Spartakist Nr. 187

März 2011

 

Für permanente Revolution in ganz Nordafrika! Für revolutionäre Arbeiterparteien!

Tunesien: Diktator geflohen, Proteste gehen weiter

Der folgende Artikel wurde von unseren Genossen der Ligue trotskyste de France geschrieben und erschien zuerst auf Englisch in Workers Vanguard Nr. 973, 4. Februar, Zeitung der SL/U.S.

Nach 23 Jahren an der Macht floh am 14. Januar der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali mit Schimpf und Schande aus dem Land. Mehrwöchige Proteste, begonnen von Schichten Jugendlicher, die Arbeitsplätze und vom Staat ein wenig Respekt einforderten, gingen Ben Alis Abgang nach Saudi Arabien voraus. Die Proteste, die in der Stadt Sidi Bouzid in Zentraltunesien begonnen hatten, weiteten sich rasch über das ganze Land aus, erfassten breite Schichten der tunesischen Gesellschaft, einschließlich der Arbeiterklasse, und wurden mit brutaler Polizeirepression beantwortet. Selbst offizielle Quellen melden, dass in den fünf Wochen sozialer Kämpfe über 100 Menschen getötet wurden, die allermeisten von ihnen durch Polizeikugeln.

In den Stunden nach Ben Alis Flucht ernannte sich Mohammed Ghannouchi, seit über elf Jahren Ben Alis Premierminister, selbst zum Präsidenten. Angesichts weiterer Proteste, gegen die zunehmend Polizeirepression eingesetzt wird, wurden die meisten von Ben Alis loyalen Amtsträgern ihrer Ministerposten enthoben: der jüngste Versuch, die Proteste unter Kontrolle zu bekommen und dabei den Kern des Regierungsapparates unversehrt zu lassen. Derzeit ist Ghannouchi wieder Premierminister. Die tunesische Lehrergewerkschaft hielt am 24./25. Januar einen zweitägigen Streik ab, und andere Streiks, auch im öffentlichen Nahverkehr, fanden statt, um die verhassten Ben-Ali-Bosse abzusetzen, die in den vergangenen Jahren immer drakonischere Arbeitsbedingungen verhängt hatten. Bilder von Arbeitern, die den Präsidenten des größten Versicherungsunternehmens des Landes, Star, das zum Teil einem französischen Konzern gehört, verjagen, machten im Web die Runde.

Die Tunesier haben die Nase voll von Arbeitslosigkeit, steigenden Lebensmittelpreisen, weitverbreiteter Korruption durch Ben Ali, seine Familie und seine Kumpane und ebenso von der Polizeistaatsrepression; sie haben Ben Alis Bullen und Schlägern heroisch Widerstand geleistet im Kampf für die elementarsten demokratischen Rechte. Unter Ben Ali, seit 1987 durch groteske Wahlfälschungen immer wiedergewählt, wurden politische Gegner normalerweise kooptiert oder vernichtet. Jetzt bereuen es die Bourgeoisie und ihre imperialistischen Sponsoren, dass ihr entthronter Despot keinen Platz gelassen hat für eine Opposition mit „sauberen Händen“, die die Zügel in die Hand nehmen könnte – so bleibt die Situation in Tunesien und über die Grenzen hinaus instabil.

Die demokratischen Sehnsüchte der Massen bleiben weiterhin ein mächtiger Auslöser für Kämpfe. Entscheidend ist, dass das Proletariat, die einzige Klasse mit der sozialen Macht und dem historischen Interesse, das kapitalistische System zu stürzen, aus diesen Kämpfen als der Führer der arbeitslosen Jugendlichen, der städtischen Armen, der Bauern, der Frauen und der anderen unterdrückten Sektoren des Landes, die auf Emanzipation hoffen, hervorgeht.

Die stürmischen Ereignisse in Tunesien bieten eine außerordentliche Möglichkeit zur Verbreitung des marxistischen Programms der sozialistischen Revolution, das einzige Programm, das die Forderungen der Massen aufgreifen kann. Der Aufstand ist gekennzeichnet von einem Aufbruch aller Gesellschaftsklassen außer den höheren Rängen der tunesischen Bourgeoisie, ein Gutteil davon direkte Kumpane von Ben Ali. Tunesische Flaggen waren überall zu sehen. Das spiegelt ein nationalistisches Bewusstsein wider, das auch in weit verbreiteten Illusionen in die Armee zum Ausdruck kommt, deren Chef sich Berichten zufolge geweigert haben soll, auf zivile Demonstranten zu schießen und der laut Gerüchten den Sturz von Ben Ali inszeniert haben soll. Derartige Illusionen sind eine tödliche Gefahr für die Werktätigen und Unterdrückten.

Inmitten des durch Ben Alis Abgang verursachten politischen Vakuums und des Gerangels verschiedener Kräfte im Lande um politischen Einfluss stellt sich die dringende Notwendigkeit einer marxistischen Arbeiterklassen-Avantgarde, die das Programm der permanenten Revolution aufstellt: Machtergreifung der Arbeiterklasse, die darum kämpft, ihren revolutionären Sieg auf die Zentren des Weltimperialismus auszuweiten – der einzige Weg, die Fesseln von politischem Despotismus und wirtschaftlicher und sozialer Rückständigkeit zu zerbrechen.

Für eine Arbeiter- und Bauernregierung!

In Tunesien, wie auch in anderen Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, können historische Errungenschaften, die mit den großen bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in Britannien und Frankreich verbunden sind – wie politische Demokratie und nationale Befreiung –, nicht verwirklicht werden, solange die bürgerliche Herrschaft besteht. Tunesien ist ein neokoloniales Land, dessen Bourgeoisie durch Millionen Fäden mit dem Weltimperialismus verknüpft ist, vor allem mit Frankreich, dem ehemaligen Kolonialherrscher, der von der tiefgreifenden Unterdrückung der tunesischen Massen profitiert und die Hauptstütze des Ben-Ali-Regimes war.

