von Abraham Léon in seinem Buch Die jüdische Frage – Eine marxistische Darstellung formuliert. Dieses Buch existiert nicht in arabischer Sprache, und ich hoffe, dass wir eines Tages dieses Versäumnis beheben können. Léon war ein belgischer Trotzkist, den die Nazis im Todeslager Auschwitz ermordeten. Er lieferte eine materialistische Erklärung dafür, dass das jüdische Volk in Europa über Jahrhunderte hinweg mit seiner eigenen Sprache, Kultur und Religion existierte, und für die brutale Unterdrückung dieses Volkes im Kapitalismus. Léon erklärte, dass die Juden keine Nation darstellen, das heißt keine kulturell homogene Bevölkerung, die in einem bestimmten Gebiet mit einer eigenen nationalen Wirtschaft lebt. Das ist nämlich gemäß leninistischer Kriterien die Definition einer Nation. Léon führte stattdessen aus, dass die Juden in der feudalen und vorfeudalen Gesellschaft eine spezielle soziale Rolle hatten: als Händler und Geldverleiher. Er nannte sie eine „Volksklasse“.
Diese besondere soziale Rolle, das Leben in den Poren der feudalen Gesellschaft, liefert eine materialistische Erklärung für die fortdauernde Existenz der Juden in West- und Osteuropa. Der Aufstieg des Handelskapitalismus in Europa setzte ihrer speziellen Rolle als Händler, die die Juden innehatten, ein Ende. In Westeuropa wurden sie entweder assimiliert oder in den wirtschaftlich rückständigeren Osten abgedrängt. Dort, in Osteuropa, zerbrach die Feudalordnung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Zeit, als der Kapitalismus schon im Verfall begriffen war. Es gab weitverbreitete Arbeitslosigkeit und periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen. Das Ergebnis war, dass die Kleinbourgeoisie und die Bauern, für die der verfaulende Kapitalismus auch keinen Platz hatte, ihre Feindseligkeit gegen die Juden richteten.
Diese kleinbürgerlichen Schichten versuchten sich auf Kosten der Juden einen Platz zu verschaffen und starteten Pogrome, antijüdische Aufstände. Die Pogrome lösten eine Flüchtlingswelle nach Westeuropa zu einer Zeit aus, als der Kapitalismus sie dort auch nicht mehr eingliedern konnte, und so entstand ein ähnliches Problem im Westen. In Frankreich gab es Ende des 19. Jahrhunderts während der Dreyfus-Affäre Pogrome. Übrigens auch in Algerien. In Deutschland fand, wie wir alle wissen, das ultimative Pogrom statt, eines der größten Horrorereignisse der gesamten menschlichen Geschichte: der Holocaust. Die Nazis benutzten moderne kapitalistische Produktionsmethoden, um systematisch und bewusst ein ganzes Volk auszulöschen. Die sogenannten demokratischen Staaten wie die USA und Britannien verschlossen den verzweifelten Juden auf der Flucht vor den Nazis ihre Tore.
Mit der Frage von Juden in arabischen Ländern beschäftigt sich Abraham Léon nicht. Es wäre gut, wenn unsere Partei die Unterschiede zwischen der Situation der Juden in Europa und in arabischen Ländern untersuchen und klären würde. Aber ein wichtiger Unterschied ist, dass die Entwicklung des Kapitalismus im Nahen Osten und in Nordafrika nicht bis zu einem Punkt fortgeschritten war, wo sie solche systematischen, gewaltsamen Verwerfungen hervorrief wie in Europa. Es gab Angriffe gegen Juden, aber nicht im gleichen Ausmaß wie in Europa. Die Bedingungen für Juden waren in den arabischen Ländern merklich besser als im christlichen Europa.
Das änderte sich mit dem Aufstieg des arabischen Nationalismus Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in fast allen arabischen Ländern eine Welle von Pogromen und terroristischen Anschlägen gegen Synagogen und öffentliche jüdische Treffpunkte. Dies fand einen Höhepunkt während des Palästinakriegs 1948/49. Das führte – natürlich unter tatkräftiger Mitwirkung der Zionisten – zu einem Massenexodus von Juden aus arabischen Ländern; die meisten gingen nach Israel. Als 1947/48 der Staat Israel gegründet wurde, gab es ebenso viele Juden in den arabischen Ländern, deren Muttersprache Arabisch war, wie es Juden in Israel gab, die Hebräisch sprachen (oder lernten). Es verwundert nicht, dass Juden aus arabischen Ländern und ihre Nachfahren, bekannt als orientalische Juden, in der Regel zu den reaktionärsten und anti-arabischsten Schichten der israelischen Bevölkerung gehören.
