Spartakist Nr. 169

Winter 2007/2008

 

„Freies Tibet“ — Schlachtruf für Konterrevolution in China

Der Empfang des Dalai Lama erst durch Merkel und dann durch George W. Bush hat erneut die Kampagne der Imperialisten über das „arme kleine Tibet“ angefacht, die ein zentraler Bestandteil der antikommunistischen „Menschenrechts“-Kampagne gegen den deformierten Arbeiterstaat China ist.

Tibet hat nur minimale Grundlagen für eine Besiedlung durch Menschen. Zum größten Teil isoliert vom Rest der Welt entwickelte es sich unberührt von modernen „Störungen“ wie Lese- und Schreibfähigkeit, medizinische Versorgung und Zivilisation im Allgemeinen. Jahrhundertelang, bis 1959, herrschte die Lamakratie – geformt durch die Verschmelzung einer Aristokratie, ähnlich der des Feudalismus, und einem riesigen Priesterstand, der zu manchen Zeiten mehr als 20 Prozent der männlichen Bevölkerung umfasste – über eine Gesellschaft von Bauern und Hirten, in der Sklaverei weit verbreitet war. Ohne Industrie und Arbeiterklasse war Tibet, wie auch Afghanistan, so rückständig, dass sozialer Fortschritt nur von außen kommen konnte. 1979 kam die sowjetische Rote Armee der modernisierenden linksnationalistischen Regierung Afghanistans zu Hilfe, die mit einem von der CIA unterstützten Aufstand der Mullahs konfrontiert war. Diese hatten zu den Waffen gegriffen, weil die Kabuler Regierung den Brautpreis – mit dem Frauen wie Vieh gehandelt wurden – gesenkt, wenn auch nicht abgeschafft hatte. Wir begrüßten den Einmarsch mit „Hoch die Rote Armee in Afghanistan! Weitet die Errungenschaften der Oktoberrevolution auf die Völker Afghanistans aus!“ Ebenso eröffnete in Tibet der Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) 1951 den Weg zu sozialem Fortschritt. Neun Jahre nach dem Einmarsch begann die Beijinger Bürokratie grundlegende Reformen in Tibet einzuführen: Die Ulag (Frondienste der Bauern), die Sklaverei und die unendliche Zahl von Steuern, die an die Aristokratie und die Klöster zu zahlen waren, wurden abgeschafft. Der Bau der Tibet-Bahn vor zwei Jahren ist eine historische Errungenschaft, die die Möglichkeit für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes eröffnet, das bisher nur über drei schwer befahrbare Straßen erreichbar war.

Der Dalai Lama ist ein passendes Symbol für die Konterrevolution, die die Imperialisten im chinesischen Arbeiterstaat durchführen möchten: Die Priesterkaste, der er historisch vorstand, war wahrscheinlich die proportional größte und faulste herrschende Schicht in der Menschheitsgeschichte gewesen. Wirtschaftlich wurde sie durch bitterarme Bauern, die Gerste anbauen, und Viehhirten, die Yak-Rinder halten, durchgefüttert. Diese harte Arbeit leisteten zumeist Frauen, denn nicht nur die Mönche widmeten sich ausschließlich der inneren Einkehr, sondern auch ein großer Teil der männlichen Bevölkerung, nachdem er durch die Zeugung von Kindern „gesündigt“ hatte. Und so ist es kein Wunder, dass die chauvinistische, völlig reaktionäre und verfaulende Bourgeoisie voll warmer Sympathie für die Lamakratie ist. Schließlich lebt sie selber davon, sich die Produkte, die von der Arbeiterklasse produziert werden, unter den Nagel zu reißen!