Die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie bot sogar an, Sicherheitskräfte zu schicken, um bei der Niederschlagung des Aufstands zu helfen. (Ein Transportflugzeug voller Tränengaskanister für Tunesien wurde erst gestoppt, nachdem bekannt wurde, dass Ben Ali das Land verlassen hatte.) Über tausend französische Unternehmen sind in Tunesien aktiv, ihnen gehört der größte Teil des Finanzsektors und mehr als 100 000 Menschen arbeiten für sie. Auch der US-Imperialismus spielte als Stütze des Ben-Ali-Regimes eine zentrale Rolle. Eines der jüngst von WikiLeaks veröffentlichten Dokumente zitiert eine Depesche des US-Botschafters in Tunesien vom Juli 2009: „Die Vereinigten Staaten brauchen Unterstützung in dieser Region, um für unsere Werte und unsere Politik zu werben. Tunesien ist solch ein Ort, wo wir das mit der Zeit finden könnten.“

Die Unterordnung Tunesiens unter den Imperialismus stellt die brutale Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung sicher. Um eine wirkliche nationale und soziale Befreiung zu erreichen, muss das Proletariat in einem Frontalangriff mobilisiert werden gegen die Imperialisten und gegen die einheimische Bourgeoisie, die der tödliche Feind von Tunesiens Arbeitern und Unterdrückten ist. Tatsächlich besteht, während die Proteste weitergehen, die reale Gefahr eines Militärputsches zur Stabilisierung der bürgerlichen Ordnung. General Rachid Ammar, Generalstabschef der Armee, verkündete vor Demonstranten am 24. Januar unheilvoll: „Die nationale Armee ist der Garant der Revolution“ (Le Monde, 26. Januar). Der rechtsgerichtete Le Figaro (18. Januar), ein Sprachrohr der französischen Regierung, warf seinerseits offen und bedrohlich die Frage eines Militärputsches als nächsten Schritt zur Rettung der bürgerlichen Ordnung und imperialistischen Vorherrschaft in Tunesien auf: „Falls die Tunesier nicht akzeptieren, dass diese Regierung der nationalen Einheit [mit Kumpanen Ben Alis] kommende demokratische Wahlen organisiert, haben sie keinen Plan B zur Wiederherstellung des zivilen Friedens, es sei denn sie nehmen Zuflucht zu einer Machtergreifung des Militärs“.

In Tunesien könnte heute selbst eine kleine marxistische Propagandagruppe, die eine Reihe von Übergangsforderungen in den Vordergrund stellt, um die demokratischen Sehnsüchte der Massen mit dem Kampf um proletarische Macht zu verknüpfen, auf den weiteren Gang der Ereignisse einen großen Einfluss ausüben. Das würde die Grundlage zum Aufbau einer revolutionären Partei schaffen, die das Proletariat im Kampf für eine Arbeiter- und Bauernregierung, die die Bourgeoisie enteignet, führen kann. Solch eine Partei muss nicht nur in Opposition zu Ben Alis Kumpanen, sondern auch gegen alle Arten bürgerlicher „Reformer“ und ebenso gegen die reaktionären islamischen Fundamentalisten geschmiedet werden.

Ein proletarischer Sieg in Tunesien hätte einen elektrisierenden Effekt auf ganz Nordafrika und den Nahen Osten und wäre auch eine Brücke zur sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, vor allem nach Frankreich, wo etwa 700 000 Tunesier leben. Der bolschewistische Führer Leo Trotzki fasste seine Theorie der permanenten Revolution wie folgt zusammen:

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen…

Die Diktatur des Proletariats, das als Führer der demokratischen Revolution zur Herrschaft gelangt ist, wird unvermeidlich und in kürzester Frist vor Aufgaben gestellt sein, die mit weitgehenden Eingriffen in die bürgerlichen Eigentumsrechte verbunden sind. Die demokratische Revolution wächst unmittelbar in die sozialistische hinein und wird dadurch allein schon zur permanenten Revolution

In einem Lande dagegen, wo das Proletariat als Endergebnis einer demokratischen Revolution zur Macht gekommen ist, hängt das weitere Schicksal der Diktatur und des Sozialismus letzten Endes nicht nur und nicht so sehr von den nationalen Produktivkräften ab, wie von der Entwicklung der internationalen sozialistischen Revolution.“ (Die permanente Revolution, 1930)

Der Bankrott des tunesischen Nationalismus

Tunesien wird seit langem von seinen Herrschern, einschließlich des verstorbenen Habib Bourgiba, erster Präsident des Landes nach Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich 1956, wie auch von den Imperialisten und der internationalen bürgerlichen Presse als Ausnahmeerscheinung in Nordafrika gepriesen – wegen seiner Entwicklung, seinem hohen Bildungsstand und seiner angeblichen Chancengleichheit für Frauen. Doch der Fall des Mohammed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung die Revolte auslöste, die zum Sturz von Ben Ali führte, steht beispielhaft für die düstere Realität des Lebens im heutigen Tunesien.

Nachdem er mit zehn Jahren als Obst- und Gemüseverkäufer auf dem örtlichen Markt zum Haupternährer seiner Familie geworden war, gab er Pläne für ein Studium auf und ging mit 19 Jahren ohne Abschluss von der Oberschule ab, um seine Familie zu versorgen und seinen jüngeren Geschwistern die Möglichkeit zu geben, weiter zur Schule zu gehen. Diejenigen, die Bouazizi kannten, erzählten von jahrelanger Misshandlung und Schikanierung durch die örtliche Polizei, die seine Waren beschlagnahmte und ihm wegen einer angeblich fehlenden Verkaufserlaubnis Geldstrafen aufbrummte. Am 17. Dezember nahm ihm die Polizei seine Waage weg, warf den Karren um und schlug ihn. Keine Stunde später, nachdem die örtliche Behörde sich geweigert hatte, seine Beschwerde entgegenzunehmen, zündete er sich selbst an. Aus Empörung über die Ereignisse brach in der Stadt Sidi Bouzid ein Proteststurm los. Mohammed Bouazizi starb am 4. Januar.