Geburt des zionistischen Staates
Die Juden in Europa waren also – ebenso wie die in arabischen Ländern – keine Nation. Auch die Juden, die vor dem Holocaust in Palästina lebten, waren keine Nation. In den frühen 1930er-Jahren lebten kaum mehr als 100 000 Juden in Palästina, und viele von ihnen waren keine Zionisten.
Wie entstand nun aus diesen Menschen eine Nation? Bevor die Nazis 1933 an die Macht kamen, war der Zionismus in Europa eine winzige Sekte kleinbürgerlicher Intellektueller ohne Einfluss in der jüdischen Bevölkerung. In den osteuropäischen Ghettos waren die politisch aktiven Juden im Wesentlichen entweder Kommunisten oder Mitglieder des Bundes, einer jüdischen sozialistischen Organisation, die den Menschewiki nahestand. Erst die welthistorische Niederlage der deutschen Arbeiterklasse 1933 und die Machtübernahme Hitlers transformierten den Zionismus zu einer Massenbewegung. Der Aufstieg der Nazis in Deutschland schuf auch die Basis für eine hebräischsprachige Nation in Palästina, denn er bewirkte große jüdische Auswanderungswellen vor dem Holocaust und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zionisten appellierten direkt an den britischen Imperialismus, der Palästina militärisch kontrollierte, ein sogenanntes „jüdisches Heimatland“ zu unterstützen. Und die britischen Herrscher, antisemitisch bis ins Mark, erklärten sich dazu bereit, weil sie es als ein Hilfsmittel sahen, den Nahen Osten zu zerteilen und zu beherrschen. Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es die Balfour-Deklaration, in der die Briten den Zionisten eine Heimat in Palästina versprachen. Heute sind natürlich die US-Imperialisten die speziellen Paten des zionistischen Staates.
Anders als viele Kolonialsiedler in der Geschichte war das Ziel der Zionisten nicht hauptsächlich, Palästinenser auszubeuten, sondern sie zu vertreiben und eine geschlossene Wirtschaft ausschließlich jüdischer Gemeinden zu errichten. Und damit hatten sie letztendlich Erfolg, da es massiven Zustrom jüdischer Arbeitskraft und jüdischen Kapitals aus Europa gab. Ein großer Schritt in diese Richtung fand während des arabischen Aufstands 1936–39 gegen die britische Besatzung statt. Die Zionisten spielten eine wesentliche Rolle dabei, zusammen mit den Briten den Aufstand niederzuschlagen, durch militärischen Terror gegen die Palästinenser. Als 1947 die UNO das Land offiziell aufteilte, hatte schon eine hebräischsprachige Nation in Palästina ihr Gebiet abgesteckt.
Die Teilung 1947 hatte einen Krieg zur Folge, in dem die Zionisten das eroberten, was heute der Staat Israel ist, und den Großteil der arabischen Bevölkerung durch Massenmorde und Terror vertrieben. Die arabischen Regime intervenierten – nicht etwa um die Palästinenser gegen zionistischen Terror zu verteidigen, sondern um das Land in Beschlag zu nehmen, das der UNO-Teilungsplan ihnen zugesprochen hatte. Zehntausende palästinensischer Flüchtlinge, die in den umliegenden arabischen Ländern Zuflucht suchten, waren gezwungen, in schmutzigen Flüchtlingslagern zu leben. 1970 verübte die haschemitische Monarchie Jordaniens mit impliziter Unterstützung fast aller arabischen Regime ein ungeheures Blutbad an den Palästinensern. Das war der Schwarze September. Aber trotz der entsetzlichen Bedingungen, unter denen sie leben mussten, war die Generation von Palästinensern, die nach 1948 heranwuchs, gebildeter als fast jede andere Bevölkerung im Nahen Osten, einschließlich der hebräischsprachigen Bevölkerung Israels.
Zu jener Zeit spielten die Palästinenser im Nahen Osten eine Rolle, die in mancherlei Hinsicht der früheren Rolle der Juden in Osteuropa ähnelte. Sie waren kosmopolitisch, politisch aktiv und gebildet und spielten in radikalen Bewegungen eine überdurchschnittlich prominente Rolle, auch in den Kommunistischen Parteien im ganzen Nahen Osten. Daraus kann man die schrecklichen Konsequenzen des arabischen Nationalismus ermessen, da sich heute viele Palästinenser – desillusioniert durch den totalen Bankrott von Arafats [2004 verstorbener Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und Präsident der palästinensischen Autonomiegebiete] bürgerlich-nationalistischem Programm – den rückständigen, frauenfeindlichen islamischen Fundamentalisten der Hamas zugewandt haben.
