Spartakist Nr. 169 |
Winter 2007/2008 |
Die Russische Revolution von 1917
Vom Kornilow-Putsch zur Oktoberrevolution
Erster Teil
(Spartakist-Jugend)
Nachfolgend drucken wir den zur Veröffentlichung redigierten ersten Teil eines Schulungsvortrags ab, den die Genossin Diana Coleman im Rahmen einer Schulungsreihe zu Leo Trotzkis Die Geschichte der Russischen Revolution (1932) hielt, die im Januar 2006 als Schulung für junge Genossen der Spartacist League/U.S. stattfand. Der Schulungsvortrag des Genossen T. Marlow, der den Zeitraum von der Februarrevolution bis zu den Julitagen behandelt, erschien in Spartakist Nr. 167 (Sommer 2007) und Nr. 168 (Herbst 2007).
Das erste Kapitel von Trotzkis Die Lehren des Oktober (1924) hat die Überschrift: Die Oktoberrevolution muss studiert werden, und die Anfangszeile lautet: Wenn wir in der Oktoberrevolution Glück hatten, so hatte diese selbst in unsrer Presse kein Glück. Nun, in diesen Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben wir ein noch größeres Problem, da unsere Kontrahenten auf der Linken, die die kapitalistische Konterrevolution bejubelten, praktisch jeglichem Anspruch auf das Erbe des Oktober abgeschworen haben, unsere Kontakte nie von der Russischen Revolution gehört haben und unsere eigenen jungen Mitglieder mitunter sagen: Wir sind die Partei der Russischen Revolution doch ich weiß selbst nicht viel darüber. Zumindest letzteres können wir korrigieren. Genosse Marlow meinte, er habe den schlechten Teil abgekriegt, wo die Bolschewiki all diese Schwierigkeiten haben, und ich den guten, wo sie gewinnen. Zusätzlich zu Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution halte ich zweierlei für am meisten lesenswert: Lenins Gesammelte Werke Band 24, 25 und 26 sowie Alexander Rabinowitsch. Er ist ein anständiger Typ, der zu seiner eigenen Überraschung zu dem Schluss gelangte, dass die Bolschewiki wirklich in Wechselbeziehung zu den Massen standen und sich in lebendigen Diskussionen engagierten.
In Die Lehren des Oktober versuchte Trotzki, mit den politischen Gründen zu Rande zu kommen, die dem Scheitern der Deutschen Revolution von 1923 zugrunde lagen. Er verglich die deutschen Ereignisse mit dem russischen Oktober. Trotzki beschreibt ausführlich die Kämpfe, die Lenin nach dem Februar 1917 führte, um die Partei wiederzubewaffnen. Nur diese Kämpfe machten den Sieg im Oktober möglich. Bei der Schilderung der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der bolschewistischen Partei sagt Trotzki: Die wichtigste Streitfrage, um die sich alle übrigen gruppierten, war folgende: Soll man um die Macht kämpfen oder nicht?
Trotzki definierte die bolschewistische Tendenz als ihrem Wesen nach eine solche Erziehung, eine solche Stählung, eine solche Organisation der proletarischen Vorhut durch die sie fähig wird, die Macht durch die Gewalt der Waffen zu erobern, und die sozialdemokratische (menschewistische) Tendenz als eine reformistisch-oppositionelle Betätigung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und eine Anpassung an deren Gesetzlichkeit, d. h. als eine Erziehung der Massen im Geiste der Anerkennung der Unerschütterlichkeit des bürgerlichen Staates. Der Kampf zwischen diesen Tendenzen macht sich am stärksten am Vorabend einer Revolution bemerkbar. Trotzki wies außerdem darauf hin, dass zwischen der Frage der Macht und der Frage des Krieges eine enge Beziehung besteht.