Unzählige Tunesier und andere Nordafrikaner, meist Jugendliche, kamen um, als sie auf der Suche nach Arbeit die gefährliche Bootsreise wagten, um Italien und andere europäische Länder zu erreichen – wo sie dann zermürbender Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung ausgesetzt sind und in ständiger Gefahr leben, abgeschoben zu werden. Und selbst dieser Weg wurde ihnen im Zuge des restriktiven Vorgehens der europäischen Imperialisten gegen Einwanderung zunehmend verwehrt. Laut Sami Aouadi, einem Führer des tunesischen Gewerkschaftsverbandes UGTT, gibt es heute in Tunesien mindestens 200 000 Menschen mit Oberschulabschluss, die arbeitslos sind – d. h. 27 Prozent aller Arbeitslosen in einem Land von etwa 10 Millionen Einwohnern.

Die tunesische Wirtschaft basiert auf Landwirtschaft und dazugehöriger weiterverarbeitender Industrie, etwas Ölförderung, Phosphatabbau in der Gegend von Gafsa, Tourismus und ein wenig Industrie. Die Textilbranche mit ihren vornehmlich weiblichen Belegschaften macht nahezu die Hälfte des Fertigungssektors aus. Fertigungsindustrie, darunter Zulieferbetriebe der Auto- und Luftfahrtindustrie in französischem Besitz, erzeugen etwa ein Fünftel von Tunesiens Bruttoinlandsprodukt. Es gibt auch eine Dienstleistungsindustrie von zunehmender Bedeutung, bei der einige ausländische Unternehmen, insbesondere französische Telekommunikationsbetreiber, ihre Call-Center nach Tunesien ausgelagert haben. Die Löhne tunesischer Arbeiter liegen bei einem Achtel westeuropäischer Löhne.

Tunesien kann man kaum als hochindustrialisiertes Land bezeichnen, es gibt aber doch eine bedeutende Gewerkschaftsbewegung, so vertritt die UGTT nach eigenen Angaben etwa 600 000 Fabrikarbeiter. Die UGTT hat eine einzigartige Geschichte in Nordafrika vorzuweisen, als Gewerkschaft, die der herrschenden bürgerlich-nationalistischen Regierung nicht völlig untergeordnet ist. Sie hat sich sowohl an Klassenkämpfen als auch an tiefgreifender Klassenzusammenarbeit mit den an der Macht befindlichen Nationalisten beteiligt. Ben Ali schien die UGTT schließlich nach jahrelanger Unterdrückung an die Kandare genommen zu haben, und in den letzten Jahren waren die obersten Führer des Gewerkschaftsbundes auch Mitglieder der Führung von Ben Alis Demokratisch-Konstitutioneller Sammlungspartei (RCD). Die UGTT-Spitzen riefen 1999, 2004 und erneut 2009 zur Wahl Ben Alis auf, zu einer Zeit, als die Bevölkerung „Ben-Ali-2009“-Wahlplakate sarkastisch in „Ben Ali 2080“ und „Ben Ali 2500“ umänderte.

Am 28. Dezember forderte die UGTT die Freilassung der nach den Protesten von Sidi Bouzid und anderswo Verhafteten. Doch sie verkündete nachdrücklich, ihre Forderungen hätten das Ziel, „dazu beizutragen, konstruktive Lösungen zu finden, um die Lage in dieser Region zu beruhigen und die Auswirkungen zu begrenzen“. Unter Druck ihrer Mitgliedschaft gab sie, als die Proteste anschwollen, zunehmend regierungsfeindliche Erklärungen ab und erlaubte schließlich ihren Regionalverbänden, zu lokalen Generalstreiks am 14. Januar aufzurufen, genau an dem Tag, an dem Ben Ali floh.

Die UGTT-Führung beteiligte sich dann eiligst an der „neuen“ Regierung, deren Schlüsselposten, einschließlich der Polizei, weiterhin von Ben Alis Verbündeten besetzt waren. Wieder brachte erst der Druck von Massenprotesten gegen die angebliche „Übergangsregierung“ die UGTT-Minister dazu, von ihren Posten zurückzutreten, aber sie erklärten sich nach wie vor bereit, an der kapitalistischen Regierung teilzunehmen, vorausgesetzt Premierminister Ghannouchi sei darin der einzige Kumpan von Ben Ali. Wie Jilani Hammami, ein UGTT-Führer, sich vorsichtig ausdrückte, sei es im Gewerkschaftsverband „zu erhitzten Debatten gekommen, bei denen die Führung mit ihren Verbindungen zum Regime den föderalen und regionalen Verbänden gegenüberstand, die die Volkserhebung begrüßten“. In letzter Zeit hat die UGTT dann die umbesetzte „Interimsregierung“ unterstützt, ein (bislang erfolgloser) Versuch, die Proteste einzudämmen.

Die Gafsa-Revolte von 2008: ein Vorbote

Die widersprüchliche Rolle, die die Gewerkschaften spielen, wie auch die Spaltung zwischen Basis und Führung dieser Gewerkschaften zeigten sich auch 2008 bei der Revolte von Gafsa. Diese Revolte war ein Vorbote der gegenwärtigen sozialen Erhebung und war bis dahin der bedeutendste Protest in Tunesien seit dem Brotaufstand im Jahre 1984, der ausbrach, nachdem Bourgiba eine vom IWF diktierte 100-prozentige Brotpreiserhöhung eingeführt hatte.