Die palästinensischen Trotzkisten nahmen zum Krieg 1948 eine im Wesentlichen korrekte Position ein. Sie waren gegen den Teilungsplan der UNO und für die Niederlage beider Seiten durch revolutionären Kampf der Arbeiterklasse. Korrekterweise verteidigten sie die nationalen Selbstbestimmungsrechte der hebräischsprachigen Nation. Aus den Lesematerialien für diese Diskussion wisst ihr, dass wir ursprünglich die Position hatten, militärisch die von den Zionisten geführten Kräfte zu unterstützen, denn unsere Einschätzung der Situation war, dass der Krieg die Existenz des hebräischen Volkes bedrohte. Wir korrigierten unsere Einschätzung der Fakten und änderten unsere Position, aber wir änderten nicht die Methode, die unserer Einschätzung zugrunde lag. Wir sagten:
„Aus der Zerstörung des europäischen Judentums durch Hitler (ohne dessen Hilfe die Zionisten nicht erfolgreicher geworden wären als die Shaker und andere utopische Sekten) und auf Kosten der palästinensischen Araber wurde eine Siedlerkolonie in eine Nation verwandelt…
Diese hebräische Nation kam durch Gewalt und Zwang ins Leben, durch Unterdrückung, Zwangsvertreibung und Völkermord an anderen Völkern. Kommunisten müssen solch brutale nationale Unterdrückung bekämpfen. Wenn jedoch die historische Tatsache vollzogen ist, müssen wir natürlich das Recht jener Nation auf Selbstbestimmung anerkennen, denn die Alternative wäre nationaler Völkermord…
Marxisten konnten im Palästinakrieg 1948 keiner Seite militärische Unterstützung geben. Unsere Position des proletarischen Internationalismus erfordert, dass dieser Krieg aus der Notwendigkeit des revolutionären Defätismus auf beiden Seiten betrachtet wird. Wir stellen dem Sieg jeder Seite die Perspektive des vereinigten proletarischen Kampfes entgegen, die einzige Möglichkeit, das Recht auf Selbstbestimmung wirklich zu erfüllen – durch eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens.“ (Spartakist Nr. 159, Sommer 2005 – erschien zuerst 1973/74 in Workers Vanguard Nr. 33 und 45)
Die palästinensischen Trotzkisten hatten damals auch eine nüchterne Einschätzung der enormen Hindernisse, die einem vereinten revolutionären Kampf von arabischen und hebräischsprachigen Arbeitern entgegenstehen. Der „Entwurf der Thesen über die jüdische Frage“, den das Internationale Sekretariat der Vierten Internationale 1947 annahm, verwies auf einige wichtige gemeinsame Streiks von arabischen und jüdischen Arbeitern, wie etwa den großen Streik von staatlich beschäftigten Arbeitern in Haifa 1946 und den Streik der Arbeiter in der erdölverarbeitenden Industrie 1947. Aber in den Thesen hieß es auch:
„Eine Einheit großen Ausmaßes ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwischen Juden und Arabern in Palästina nicht zu verwirklichen; nur in sehr begrenztem Ausmaß und nur insofern, als ein Teil der jüdischen Arbeiter außerhalb der ,geschlossenen‘ jüdischen Wirtschaft angestellt ist, war es möglich, dass jüdisch-arabische Streiks wie die des letzten Jahres stattfanden. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine solche Einheit ein für allemal ausgeschlossen ist.“
Auf diesen Punkt haben wir oft hingewiesen. Aufwühlende historische Ereignisse werden nötig sein, um auch nur einen bedeutenden Teil des hebräischsprachigen Proletariats dazu zu bringen, gemeinsame Sache mit seinen arabischen Klassenbrüdern zu machen, aber es ist historisch möglich und notwendig.