Dies sind also die Fragen, die ich für diese Schulung im Auge behielt: die Machtergreifung, der interimperialistische Krieg und natürlich die Partei, die Partei und nochmals die Partei. Miljukow, der führende Repräsentant der russischen Bourgeoisie, soweit sie vorhanden war, erkannte die Rolle der Bolschewiki als Partei an, als er sagte: Sie wußten, wohin sie gingen, und sie gingen die einmal eingeschlagene Richtung, auf ein Ziel los, das mit jedem neuen mißlungenen Experiment der Versöhnler immer näher rückte (zitiert in Trotzkis Geschichte). Ja, aber es bedurfte äußerer und innerer Kämpfe, denn, wie Trotzki sagt, die Partei ist ein lebender Organismus, der sich in Widersprüchen entwickelt. Tatsächlich glaube ich, dass Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution sehr hilfreich ist für das Verständnis von dialektischem Materialismus und von Widersprüchen.
Die Bolschewiki und der Weltkrieg
Was den interimperialistischen Krieg anbelangt, so war die bolschewistische Haltung des revolutionären Defätismus absolut entscheidend, um die Oktoberrevolution zustande zu bringen. Von entscheidender Bedeutung waren die politischen Kämpfe, die Lenin vom 4. August 1914 an austrug, als deutsche sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete für die Kriegskredite stimmten, bis zu seinem Kampf gegen die zentristischen Elemente unter der Führung des deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky, die an den internationalen Antikriegskonferenzen in Zimmerwald und Kienthal teilnahmen. Lenin pochte immer wieder auf den imperialistischen Charakter des Krieges und die revolutionären Aufgaben, die sich daraus ergaben: d. h. den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie und für den Sozialismus zu verwandeln.
Ein anderer entscheidender Punkt war, dass die größte Gefahr für das Proletariat und für die Aussichten der Revolution die Zentristen darstellten, mit all ihren Phrasen von Kampagnen zu Gunsten des Friedens und Frieden ohne Annexionen und, wie Lenin sagte, ihrem wirklichen Programm: Frieden mit den Sozialchauvinisten (siehe Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, 10. April 1917). Der Aufruf zu einem vollkommenen Bruch mit der Zweiten Internationale und für die Gründung einer Dritten Internationale war somit der umstrittenste Aspekt von Lenins Programm.
Seit Lenins Rückkehr nach Petrograd im April 1917 bekräftigten die Bolschewiki ihren unversöhnlichen Widerstand gegen den imperialistischen Krieg, der jetzt von der neuen demokratischen kapitalistischen Regierung in Russland geführt wurde. Lenin prangerte die revolutionäre Vaterlandsverteidigung als de[n] schlimmste[n] Feind der weiteren Entwicklung und des Erfolgs der russischen Revolution an. Gewiss versuchten die Bolschewiki, eine Brücke zu den auf Verteidigung ausgerichteten Stimmungen der Massen zu finden. Lenin arbeitete hart daran, die bolschewistische Position den arbeitenden Massen (er nannte sie ehrliche Landesverteidiger) geduldig zu erklären, die in Wirklichkeit nichts vom imperialistischen Krieg zu gewinnen hatten, und stellte sie der Bourgeoisie, den Intellektuellen und Sozialpatrioten gegenüber, die ganz genau wussten, dass man unmöglich auf Annexionen verzichten kann, ohne auf die Herrschaft des Kapitals zu verzichten.
Doch es ging dabei um eine wichtigere Frage: die Doppelherrschaft. Die arbeitenden Massen hatten den Zar gestürzt und die Sowjets geschaffen: die Anfänge von Organen proletarischer Staatsmacht. Das Proletariat hatte also eine Errungenschaft in der Hand, die zu verteidigen sich lohnte. In Russland gab es eine Doppelherrschaft und ein Klassenkrieg wütete; die Bolschewiki mussten eine taktische Herangehensweise haben, die die sehr reale Möglichkeit der Ergreifung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse berücksichtigte.