Gafsa, ein Phosphatabbaugebiet, ist besonders schwer von Massenarbeitslosigkeit betroffen. Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte hat die von der Regierung kontrollierte Bergbaugesellschaft CPG (Compagnie des Phosphates de Gafsa), der Hauptarbeitgeber der Region, sein Personal von 14 000 auf etwas über 5000 reduziert. Im Januar 2008, als die Bergbaugesellschaft eine Liste von einzustellenden Leuten vorlegte, in der Personen bevorzugt wurden, die der Regierung und den UGTT-Regionalführern gegenüber loyal waren, brach eine Volkserhebung aus. Da das Unternehmen die Politik verfolgte, Arbeiter, die in Rente gingen, nicht zu ersetzen, war dies die erste Möglichkeit zur Neueinstellung seit sechs Jahren; so waren die Erwartungen besonders hoch.

Monatelang protestierten Arbeiter, Frauen und arbeitslose Jugendliche in der Bergbauregion. Auf ihren Bannern forderten sie „Arbeit, Freiheit und nationale Würde“, „Wir wollen Arbeitsplätze, Nein zu Versprechungen und Illusionen“ und „Nein zu Korruption und Opportunismus“. Im Juni 2008 griff die Regierung hart durch. Zwei Menschen wurden getötet – schon im Vormonat hatte es einen Toten gegeben –, Dutzende verletzt und viele weitere verhaftet. Im November 2009 wurden die meisten der Häftlinge im Zuge einer Begnadigung durch den Präsidenten von einem zunehmend instabilen Ben-Ali-Regime freigelassen, wobei aber ihre Verurteilungen in Kraft blieben und die Personen regelmäßigen Polizeikontrollen unterworfen waren. Der Journalist Fahem Boukadous jedoch, der über die Gafsa-Revolte berichtet hatte, wurde letztes Jahr zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und erst am 19. Januar freigelassen. Die Arbeiterbewegung in Tunesien und international muss fordern: Freiheit für alle heroischen Kämpfer der Gafsa-Erhebung und alle anderen Opfer bonapartistischer Repression!

Örtliche UGTT-Aktivisten spielten bei dem Kampf in Gafsa eine entscheidende Rolle, insbesondere in der Stadt Redeyef. Doch die zentrale und regionale Führung verurteilte die Proteste und suspendierte sogar einen der Gewerkschafter, die die Proteste anführten, den Lehrer Adnane Hajji, der in der Folge zu über zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Während sich die UGTT auf dem Papier gegen befristete Anstellungen wendet, gründete der örtliche UGTT-Boss Amara Abbassi, Mitglied des Zentralkomitees der RCD und Parlamentsabgeordneter, eine Arbeitsvermittlungsfirma, um die Bergwerke mit Zeitarbeitern zu versorgen. Er gründete auch andere Arbeitsvermittlungsfirmen, um Wartungsarbeiter zu vermitteln, und bereicherte sich und seine Familie auf Kosten der superausgebeuteten Arbeiter. Im Rahmen des Kampfes zur Schmiedung einer marxistischen Arbeiterpartei in Tunesien ist es dringend notwendig, die reformistische Führung der UGTT durch eine klassenkämpferische Führung zu ersetzen, die der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Bourgeoisie und deren Staat verpflichtet ist.

Für eine revolutionäre konstituierende Versammlung!

Im Kampf für die Macht der Arbeiterklasse kann eine marxistische Partei in Tunesien das bürgerlich-demokratische Programm nicht einfach verwerfen. Trotzki erklärt im Übergangsprogramm von 1938, dem Gründungsdokument der Vierten Internationale: „Die Massen müssen im Kampf über dieses Programm hinauswachsen.“ Den tunesischen werktätigen Massen ist heute eine „Übergangsregierung“ aufgebürdet, an deren Spitze ein Kumpan Ben Alis steht, und Wahlen sind für sechs Monate ausgesetzt, damit das neu entstehende bürgerliche Regime seine Macht konsolidieren kann.

Deshalb erheben wir gegenüber den Winkelzügen der tunesischen bürgerlichen Herrscher und ihrer UGTT-Lakaien die Forderung nach sofortigen Wahlen zur Einberufung einer revolutionären konstituierenden Versammlung, die nach Jahrzehnten des Stillschweigens unter der Knute Bourgibas und Ben Alis dem Willen der Bevölkerung freien Ausdruck geben könnte. Diese grundlegende demokratische Forderung wird nicht durch parlamentarische Verhandlungen verwirklicht werden, sondern nur durch einen siegreichen Volksaufstand.

Unsere Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung ist entgegengesetzt zu Forderungen nach einer konstituierenden Versammlung, wie sie von den Reformisten erhoben werden. Denn die stellen sich tatsächlich parlamentarische Verhandlungen mit der bürgerlichen Obrigkeit vor mit dem (illusorischen) Ziel, eine demokratische Form bürgerlicher Herrschaft sicherzustellen. Die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT), eine Gruppe mit stalinistischem Hintergrund, die bei der Gafsa-Erhebung eine militante Rolle spielte, sticht hervor, weil sie die nach Ben Alis Flucht gebildeten Regierungskombinationen ohne Umschweife verurteilt hat. Ihr Sprecher Hamma Hammami sagte l’Humanité (17. Januar), der Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, dass der Zweck der provisorischen Regierung darin bestehe, „die demokratische und Volksbewegung zu beenden“, und betonte nachdrücklich: „Wir fordern nichts Unmögliches, lediglich die Einrichtung einer Übergangsregierung zur Bildung einer konstituierenden Versammlung, die eine Verfassung ausarbeiten soll, welche die grundlegenden Bürgerrechte, Freiheit der Meinungsäußerung, der Versammlung und der Presse garantiert.“ Kurz gesagt, die POCT will, auch mit ihrem Ruf nach einer konstituierenden Versammlung, einfach nur eine kapitalistische Regierung, aber ohne diejenigen, die eine Vorgeschichte der Kollaboration mit Ben Ali aufzuweisen haben.