Staat und Nation sind nicht dasselbe
Über folgendes müssen wir uns klar sein: Wenn wir über die hebräischsprachige Nation sprechen, dann ist das nicht dasselbe wie der zionistische Staat, der nach der Aufteilung des Landes durch die UNO 1947 errichtet wurde. Eine Nation ist für Marxisten, wie ich schon zuvor sagte, ein Volk mit seiner eigenen Sprache, Kultur und Wirtschaft, das auf einem bestimmten Territorium lebt. Ein Staat ist etwas ganz anderes. Er ist im Wesentlichen ein Machtinstrument, durch das eine bestimmte Klasse ihre Klassenherrschaft aufrechterhält. Er besteht im Wesentlichen aus Unterdrückungsinstrumenten: Armee, Polizei, Gefängnissystem usw. Unsere Haltung zu diesen beiden Dingen ist sehr unterschiedlich. Unser Ziel ist, den zionistischen Staat, ebenso wie alle anderen kapitalistischen Staaten, durch eine sozialistische Revolution zu zerschlagen. Insbesondere wollen wir den zionistischen Staat zerschlagen, weil er schon von Natur aus nicht nur die hebräischsprachige Arbeiterklasse unterdrückt, sondern auch und vor allem das palästinensische Volk.
Was aber ist unsere Haltung zur hebräischsprachigen Nation? Unsere Position ist es, dass alle Nationen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, das heißt das Recht, unabhängige Nationalstaaten zu errichten. Wir machen hier keinen Unterschied zwischen unterdrückten Nationen, die als einzige das Existenzrecht erhalten sollen, und Unterdrückernationen, die es nicht erhalten sollen, wie einige sagen. Für uns ist es einfach ein grundlegendes demokratisches Recht, das Marxisten für alle Nationen anerkennen.
Marxistische Begriffe wie „Klasse“, „Nation“, „Staat“ usw. sind präzise definiert, basierend auf der materiellen Realität. Wir sind Materialisten. Die weitverbreitete Position, Juden in Israel seien heutzutage eine „Besatzung“, scheint mir auf einer Art von Moralismus – d. h. Idealismus – zu beruhen und nicht auf Materialismus. Es erinnert mich an die Vorstellung, die in der Linken weitverbreitet ist, dass es „gute“ Völker gibt, das heißt die unterdrückten – man könnte sagen die „besetzten“ – Völker, und „schlechte“ Völker, die die Unterdrücker sind und nicht einmal das Recht besitzen zu existieren. Von einer „Besatzung“ zu sprechen würde meiner Meinung nach bedeuten, dass die programmatische Konsequenz ist: „Weg mit denen.“ Es ist notwendig, zu marxistischen Kategorien zurückzugehen, um nicht in die Falle des irredentistischen Nationalismus [Bewegung, die den Anschluss gewisser Gebiete an das so deklarierte Mutterland anstrebt] zu tappen und um den Weg zu einer revolutionären internationalistischen Lösung zu ebnen, in der alle Völker das Recht haben, zu existieren.
Geografisch vermischte Völker
Dem Problem zugrunde liegt die Frage von geografisch vermischten Völkern. Der Prozess, der zur Schaffung des Staates Israel führte, war nicht einzigartig. Ganz im Gegenteil, so etwas passierte in der Geschichte schon viele Male. Es ist die Politik von „Teile und Herrsche“. Früher waren die Briten mal Meister darin. Sie taten im Wesentlichen das Gleiche in Irland, als sie es zwischen dem Norden und Süden aufteilten, und in Indien mit der Teilung zwischen dem muslimischen Pakistan und Indien, in dem sowohl Hindus als auch Muslime leben. Die Franzosen taten das Gleiche, als sie den Libanon von Syrien abspalteten.
Ich habe den starken Verdacht, dass irgendwo in London ein Handbuch existiert, dessen Autor wahrscheinlich Churchill ist, mit dem Titel „Wie man eine Teilung durchführt“. Hier folgt nun die Anleitung. Man nehme eine Region, wo es zwei Völker mit einer langen Geschichte ethnischer Konflikte gibt, und ziehe anhand folgender Kriterien eine künstliche Grenze: Auf der einen Seite hat man ein Land mit einer mehr oder weniger homogenen Bevölkerung bestehend aus dem zahlenmäßig größten Volk. Aber auf der anderen Seite der Grenze hat man ein Land, das aus zwei Völkern besteht, von denen das eine dem anderen zahlenmäßig leicht überlegen ist. So hat man dann ein Volk, das ständig in der Furcht lebt, eines Tages könnte das andere die Mehrheit sein. Für die Imperialisten wirkt dieses Vorgehen Wunder und erlaubt Interventionen und Manipulationen je nach Bedarf.