Auf Seite 11 berichten wir, wie die dubiose Bolschewistische Tendenz (BT) die Bundeswehr zur Zeit der Existenz der Sowjetunion als „Verteidigungsarmee“ verherrlicht – was genau das Weltbild der antikommunistischen Sozialdemokratie widerspiegelt, die gegen die „Rote Gefahr aus dem Osten“ auf Seiten des deutschen Imperialismus stand. Die Haltung der BT zu Tibet ist ein weiteres Beispiel für ihre tief sitzende sozialdemokratische Feindschaft gegen die deformierten und degenerierten Arbeiterstaaten. Sie umarmt den von der CIA so sehr geschätzten Dalai Lama: „Durch das Einverständnis, dass die Tibetaner oder Uiguren das Recht haben, ihre eigene Regierung zu kontrollieren, würde eine revolutionäre Regierung in China ihren Willen der Koexistenz mit der traditionellen herrschenden Kaste und Xinjiangs Mullahs signalisieren, sofern diese von der Bevölkerung Unterstützung erhalten“ (Bolschewik, Januar 2005). Wo die stalinistische Bürokratie in Beijing „ein Land, zwei Systeme“ propagiert und Hong Kong als kapitalistische Enklave beibehält, geht die BT noch ein ganzes Stück weiter: „Koexistenz“ mit dem Feudalismus! Oder in anderen Worten: „ein Land, drei Systeme“. Die BT wird hauptsächlich durch subjektive Bösartigkeit gegenüber unserer Partei angetrieben und ist mehr Provokateur als politischer Gegner (siehe dazu auch Seite 8 über den Soziopathen Bill Logan, den die BT 1990 zu ihrem internationalen Führer erkor). Aber insoweit die BT politische Fragen aufwirft, gibt sie die „Werte“ der herrschenden Klasse wieder, gesehen durch die Brille der jeweils eigenen nationalen Sozialdemokratie.

Für die Imperialisten hat Tibet kaum geopolitische Bedeutung. Aber es stellt einen Test dar, wie weit die Stalinisten der KP Chinas noch entschlossen sind, ihre Herrschaft zu verteidigen. Die Bereitschaft des früheren sowjetischen Führers Gorbatschow, 1989 die Rote Armee aus Afghanistan abzuziehen, dann die baltischen Staaten ziehen zu lassen und, was am wichtigsten war, die DDR aufzugeben, intensivierte den imperialistischen Druck auf die Sowjetunion. Das ermutigte auch die einheimischen Konterrevolutionäre, was letztendlich zu Jelzins proimperialistischem Putsch im August 1991 und anschließend zur Zerstörung der Sowjetunion führte.

Selbst die bescheidenen Reformen, die unter der Herrschaft der KPCh eingeführt worden waren, wurden noch abgeschwächt, weil die verbliebenen tibetischen Aristokraten Sabotage betrieben und die stalinistische Bürokratie eine engstirnige, mit chinesischem „Groß-Han“-Chauvinismus durchsetzte Politik verfolgte. Als Ergebnis der völlig fehlbenannten „Kulturrevolution“ wurde u. a. die landwirtschaftliche Produktion so sehr beeinträchtigt, dass 1981 ein Fünftel der Bevölkerung Tibets auf Hilfslieferungen der Zentralregierung angewiesen war, um auch nur überleben zu können.

Es gibt im Augenblick keine Basis für irgendeine Art von unabhängigem Tibet, da weder eine einheimische kapitalistische Klasse noch eine Arbeiterklasse von irgendeiner Bedeutung existiert. Die Voraussetzungen für jede tibetische Autonomie von Bedeutung oder, falls gewünscht, Unabhängigkeit, sind die Zerstörung von jedem Überbleibsel aristokratischer und klösterlicher Macht – und die Beendigung aller staatlichen Unterstützung für die Klöster – durch die Mobilisierung der tibetischen Massen in Sowjets der Werktätigen, die verbunden sind mit der proletarischen Sowjetherrschaft in China. Erst dann könnte das Volk von Tibet damit beginnen, die Jahrhunderte von Fast-Sklaverei und schrecklichen Entbehrungen zu überwinden und den Weg von Fortschritt, Prosperität und menschlicher Freiheit einzuschlagen, die das Ziel der sozialistischen Revolution sind. Diese Fortschritte hängen heute von einer siegreichen politischen Revolution der Arbeiterklasse in China als Teil des Kampfes für ein sozialistisches Asien ab.