Wir erheben die Forderung nach einer revolutionären konstituierenden Versammlung als Brücke zwischen den gegenwärtigen, legitimen demokratischen Sehnsüchten der Massen und der Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, die auf der Grundlage von Sowjets (Arbeiterräten) basieren würde – d. h. proletarische Demokratie, eine höhere Form der Demokratie als eine bürgerlich-demokratische konstituierende Versammlung. Wie Trotzki im Übergangsprogramm betonte: „Die Forderungen der Demokratie, die Übergangsforderungen und die Aufgaben der sozialistischen Revolution sind in diesem Kampf nicht durch historische Epochen geschieden, sondern gehen unmittelbar auseinander hervor.“ Er fügte hinzu:

„Auf einer gewissen Stufe der Massenmobilisierung unter den Losungen der revolutionären Demokratie können und müssen Räte entstehen. Ihre geschichtliche Rolle in jeder gegebenen Periode, insbesondere ihr Verhältnis zur Nationalversammlung, wird durch das politische Niveau des Proletariats, die Verbindung zwischen ihm und der Bauernschaft und den Charakter der Politik der proletarischen Partei bestimmt. Früher oder später müssen die Räte die bürgerliche Demokratie stürzen. Nur sie sind imstande, die demokratische Revolution zu Ende zu führen und damit die Ära der sozialistischen Revolution einzuleiten.“

Die Arbeiterklasse braucht ihre eigenen Machtorgane

In Zeiten aufflammenden Klassenkampfes werden die Gewerkschaften, die für gewöhnlich die oberen Schichten des Proletariats organisieren, zu eng, um die breiten Schichten der aufständischen Massen, einschließlich der unorganisierten Arbeiter, einzubeziehen. Gleichzeitig bemühen sich die bürokratischen Irreführer der Gewerkschaften, Herr der Lage zu bleiben, um den Kampf ins Abseits zu manövrieren. Eine marxistische Organisation in Tunesien würde heute für die Perspektive des Aufbaus von Organisationen eintreten, die die gesamte kämpfende Masse umfassen: Streikkomitees, Fabrikkomitees und schließlich Sowjets.

Wie Trotzki betonte, können Sowjets nur entstehen, wenn die Massenbewegung in ein offen revolutionäres Stadium eintritt. Sowjets entstanden ursprünglich in der Russischen Revolution von 1905 als Arbeiterstreikkomitees. Als die Sowjets im Verlaufe der Russischen Revolution von 1917 erneut auftauchten, umfassten sie nicht nur Arbeiter, sondern auch Soldaten und die Bauernschaft und wurden zu Organen der Doppelherrschaft. Unter der Führung der bolschewistischen Partei ergriff die Arbeiterklasse in Russland die Macht, und die Sowjets wurden zu Herrschaftsorganen der Arbeiterklasse.

Nach Ben Alis Abgang entstanden schnell örtliche Milizen zur Verteidigung der Wohnviertel gegen das Wüten der mit Ben Ali verbündeten Bullen und Schläger. Es ist notwendig, dass die Arbeiterklasse die Führung übernimmt. Das bedeutet die Organisierung von Fabrikkomitees, Organen der Doppelherrschaft auf Produktionsebene, und von da aus, zur Selbstverteidigung gegen die Schläger des Staates, die Aufstellung von Arbeitermilizen, die die städtischen Armen und Arbeitslosen miteinbeziehen. Die Arbeitsplatzkomitees müssen für solche elementaren Forderungen kämpfen wie Jobs für die Arbeitslosen und ein Ende der Einschüchterung und Schikanierung von Arbeiterinnen sowie für gleiche Löhne und Sozialleistungen für Frauen. Marxisten müssen auch dafür kämpfen, dass die Arbeiter die Lebensmittelverteilung übernehmen und angesichts von Knappheit und Schwarzmarktkorruption die Lebensmittelpreise kontrollieren. Im Übergangsprogramm hebt Trotzki hervor, wie die Aufgaben und Forderungen solcher Organe der Doppelherrschaft – d. h. Körperschaften auf proletarischer Grundlage, die mit der Bourgeoisie um die Herrschaft im Lande ringen – die Grundlage der kapitalistischen Ordnung selbst in Frage stellen:

„Diese neuen Organe und Zentren werden jedoch bald ihren mangelnden Zusammenhalt und ihre Unzulänglichkeit spüren. Keine der Übergangsforderungen kann unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft vollständig verwirklicht werden. Nun wird aber die Vertiefung der sozialen Krise nicht nur die Leiden der Massen vergrößern, sondern auch ihre Ungeduld, ihre Ausdauer und ihren Angriffsgeist. Immer neue Schichten von Unterdrückten werden das Haupt erheben und ihre Forderungen vorbringen. Millionen von abgearbeiteten ,kleinen Leuten‘, an die die reformistischen Führer niemals denken, werden an die Pforten der Arbeiterorganisationen klopfen. Die Arbeitslosen werden in die Bewegung geraten. Die Landarbeiter, die halb oder ganz zugrunde gerichteten Bauern, die unterdrückten Schichten der Stadt, die Arbeiterinnen, die Hausfrauen, die proletarisierten Schichten der Intelligenz, sie alle werden Zusammenschluss und Führung suchen.