Die Franzosen haben sich wohl in London dieses Handbuch angeschaut. Sie schufen diesen Rumpfstaat Libanon mit einer kleinen Mehrheit von Christen, die andauernd in der Angst leben, dass eines Tages die Muslime genug Kinder bekommen würden, um die Mehrheit zu werden. Und schließlich landeten die Palästinenser, die im Schwarzen September aus Jordanien vertrieben wurden, im Libanon, und damit kippte alles. Libanon explodierte in einem Bürgerkrieg, der das Land völlig zerstörte.
Der Teilungsplan in Palästina wurde nach dem gleichen Rezept ausgearbeitet, aber diesmal zeigte man der UNO, wie es funktioniert. Man schuf einen völlig künstlichen Staat Israel, dessen Grenzen weit mehr umfassten als das Gebiet, auf dem damals die hebräischsprachige Nation lebte; die Grenzen wurden so gezogen, dass es einen Teil für die Palästinenser gab, der 100 Prozent arabisch war, und einen Staat Israel, wo die Juden leicht in der Mehrheit waren. Aber die Zionisten folgten einem anderen Rezept. Sie vertrieben die Palästinenser von dem Land, das der Teilungsplan den Juden zugesprochen hatte, und ebenso von einem Großteil des Landes, das den Palästinensern zugesprochen worden war. Und all das bevölkerten sie mit Flüchtlingen, die nach dem Holocaust aus Europa hereinströmten, und ebenso mit orientalischen Juden, die mit dem Aufstieg des arabischen Nationalismus aus den arabischen Ländern vertrieben worden waren.
Am Ende dieses Prozesses war das Territorium, auf dem die hebräischsprachige Nation lebte, sehr ausgedehnt, und – für die Zionisten wichtig – das Gebiet entsprach den Grenzen des zionistischen Staates. Aber, und ich wiederhole dies, da gibt es einen Unterschied. Wir sind für die Zerschlagung des zionistischen Staates, für die Zerschlagung seiner Armee und die Machtergreifung durch das Proletariat. Aber wir sind nicht für die Zerstörung der Nation, die auf diesem Territorium lebt mit ihrer eigenen Kultur und ihrer eigenen Wirtschaft. Wir verteidigen ihr Existenzrecht, ihr demokratisches Recht auf Selbstbestimmung, ebenso wie wir das gleiche Recht für das palästinensische Volk verteidigen.
Praktisch alle Nationen wurden durch die erzwungene Vertreibung und in manchen Fällen durch die Auslöschung anderer Völker geschmiedet. Das ist nichts Einzigartiges. Heute nennt man es „ethnische Säuberungen“. Die Vereinigten Staaten wurden zum Beispiel durch die systematische Auslöschung der Ureinwohner geschmiedet. Dieser Völkermord wird noch heute in Filmen und der Alltagskultur gefeiert. Heißt das, dass die USA heute besetztes Land sind? Die Türkei ist ein wirkliches „Völkergefängnis“ für Minderheiten wie die Kurden. Heißt das, dass Türken kein Existenzrecht haben? Sollen alle Nachkommen der Konquistadoren aus Lateinamerika ausgewiesen werden?
Aber eins muss klar sein: Die Westbank und Gaza sind heute wirklich besetzte Gebiete. Das sind palästinensische Gebiete, die von den Zionisten jeden Tag ein bisschen mehr besetzt werden. Die Siedler sind der Vortrupp dieses Eindringens. Wir sind dafür, dieses Eindringen auf palästinensisches Gebiet zu stoppen, und dafür, diese Besetzung zu stoppen, auch wenn wir sehen, dass die Dinge sich bis zu einem Punkt entwickelt haben, wo das keine einfache Aufgabe ist. Es gibt inzwischen eine große Anzahl von Siedlern; wenn wir Ostjerusalem miteinbeziehen, etwa 400 000. Diese Siedler sind schwer bewaffnet und eng mit der israelischen Armee verbunden. Sie leben hauptsächlich in Orten, die wie eine Kette von Festungen über palästinensisches Territorium verstreut sind. Das ist also eine Ausweitung in die besetzten Gebiete, die künstlich und umkehrbar ist. Das könnte sich jedoch insbesondere angesichts des herannahenden Krieges gegen den Irak [der 2003 begann] ändern. In unserer Presse haben wir davor gewarnt, dass die Zionisten die Gelegenheit nutzen könnten, um in einer umfassenden Terrorkampagne die Palästinenser aus den besetzten Gebieten zu vertreiben.