Nach den Julitagen
Ich werde weitermachen, wo Genosse Marlow aufgehört hat. Die Periode, die auf die Julitage folgte, nannte Trotzki den Monat der großen Verleumdung. Lenin und Sinowjew gingen in den Untergrund; Trotzki, Lunatscharski, Kamenjew, Raskolnikow (ein bolschewistischer Matrosenführer und Autor von Kronstadt and Petrograd in 1917) und viele andere wurden eingekerkert. In The Bolsheviks Come to Power [Die Bolschewiki kommen an die Macht] (1976) zitiert Alexander Rabinowitsch einen linken Menschewiken, der die Straßen Petrograds am 5. Juli als eine konterrevolutionäre Orgie beschrieb und sagte, dass es einer der traurigsten Tage seines Lebens gewesen sei (ein sehr menschewistischer Kommentar). Dennoch waren die menschewistischen und sozialrevolutionären (SR) Sowjetführer die Hauptverantwortlichen der antibolschewistischen Repression. Die Bolschewiki wurden auch für den Zusammenbruch der Militäroffensive verantwortlich gemacht, ein lächerlicher Vorwurf.
Der allgegenwärtige Suchanow, ein linker Menschewik, den Trotzki in seiner Geschichte oft zitiert, konnte nicht verstehen, weshalb sich Lenin nicht zur Verfügung stellte für eine Regierungsuntersuchung über die Frage, wer für die Juliunruhen verantwortlich war. Es gab auch in der bolschewistischen Partei einige Stimmung dafür; doch das Schicksal von Luxemburg und Liebknecht, die während des von der sozialdemokratischen Regierung entfachten konterrevolutionären Terrors in Berlin 1919 ermordet worden waren, macht im Nachhinein klar, worüber sich Lenin eigentlich Sorgen machte. Doch die Repression während und nach den Julitagen war oberflächlich und vorübergehend. In The Bolsheviks Come to Power hat Rabinowitsch ein Kapitel mit der Überschrift The Ineffectiveness of Repression [Die Wirkungslosigkeit der Repression]. Er schreibt: Trotz Kerenskis feuriger kompromissloser Rhetorik wurde fast keine der damals vom Kabinett beschlossenen größeren Repressionsmaßnahmen voll umgesetzt oder hat ihr Ziel vollständig erreicht.
Die Entwaffnung der Arbeiter und der den Bolschewiki gegenüber loyalen Einheiten der Petrograder Garnison war nicht sehr erfolgreich. Einiges Armeepersonal wurde an die Front versetzt, doch entgegen dem Plan wurden die Einheiten nicht aufgelöst. Zwar waren viele bolschewistische Führer verhaftet worden, aber viele wurden während der Kornilow-Tage freigelassen, und keiner wurde je vor Gericht gestellt, da die Revolution dazwischenkam. Jedenfalls gab es in Petrograd immer noch 32 000 Bolschewiki auf freiem Fuß. Raskolnikow sagt:
Die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli und die Kampagne ungezügelter Repression, die auf sie folgte, entlarvten die konterrevolutionäre und antidemokratische Haltung der bürgerlichen Regierung Kerenskis vollkommen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, verfangen in den Netzen der Koalition, schadeten ihrem Ansehen schließlich unwiderruflich.
Doch unsere verfolgte Partei, umgeben vom Strahlenglanz des Märtyrertums, ging aus diesen Verfolgungen sogar gestählter als je hervor, und mit einer beispiellosen Zunahme an Einfluss und Unterstützerzahl. (Kronstadt and Petrograd in 1917, 1925)
In seiner Geschichte bemerkt Trotzki, dass im Oktober viele örtliche bolschewistische Führer sich die von ihnen geführten Arbeiter anschauten, sich daran erinnerten, wie diese sich im Juli gehalten hatten, und ihnen dementsprechend die Aufgaben zuwiesen. Lenins Aprilthesen gaben der Partei eine korrekte, prinzipientreue Orientierung, und die Julitage und ihre Nachwehen stählten die Partei, doch keines von beiden bereinigte die Meinungsverschiedenheiten unter den Parteiführern, die ihren schärfsten Ausdruck in dem entscheidenden Moment der Revolution den Oktobertagen erreichten.