Wie kann man diese verschiedenen Forderungen und Kampfformen miteinander in Einklang bringen, sei es auch nur in den Grenzen einer einzigen Stadt? Die Geschichte hat bereits auf diese Frage geantwortet: durch die Räte.“

Stalinistische „Zwei-Etappen-Revolution“ bedeutet Verrat

Angesichts jahrzehntelanger verräterischer Klassenzusammenarbeit durch die stalinistische Kommunistische Partei (jetzt Ettajdid genannt, was „Erneuerung“ bedeutet) und andere reformistische Parteien identifizieren die tunesischen arbeitenden und unterdrückten Massen heute ihre Kämpfe nicht mit dem Kampf für Sozialismus. Nach Jahrzehnten brutaler Diktatur gibt es tiefgehende Illusionen in bürgerliche Demokratie und Nationalismus.

Tunesische linke Gruppen haben bewiesen, dass sie aus ihrem Verrat in der Vergangenheit nichts gelernt haben, als viele von ihnen General Ben Alis Aufstieg zur Macht unterstützten, der 1987 den „Präsidenten auf Lebenszeit“ Habib Bourgiba absetzte. Wir schrieben damals: „Die tunesische sogenannte Linke entscheidet sich im Zweifelsfall für den neuen Bonaparte, General Ben Ali, wenn sie ihn nicht sogar direkt unterstützt, und hofft auf die Liberalisierung des Regimes“ (Le Bolchévik Nr. 79, Januar 1988). Heutzutage verneigen sich linke Gruppen wieder vor dem Herrschaftsapparat. Ettajdid-Führer Ahmed Ibrahim begrüßte Ben Alis beschwichtigende Rede am Tage vor seiner Flucht und erklärte: „Es ist ein guter Beginn, das Kapitel des Autoritarismus abzuschließen“ (Le Monde, 15. Januar). Ettajdid ging so weit, sich an der Regierung zu beteiligen, die nach der Absetzung des Diktators gebildet wurde.

Von jeher haben Stalinisten in der Dritten Welt eine „Revolution in Etappen“ befürwortet, wobei die erste, demokratische Etappe im Bündnis mit einem mystischen „progressiven“ und „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie durchgeführt werden soll, worauf dann in unbestimmter Zukunft eine zweite Etappe der sozialistischen Revolution folgen soll. Immer wieder endeten diese Hirngespinste damit, dass das Proletariat in Blut ertränkt wurde; die zweite Etappe kommt nie. Haben die Kapitalisten einmal ihre Macht mit Hilfe der Stalinisten stabilisiert, entfesseln sie ein Massaker an den Kommunisten und Militanten der Arbeiterklasse, wie zum Beispiel in der Irakischen Revolution von 1958 (siehe „Near East, 1950s: Permanent Revolution vs. Bourgeois Nationalism“ [Naher Osten, 1950er-Jahre: Permanente Revolution kontra bürgerlicher Nationalismus], Workers Vanguard Nr. 740 und 741, 25. August und 8. September 2000).

Heute jedoch gehen Gruppen wie die PCOT nicht einmal über die Erwähnung der ersten Etappe, der Erlangung von „Demokratie“ – d. h. reformierte bürgerliche Herrschaft – hinaus. In jüngster Zeit schloss sich die PCOT einem Block der Klassenzusammenarbeit an, der sogenannten „Front des 14. Januar“ – benannt nach dem Tag, an dem Ben Ali das Land verließ. Dort findet man auch eine Reihe kleiner bürgerlicher Formationen, darunter nasseristische und baathistische Nationalisten. Das Programm der Front ist durch und durch bürgerlich und enthält die Forderung nach „einer neuen Sicherheitspolitik auf Grundlage der Achtung der Menschenrechte und des Vorrangs des Gesetzes“.

Die PCOT trägt dazu bei, Illusionen in die Armee zu schüren, statt das grundlegende marxistische Verständnis, dass das Militär Teil des kapitalistischen Staates ist, in den Köpfen zu verankern. In einer auf den 15. Januar datierten Erklärung schrieb die PCOT: „Die Streitkräfte, die hauptsächlich aus den Söhnen und Töchtern des Volkes bestehen, müssen dem Volk und dem Mutterland Sicherheit bieten und die Freiheitssehnsüchte des Volkes, soziale Gerechtigkeit und nationale Würde achten“.

Wenn das Offizierskorps Ben Ali stürzte, so deshalb, weil es merkte, dass er für den tunesischen Kapitalismus zum Ballast geworden war. Tatsächlich war die Armee an der blutigen Niederschlagung der Gafsa-Erhebung 2008 beteiligt und sie wird künftig eine ähnliche Rolle spielen, und das umso mehr, da Illusionen in ihre angebliche Rolle als „Verteidigerin des Volkes“ weiterhin tief verwurzelt sind. Am 20. Januar schoss die Armee mit scharfer Munition in die Luft, um Demonstranten zu zerstreuen, die sich vor dem Hauptquartier der RCD in Tunis versammelt hatten. Das Militär, die Bullen, die Richter und die Gefängniswärter bilden den Kern des kapitalistischen Staates, eines Organs der Klassenunterdrückung zur gewaltsamen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herrschaft. Wenn die Arbeiter für ihre eigene Staatsmacht kämpfen, werden sie den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen müssen, unter anderem durch die Spaltung der Armee entlang der Klassenlinien: die Wehrpflichtigen gegen das bürgerliche Offizierskorps.

Selbst in ihren radikalsten Äußerungen fordern die linken Gruppen in Tunesien bestenfalls eine „demokratische Republik“. Sie haben jeglichen Anspruch, für eine sozialistische Revolution zu kämpfen, aufgegeben und spiegeln so den dramatischen Rückgang des Bewusstseins nach der konterrevolutionären Zerstörung des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaates 1991/92 wider, einer katastrophalen Niederlage für die internationale Arbeiterklasse.