Das Beispiel Jugoslawiens und die Russische Revolution
Das Problem bei der Lösung der palästinensischen Frage ist, dass beide Völker Anspruch auf praktisch das gleiche Land erheben. Einen unabhängigen kapitalistischen Staat entweder für die palästinensischen Araber oder für das hebräischsprachige Volk zu errichten kann nur bedeuten, dieses Recht für das jeweils andere Volk zu verneinen. Hier geht es um geografisch vermischte Völker. In solchen Fällen kann es eine demokratische Lösung der nationalen Frage nur durch eine sozialistische Revolution geben, weil nur das Proletariat an der Macht ein Interesse hat, nationale Antagonismen zu lösen, und anfangen kann, die materiellen Bedürfnisse aller arbeitenden Menschen zu befriedigen. Das ist nicht bloß Wunschdenken. Es gibt historische Präzedenzfälle, die zeigen, dass dieses Programm umgesetzt werden kann.
Schaut euch Titos Jugoslawien an, einen deformierten Arbeiterstaat, der aus dem Sieg der stalinistisch geführten Partisanen gegen die Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg erwuchs. Der Balkan war jahrhundertelang Schauplatz ethnischen Blutvergießens, im Vergleich dazu verblasst selbst der palästinensisch-hebräische Konflikt. Während der Balkan-Kriege 1912, über die Trotzki als Kriegskorrespondent schrieb, gab es immense Zwangsvertreibungen von Völkern auf dem gesamten Balkan. Der Staat Jugoslawien, künstlich erschaffen durch die Imperialisten nach dem Ersten Weltkrieg – übrigens hauptsächlich durch den französischen Imperialismus – explodierte fast vom ersten Tag seiner Erschaffung an in ethnischem Blutvergießen.
Doch die gemeinsame Erfahrung, die Faschisten fortzujagen und eine kollektivierte Wirtschaft aufzubauen, beendete die nationale Gewalt innerhalb Jugoslawiens. Es war eine historische Errungenschaft der Jugoslawischen Revolution, die den Kapitalismus stürzte, dass die Pogrome und mörderischen nationalen Konflikte ein Ende fanden. Gleichzeitig verfolgte die konservative, national beschränkte stalinistische Bürokratie Strategien wie den sogenannten „Marktsozialismus“, die andauernd gerade diese Errungenschaften der Revolution unterminierten und nationale Konflikte anheizten. Nachdem die kapitalistische Konterrevolution den deformierten Arbeiterstaat Jugoslawien zerstört hatte, brachen erneut ethnische Kämpfe und Zwangsvertreibungen der Bevölkerungen über ihn herein.
Das andere geschichtliche Beispiel ist natürlich die Russische Revolution von 1917. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Kaukasus war wie der Balkan jahrhundertelang eine Region interethnischer Konflikte gewesen. Die Bolschewiki gewährten nicht nur Nationen das Recht auf Selbstbestimmung, d. h. das Recht, in der Region unabhängige Staaten zu schaffen, sondern sie arbeiteten auch eine ganze Auswahl organisatorischer Lösungen aus, damit sogar winzige proto-nationale Gruppierungen, die teilweise nur aus ein paar wenigen Dörfern bestanden, ein Stück lokale Autonomie genossen. Ich hab mal eine Karte des Kaukasus aus den frühen Jahren bolschewistischer Herrschaft gesehen, auf der alle Regierungsorgane verzeichnet waren. Überall waren kleine Kreise unterschiedlicher Größe. Auch hier stoppte die Revolution die ethnischen Kriege und strich im Wesentlichen die nationale Frage von der Tagesordnung. Diese beiden Beispiele sind dramatische Beweise dafür, wie mörderische nationale Konflikte, die unter dem Kapitalismus unlösbar erscheinen, unter der Diktatur des Proletariats gerecht angegangen werden können.
Antisemitismus kettet die Massen an ihre Ausbeuter
Unsere Strategie für den Nahen Osten ist die Ergreifung der Staatsmacht durch proletarische Revolution. Das wird erst passieren, wenn die hebräischsprachige Arbeiterklasse zum großen Teil gewonnen wurde oder sich zumindest neutral verhält. Denkt mal kurz darüber nach. Israel ist das bei weitem fortgeschrittenste und mächtigste Land in der Region. Die Zionisten haben die Technologie, die Waffen – sie haben Atomwaffen. Wie sollte man eine Revolution in der Region machen, ohne die zionistische Bastion von innen zu knacken? Da muss man realistisch sein. Und man kann definitiv keine hebräischsprachigen Arbeiter gewinnen, wenn man ihr Recht auf nationale Existenz nicht anerkennt. Außerdem wird man ohne diese Perspektive unvermeidlich dabei landen, sich an den arabischen Bourgeoisien zu orientieren. Denn wer sonst könnte auch nur behaupten, ein nützlicher Verbündeter der Palästinenser gegen die Zionisten zu sein? Etwa die Europäische Union? Oder vielleicht „la belle France“, Frankreich mit seinem Algerienkrieg und der Unterdrückung von Immigranten durch das Vigipirate-Programm?