Kornilows Putschversuch
Die Kornilow-Ereignisse markierten eine abrupte Änderung der Lage zugunsten der Bolschewiki und der Arbeiterklasse. Kornilow: der Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Verstand eines Schafs. Kornilow war ein Monarchist vom (pogromistischen) Schlage der Schwarzhunderter. Eisensteins Film Oktober, der trotz seiner Trotzki-feindlichen Verleumdungen gut ist, zeigt, wie die zuvor umgestürzte Zarenstatue während des Kornilowaufstandes wiederholt an ihren Platz zurückspringt: ein ziemlich treffendes Bild. Kornilow war Monarchist, aber Miljukow, der Inbegriff der liberalen Bourgeoisie, wollte ebenfalls eine Art von Monarchie. Eine Sache, die mich an Trotzkis Geschichte interessierte, waren die beiden aufeinander folgenden Kapitel Kerenskis Verschwörung und Kornilows Aufstand. Ich glaube, als ich das Buch zum ersten Mal las, verstand ich nicht, wie sehr sich Kerenski mit Kornilow verschworen hatte. Es war klar: Wenn die Bolschewiki nicht die Arbeiter mobilisiert hätten, hätte Kerenski einfach nur wie gelähmt dagesessen, als Petrograd im Zuge des Putschversuchs überfallen wurde, von dem Kerenski ursprünglich glaubte, dass er ihn zum Diktator machen würde. Die Bolschewiki und die Arbeiter wären massakriert worden.
Trotzki erzählt, wie während der Kornilow-Ereignisse Matrosen der revolutionären Kronstädter Garnison fragten: Ist es nicht Zeit, die Regierung zu verhaften? Trotzkis Antwort war: Nein, es ist noch nicht Zeit, legt das Gewehr auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow. Danach werden wir unsere Rechnung mit Kerenski machen. Die Tatsache, dass die Kronstädter Matrosen jetzt aufmerksamer auf die Bolschewiki hörten als in den Julitagen, zeigte das reifende Verständnis der Arbeiter und Soldaten. Trotzki drückte das Gleiche auf andere Art aus, als er sagte, dass Kerenski und Kornilow zwei Varianten der gleichen Gefahr die schleichende und die akute seien, und man müsse vor allem die akute Gefahr abwenden, um später mit der schleichenden fertigzuwerden.
Trotzki macht einige Bemerkungen, die zum Nachdenken anregen, wenn er über Aspekte des Bonapartismus in der Russischen Revolution spricht. Er sagt, dass Kerenski nicht der Repräsentant der Sowjets in der Regierung war, wie der SR-Führer Tschernow oder der Menschewik Zeretelli, sondern das lebendige Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie; die personelle Verkörperung der Koalition selbst. Kornilow war eine andere Art von Bonapartist.
Indessen stritt Lenin gegen die rechtsgerichtete Abweichung in der bolschewistischen Partei, die sich durch eine Annäherung an die Sowjetmehrheit aus Menschewiki und SR und zum Teil an die Vaterlandsverteidigung manifestierte. Lenin sagte: Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ,Verständigungspolitik verfallen (Brief an das Zentralkomitee der SDAPR, 30. August 1917).
Hier sehen wir also militärische Verteidigung, aber nicht politische Unterstützung der Provisorischen Regierung. Im selben Brief erklärte Lenin, wie dies effektiv als Einheitsfront zu gebrauchen war: Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. Lenin fährt fort: Es wäre falsch anzunehmen, daß wir uns von der Aufgabe der Eroberung der Macht durch das Proletariat entfernt haben. Nein. Wir sind dieser Aufgabe ganz erheblich näher gekommen, aber nicht direkt, sondern von der Seite her. Lenin verlor die proletarische Machtergreifung zu keiner Zeit aus den Augen.