Islamischer Fundamentalismus und der Kampf für Frauenbefreiung

Der politische Bankrott der linken Gruppen Tunesiens könnte den islamischen Fundamentalisten Möglichkeiten eröffnen. Das stellt für die Arbeiterklasse und insbesondere für Frauen eine tödliche Bedrohung dar. Die islamischen Fundamentalisten spielten beim Sturz Ben Alis keine sichtbare Rolle, im Gegensatz zu den vielen Frauen, die daran beteiligt waren. Die meisten Demonstranten haben sich vehement gegen eine islamische Herrschaft ausgesprochen. Tatsächlich waren die Moscheen vom Regime streng kontrolliert und unterstützten Ben Ali.

Die internationale Bourgeoisie, vor allem in Frankreich, hat jahrelang das blutige Ben-Ali-Regime als ein Bollwerk im „Krieg gegen den Terror“ und als Vorhut im Kampf für „Säkularismus“ unterstützt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon starteten die USA und andere Imperialisten Kriege der Verwüstung in Afghanistan und im Irak bzw. beteiligten sich daran. Sie begannen im eigenen Land die Repression zu verschärfen, besonders gegen Minderheiten mit muslimischem Hintergrund. In Frankreich bekräftigte die damalige Volksfrontregierung unter Premierminister Lionel Jospin von der Sozialistischen Partei, an der auch die Kommunistische Partei beteiligt war, den Vigipirate-Plan – Polizei/Armee-Patrouillen des öffentlichen Nahverkehrs –, seit 2005 gilt „Alarmstufe Rot“. Die Jospin-Regierung verabschiedete auch das „Gesetz für Sicherheit im Alltag“, das die Polizeibefugnisse stärkte, die dann in der Amtszeit von Nicolas Sarkozy als Innenminister und nun als Präsident stetig ausgeweitet wurden.

Zwar haben die Imperialisten den „Krieg gegen den Terror“ dazu benutzt, „säkulare“ Führer wie Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten zu stützen, doch in Wirklichkeit förderten die Imperialisten seit langem das Wachstum des islamischen Fundamentalismus als ein Bollwerk gegen den Kommunismus und sogar gegen den linksbürgerlichen Nationalismus. Dies trifft genauso auf die arabischen Herrscher zu, die die Fundamentalisten mit der einen Hand brutal unterdrücken, während sie sie mit der anderen fördern. In einem Interview von 1994 erklärte Ben Ali selbst: „Bis zu einem gewissen Grad war der Fundamentalismus unser eigenes Werk und wurde einst ermutigt, um die Bedrohung durch den Kommunismus zu bekämpfen. Solche Gruppen wurden damals an den Universitäten und anderswo gefördert, als Gegengewicht zu den Kommunisten und zur Wahrung des Gleichgewichtes“ (zitiert in Political Islam: Essays from Middle East, Hrsg. Joel Benin und Joe Stork [1997]).

Die tunesische Gesellschaft ist im Vergleich zu anderen Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten ziemlich säkular. Viele Frauen tragen keinen Schleier, Abtreibung wurde liberalisiert, Verhütungsmittel sind erhältlich und Polygamie ist verboten; die „Verstoßung“ (wo ein Mann sich von seiner Frau einfach scheiden lassen kann, indem er die Worte „ich scheide mich von dir“ ausspricht) wurde durch die Zivilscheidung ersetzt. Diese Rechte wurden größtenteils unter Präsident Bourgiba in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit und zum großen Teil deshalb erreicht, weil Tunesien eine vom Staat relativ unabhängige Arbeiterbewegung hatte. Dennoch ist, wie wir nach Ben Alis Machtergreifung vor über 20 Jahren in Le Bolchévik Nr. 79 schrieben, Tunesiens Personenstandsrecht stark vom islamischen Recht beeinflusst, das Frauen zwingt, sich ihren Vätern und Ehemännern unterzuordnen:

„Unverheiratete Frauen unterstehen der Autorität ihres Vaters, der ,bis zu einer Eheschließung für sie sorgen muss‘. Der Ehemann muss für seine zukünftige Frau eine ,ansehnliche Summe‘ als Brautgeld bezahlen, bevor die Eheschließung ,vollzogen‘ wird… Nach der Hochzeit müssen die Frauen ihren Ehemännern gehorchen. Beim Erbrecht wurde die Geschlechterungleichheit beibehalten: Eine Frau erbt nur die Hälfte des männlichen Erbteils. Personenstandsrecht, Verfassung und Gesetze Tunesiens wurden als heikler, fragiler und umkehrbarer Kompromiss zwischen islamischem Recht und bürgerlicher ,Modernität‘ konzipiert.“

Nach 23 Jahren der Herrschaft Ben Alis hat sich in dieser Hinsicht wenig geändert, außer dass der Gehorsam gegenüber dem Ehemann nicht mehr im Gesetz verankert ist. Aber was ganz wichtig ist, der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung stieg von nur 5,5 Prozent Mitte der 1960er-Jahre auf nahezu 30 Prozent an, was ihre wachsende Rolle als zentraler Bestandteil der Arbeiterklasse unterstreicht.

Prinzipiell hat die Unterdrückung der Frauen ihre Wurzeln in der Institution der Familie und in der Klassengesellschaft. Sie wird erst verschwinden, wenn ein revolutionärer Arbeiterstaat die Wirtschaft kollektiviert und durch die Vergesellschaftung von Kinderbetreuung und -erziehung die materielle Grundlage für die Ersetzung der Familie geschaffen hat (siehe „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 25, Frühjahr 2006). Die unter Bourgiba und Ben Ali erreichten Reformen sind in etwa das Limit, das Frauen unter dem Kapitalismus in einem solchen neokolonialen Land überhaupt erreichen können. Der Kampf für Frauenbefreiung wird im Kampf für eine sozialistische Revolution in Tunesien eine zentral wichtige Rolle spielen.