Die hebräischsprachige Arbeiterklasse als hoffnungslos reaktionär abzuschreiben unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was Dritte-Welt-Nationalisten über die Arbeiterklasse in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern sagen: dass sie hoffnungslos mit ihrer eigenen Bourgeoisie verbunden seien, weil sie von der imperialistischen Ausbeutung der Dritten Welt profitieren. Diese Sicht auf die hebräischsprachige Arbeiterklasse trägt den Stempel der Verzweiflung. Und an dieser gegenwärtigen Situation zu verzweifeln ist leicht. Heute gibt es ganz sicher nicht viele Risse in der zionistischen Festung, obwohl die Zionisten in den besetzten Gebieten ganz offen die Methoden der Nazis nachahmen. Das politische Klima ist so rechts, dass sich Scharon, der Schlächter von Sabra und Schatila, als „Gemäßigter“ ausgeben kann. In dieser Situation gibt es nicht viele Gelegenheiten, unmittelbar etwas zu tun, um die Situation der Palästinenser zu verbessern. Und für Revolutionäre ist das eine ganz spezielle Art Hölle: keine Öffnungen zu haben, um effektiv zu intervenieren. In den arabischen Ländern ist heute nicht Kommunismus, sondern islamischer Fundamentalismus auf dem aufsteigenden Ast, und das ist ein Produkt der Verzweiflung.
Aber damals in den 1940er- und 50er-Jahren gab es große Kommunistische Parteien in vielen arabischen Ländern. Die meisten dieser KPen waren entweder von Minderheiten in diesen Ländern gegründet worden oder hatten unter ihnen eine starke Basis. Die verschiedenen ägyptischen kommunistischen Gruppen wurden alle von ägyptischen Juden gegründet. Die irakische KP hatte Kurden und Juden in ihrer Führung. Auf diese Tradition können wir uns berufen. Aber wie werden wir arabische Arbeiter für den Kommunismus gewinnen? Nur indem wir direkt gegen das falsche Bewusstsein angehen, das sie an ihre Unterdrücker kettet.
Ich möchte die Tatsache betonen, dass die Hebung des Bewusstseins des Proletariats eine Menge mehr bedeutet als Kampf zur Verteidigung der materiellen Interessen der Arbeiter. In Was tun sagte Lenin, dass die revolutionäre Partei ein „Volkstribun“ sein muss, ein Verteidiger aller Unterdrückten, nicht nur der Arbeiterklasse. Das bedeutet die Verteidigung der Rechte der Kurden, der Berber, der Einwohner der Sahara, der Kopten. Es bedeutet, für kostenlose Abtreibung auf Wunsch zu kämpfen. Es bedeutet, die Rechte von Homosexuellen gegen Rückständigkeit und religiösen und moralistischen Fanatismus zu verteidigen. Und es bedeutet, gegen Antisemitismus zu kämpfen, der in den arabischen Ländern grassiert.
Und er grassiert wirklich. Im Allgemeinen wird nicht das Wort „Jude“ benutzt, sondern „Zionist“, aber die jahrhundertealten antisemitischen Muster sind alle da: Die Juden planen die Weltherrschaft, die Juden sind die Verkörperung allen Übels und so weiter. Wahrscheinlich habt ihr letzten Monat Berichte über eine ägyptische Fernsehserie gesehen, die auf den Protokollen der Weisen von Zion basiert, dieser antisemitischen Fälschung, die die zaristische Geheimpolizei zusammenbraute, um Pogrome anzufachen. Die Protokolle sind im Nahen Osten allgegenwärtig. Sie wurden von arabischen Führern bekräftigt und sogar verbreitet, von Nasser bis zum König Saudi-Arabiens. Die Leugnung des Holocaust, ein weiteres Muster, das von den europäischen Faschisten übernommen wurde, ist nun an Unis und unter intellektuellen Kreisen des Nahen Ostens weitverbreitet. Sogar die uralte antisemitische Verleumdung, Juden würden christliche Kinder töten, um ihr Blut zu trinken, wird weithin von arabischen Führern und Akademikern im Nahen Osten verbreitet.