Bis zum 30. August löste sich der Kornilowaufstand auf: Die Eisenbahnarbeiter transportierten ihn nicht, seine Truppen wurden von bolschewistischen Agitatoren überzeugt, Arbeiter rissen die Bahngleise heraus usw. In dieser ganzen Periode sagten all diese Rechten: Wenn ich nur ein gutes Regiment hätte! Nur hatten sie nie eines. Die Bolschewiki profitierten von diesen Ereignissen außerordentlich. In seinen Memoiren von 1922 sprach Suchanow freimütig über die Rolle der Bolschewiki in dem vom Sowjet eingerichteten Komitee zum Kampf gegen die Konterrevolution, zu dem Sozialrevolutionäre, Menschewiki sowie Bolschewiki gehörten:
Damals besaßen sie [die Bolschewiki] die einzige Organisation, die groß, durch elementare Disziplin zusammengeschweißt und mit der demokratischen Basis der Hauptstadt verbunden war. Ohne sie war das Militärische Revolutionskomitee machtlos; ohne sie hätte es die Zeit nur mit notdürftigen Proklamationen und kraftlosen Erklärungen von Rednern verbringen können, die schon lange alle Autorität verloren hatten. Mit den Bolschewiki jedoch stand dem Militärischen Revolutionskomitee die ganze Macht jeglicher organisierten Kraft der Arbeiter und Soldaten zu Gebote. (N.N. Suchanow, The Russian Revolution 1917, 1955)
Das stimmt: Wenn man rechte Reaktion bekämpfen will, braucht man Bolschewiki!
Kornilows Niederlage
und der Aufstieg des Bolschewismus
Alexander Rabinowitsch sagt etwas verblüfft über Kerenski:
Man hätte erwartet, dass sich der Premierminister an diesem Punkt, nachdem er von Seiten der Rechten eine so üble Niederlage hatte einstecken müssen und die enorme Macht der Linken erfahren hatte, mit aller Kraft darum bemühen würde, sich die Unterstützung letzterer zu sichern. Doch mehr denn je besessen von der Furcht vor der extremen Linken und immer noch darauf bedacht, irgendwie die Kriegsanstrengungen zu verstärken, benahm sich Kerenski jetzt, als hätte die Kornilow-Affäre nicht stattgefunden Kerenski begann Pläne zur Bildung einer autoritären, auf Recht und Ordnung orientierten Regierung vorzulegen ein Koalitionskabinett aus Rechten, Sozialisten und Liberalen, in dem der Einfluss der Kadetten stärker sein würde denn je. (The Bolsheviks Come to Power)
Rabinowitsch denkt, Kerenski war dumm, doch was hatte Kerenski für eine Wahl? Lenin drückte es klar aus, als er sagte: Kerenski ist ein Kornilowmann, der sich zufällig mit Kornilow überworfen hat und nach wie vor im intimsten Bündnis mit anderen Kornilowleuten steht (Helden der Fälschung und Fehler der Bolschewiki, September 1917). Auf jeden Fall hatten mittlerweile die Massen nicht nur genug von Kornilow, den Kadetten und Kerenski, auch Koalitionskungelei im Allgemeinen war diskreditiert.
Alles bewegte sich nach links, und die Lage des Landes verschlechterte sich von Minute zu Minute: Hungersnot drohte, die Kapitalisten sabotierten vorsätzlich die Industrie, die Soldaten hungerten, Riga war geradezu mit Absicht an den deutschen Imperialismus ausgeliefert worden und Petrograd war bedroht. Selbst die Kompromissler von den Menschewiki und SR sagten, dass eine Koalition mit den Kadetten nicht länger denkbar sei. Natürlich hatten sich die Kadetten in keiner Weise geändert, also weshalb war sie vorher denkbar gewesen?
Lenin hatte die Losung Alle Macht den Sowjets nach den Julitagen zurückgezogen, als Bolschewiki verfolgt und verhaftet wurden, nicht zuletzt durch die Sowjetmehrheit aus Menschewiki und SR. Jetzt begann er zu glauben, es sei notwendig, sich statt auf die Sowjets auf die Fabrikkomitees als die Organe der Arbeitermacht zu orientieren. Aber zwischen dem 1. und 3. September schrieb er Über Kompromisse. Er sah die Sowjets durch den Kampf gegen Kornilow wiederbelebt, und die Kompromissler der Menschewiki und SR sprachen zumindest über keine Koalition, und so bot er ihnen diesen Kompromiss an:
Ein Kompromiß ist unserseits die Rückkehr zu der Forderung, die wir bis zum Juli stellten: Alle Macht den Sowjets, eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki.