Loyale Sozialdemokraten des französischen Imperialismus

Als Antwort auf den tunesischen Aufstand hat die sozialdemokratische Linke in Frankreich Illusionen in den französischen Imperialismus gesät. Natürlich kritisierten sie alle das Angebot der französischen Außenministerin, Sicherheitskräfte zur Unterstützung Ben Alis zu schicken. Im Grunde waren diese Sozialdemokraten aber darüber erbost, dass die groteske Unterstützung des Ben-Ali-Regimes durch die Sarkozy-Regierung im Begriff ist, die Position des französischen Imperialismus in Tunesien nach Ben Ali zu schwächen. Dies wird besonders hinsichtlich des US-Rivalen des französischen Imperialismus so empfunden, der insgeheim gegenüber dem Ben-Ali-Regime kritisch eingestellt war und General Ammar grünes Licht gegeben haben soll, Ben Ali des Landes zu verweisen. Während der US-Imperialismus heuchlerisch Hilfe für die Organisierung „freier Wahlen“ in Tunesien anbot, beklagte sich Jean-Marc Ayrault, einer der führenden Typen der französischen Sozialistischen Partei, die französische Regierung habe Positionen eingenommen, „die Frankreich in den Augen der Welt und der Tunesier disqualifizieren“.

So ruft nun die sozialdemokratische Linke denselben Sarkozy dazu auf, in Tunesien für die gute Sache einzutreten. Die Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon, der von 2000 bis 2002 ein Minister in Jospins bürgerlicher Regierung war, verbreitete am 13. Januar, dem Tag vor Ben Alis Flucht, in Paris eine Erklärung, „die Regierung von Herrn Sarkozy wie auch die Europäische Union [muss] die vielfältigen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, um Ben Ali unter Druck zu setzen, ausnutzen, um ihn zu zwingen, den Forderungen des Volkes Gehör zu schenken und ohne Verzögerung die tiefgreifenden demokratischen Reformen anzugehen, die in diesem Land wesentlich sind“. Ähnlich forderte die Kommunistische Partei, Sarkozy und andere EU-Führer sollten „die Repression verurteilen und gegen das Ben-Ali-Regime politische, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen verhängen“ (l’Humanité, 14. Januar). Dies wurde am gleichen Tag gedruckt, an dem die französische Regierung eine Flugzeugladung Tränengas für Tunesien bereitstellte! Das alles sollte nicht überraschen: Vom Krieg gegen die algerische Unabhängigkeit, der in den 1950er-Jahren von der sozialistischen Guy-Mollet-Regierung mit Unterstützung der Kommunistischen Partei geführt wurde, bis zur Verteidigung gegenwärtiger französischer Interessen in Afrika haben die Sozialdemokraten und Stalinisten immer nachdrücklich französische imperialistische Interessen verteidigt.

Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) von Olivier Besancenot geht bei ihren Versuchen, auf die Regierung Druck auszuüben, ein wenig subtiler vor. Während die NPA Frankreich dazu aufrief, seine „kleinen neokolonialen Arrangements“ in seinen ehemaligen Kolonien Tunesien und Algerien aufzugeben, verurteilte sie in einem am 13. Januar in Paris verteilten Flugblatt das „Quasi-Schweigen der französischen Regierung“ zur tunesischen Erhebung als „nicht hinnehmbar“. Im eigenen Land arbeitet die NPA daran, durch Klassenzusammenarbeit die Arbeiterklasse der Bourgeoisie unterzuordnen; in ähnlicher Weise wirbt sie in Bezug auf Tunesien unkritisch für die „Front des 14. Januar“, der die PCOT und eine Reihe kleiner bürgerlicher Parteien angehören.

Für permanente Revolution!

Die Auswirkungen der tunesischen Erhebung sind bereits in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten zu spüren (siehe den Titelseitenartikel zu Ägypten). Inmitten der internationalen Finanzkrise sind die Massen in Ländern wie Ägypten hart getroffen durch erhebliche Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln und Treibstoff, angefacht durch hemmungslose Spekulation internationaler kapitalistischer Finanziers (siehe „Imperialism Starves World’s Poor“ [Imperialismus hungert Arme der Welt aus], WV Nr. 919 und 920, 29. August und 12. September 2008, über die vorangegangene, durch Spekulation genährte Nahrungsmittelkrise). Ägypten explodiert. In Algerien haben Proteste gegen den kränkelnden Abdelaziz Bouteflika, eine Gallionsfigur des Militärs, das in Algerien seit der Unabhängigkeit die Oberherrschaft hat, das gesamte Land erfasst.

Eine Arbeiterrevolution in Tunesien hätte ungeheure Auswirkungen auf ganz Nordafrika und den Nahen Osten. Arbeiteraufstände könnten all diese verrotteten Regime hinwegfegen und damit beginnen, die grundlegenden Forderungen der Massen nach Arbeit, Freiheit und Gerechtigkeit aufzugreifen. Das imperialistische Frankreich, der neokoloniale Herrscher der gesamten Maghreb-Region Nordafrikas, wäre zutiefst erschüttert, insbesondere angesichts der strategischen Position von Millionen von Arbeitern nordafrikanischer Herkunft im französischen Proletariat. Entscheidend ist die Schmiedung revolutionärer Arbeiterparteien wie der bolschewistischen Partei, die in der Oktoberrevolution von 1917 die russische Arbeiterklasse an die Macht führte – Parteien, die dem Programm der permanenten Revolution verpflichtet sind, das die brennenden Bedürfnisse der Massen aufgreift und sie unausweichlich zu ein und derselben Schlussfolgerung führt: zur Eroberung der Macht durch das Proletariat. Das ist das Programm der Internationalen Kommunistischen Liga. Für eine sozialistische Föderation Nordafrikas!