Wir betonen das nicht, weil wir hofften, viele Juden in arabischen Ländern zu rekrutieren – es gibt dort fast keine mehr. Nein, der Grund ist, dass der von den arabischen Herrschern propagierte Antisemitismus eine Hauptrolle dabei spielt, das Klassenbewusstsein arabischer Arbeiter zu vergiften. Auch in Polen veröffentlichten wir immer wieder Artikel gegen den Antisemitismus. Auch in Polen leben nicht mehr viele Juden. Sie wurden alle vertrieben oder ausgelöscht. Aber der Antisemitismus war zentral für die reaktionären polnischen Nationalisten von Solidarność, die an der Spitze der Arbeiterklasse standen.
Die Bolschewiki unternahmen gewaltige Anstrengungen, um Antisemitismus zu bekämpfen und die russischen Juden gegen Angriffe zu schützen. Aber selbst dort erwarteten die Bolschewiki nicht, eine große Anzahl von Juden zu rekrutieren, die meist in kleinen Betrieben arbeiteten, wo sie eher den Menschewiki zuneigten. Die Bolschewiki hatten ihre Basis in den großen Fabriken. Aber in einem Land, wo antijüdische Pogrome eine vorherrschende Form der vom Staat abgesegneten Unterdrückung waren, war der Kampf gegen Antisemitismus ein Lackmustest.
Für eine Sozialistische Föderation des Nahen Ostens!
Wie ich schon sagte, gibt es im Nahen Osten eine reichhaltige Tradition von Arbeiterkämpfen. Ich möchte am Schluss auf den Höhepunkt dieser Tradition eingehen, die Irakische Revolution von 1958. Auslöser für die Revolution war der Sturz der Monarchie durch links-nationalistische Offiziere am Tag der Bastille 1958 [Feiertag anlässlich der Erstürmung der Bastille und Befreiung der Gefangenen während der Französischen Revolution 1789]. Das gesamte Land erhob sich. Als die Arbeiter zu massiven Demonstrationen von bis zu einer Million Menschen auf die Straße gingen, erhoben sich Bauern überall auf dem Land, töteten Großgrundbesitzer, übernahmen das Land. Die irakische KP hatte die überwältigende Unterstützung der multinationalen irakischen Arbeiterklasse. Sie hatte auch große Unterstützung in anderen Schichten der Bevölkerung, auch innerhalb der Armee und sogar von einigen Teilen des Offizierskorps. Es ist klar, dass die irakische KP die Macht hätte übernehmen können. Die USA schickten die Marines in den Libanon, um für eine mögliche Invasion Iraks bereit zu sein. Die sozialistische Revolution stand auf der Tagesordnung.
Isaak Deutscher, Historiker und Biograf Trotzkis, schrieb: „Die meisten westlichen Beobachter vor Ort waren der Meinung, dass Kassem [der Nationalist an der Macht, den die stalinistische Kommunistische Partei unterstützte] sich wohl nicht halten könne im Fall einer umfassenden kommunistischen Offensive.“ Aber die Stalinisten in Moskau verkauften die Revolution im Interesse ihrer „friedlichen Koexistenz“ mit den USA. Und als stalinistische Partei agierte die irakische KP entsprechend und zog bei der Bewegung die Bremsen an. Das waren die Früchte des stalinistischen Programms der „Etappenrevolution“. Die irakische KP ritt auf der revolutionären Welle, ordnete sich aber weiterhin dem links-nationalistischen Offizier Kassem in einer angeblich „antiimperialistischen“ Revolution unter. Zur versprochenen zweiten Etappe, der sozialistischen Revolution, kam es natürlich nie. Stattdessen wandte sich Kassem gegen die irakische KP. 1963 kam die reaktionäre nationalistische Baath-Partei, deren Mitglied auch Saddam Hussein (zu der Zeit noch kein nationaler Führer) war, an die Macht und veranstaltete ein Blutbad an tausenden linken Arbeitern, wobei sie Listen benutzte, die die CIA geliefert hatte.
Die Irakische Revolution barg enorme historische Möglichkeiten für die Arbeiter des Nahen Ostens und für Minderheiten wie die Kurden. Stellt euch nur vor, wie sehr eine Machtübernahme des irakischen Proletariats das Bewusstsein der Arbeiter in der gesamten Region verändert hätte. Welche Auswirkung hätte das auf das israelische Proletariat gehabt? Wir können das natürlich nicht genau sagen; es hängt von vielen Dingen ab. Aber es ist möglich, dass die Auswirkung beträchtlich gewesen wäre – bzw. eines Tages unter ähnlichen Bedingungen sein wird.