Jetzt und nur jetzt, vielleicht nur während weniger Tage oder nur ein, zwei Wochen lang, könnte sich eine solche Regierung vollkommen friedlich bilden und festigen
Der Kompromiß bestünde darin, daß die Bolschewiki, ohne Anspruch auf Beteiligung an der Regierung zu erheben (was für einen Internationalisten ohne tatsächliche Verwirklichung der Voraussetzungen zur Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft unmöglich ist), darauf verzichten würden, unverzüglich den Übergang der Macht an das Proletariat und die armen Bauern zu fordern, daß sie darauf verzichten würden, diese Forderung mit revolutionären Methoden des Kampfes durchzusetzen.
Stattdessen würden die Bolschewiki, wenn es Neuwahlen zu den Sowjets und volle Freiheit der Propaganda gäbe, friedlich für ihre Ideen kämpfen. Nicht überraschend machten die Kompromissler der Menschewiki und SR klar, dass sie dafür nicht zu haben waren, was für manche Bolschewiki und viele Arbeiter eine wichtige Lehre war. Die Losung Alle Macht den Sowjets wurde wieder beiseitegelegt, aber in den nächsten Tagen gewannen die Bolschewiki eine Mehrheit im Petrograder Sowjet und in der Folge auch in einer Reihe anderer Sowjets. Die Losung nahm damit eine neue Bedeutung an: Alle Macht den bolschewistischen Sowjets. Jetzt repräsentierten die Sowjets also wirklich die Interessen der Arbeiterklasse, und das Proletariat wurde nicht nur eine Klasse an sich, sondern eine Klasse für sich. In dieser Situation hatte die Losung endgültig aufgehört, eine Losung für friedliche Entwicklung zu sein. Die Partei wurde auf den Weg des bewaffneten Aufstandes gestoßen, mit Hilfe der Sowjets und im Namen der Sowjets.
Lenins Kämpfe mit dem Zentralkomitee
Die Machtergreifung stand ohne Frage auf der Tagesordnung oder besser gesagt, sie hätte auf der Tagesordnung stehen sollen. Von Mitte September an begann Lenin darauf zu dringen: Die Bolschewiki sollten in die Gänge kommen und es tun! In Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen, geschrieben zwischen dem 12. und 14. September, sagte Lenin: Es geht darum, der Partei die Aufgabe klarzumachen: Auf die Tagesordnung ist der bewaffnete Aufstand in Petrograd und Moskau (samt Gebiet), die Eroberung der Macht, der Sturz der Regierung zu setzen. Man muß überlegen, wie man hierfür agitieren kann, ohne sich in der Presse in dieser Form auszudrücken.
Lasst mich noch ein paar andere Themen anreißen, bevor ich mich der politischen Debatte über die Machtergreifung zuwende. Die Aprilthesen riefen zu einem Bruch mit den Zentristen von Zimmerwald und zur Gründung einer Dritten Internationale auf. Dies wurde auf der Parteikonferenz der Bolschewiki vom April nicht angenommen, wo Lenin als einziger gegen die Teilnahme an einer geplanten Zimmerwalder Antikriegskonferenz im Mai stimmte. In Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution schrieb er: Bei uns weiß man noch nicht, daß die Zimmerwalder Mehrheit gerade aus Kautskyanern besteht. Lenin fuhr fort: Der Zimmerwalder Sumpf darf nicht länger geduldet werden. Es geht nicht an, der Zimmerwalder ,Kautskyaner wegen die halbe Verbindung mit der chauvinistischen Internationale der Plechanow und Scheidemänner länger aufrechtzuerhalten.
Im Mai fasste das bolschewistische Zentralkomitee einen Beschluss, die Zimmerwalder Konferenz zu verlassen, sollten die Zimmerwalder zu einer Diskussion mit den Sozialpatrioten der Zweiten Internationale aufrufen. Dieser Kampf ging weiter: Im August kritisierte Lenin Kamenjew, weil er sich öffentlich für die Teilnahme an einer vorgeschlagenen Stockholmer Antikriegskonferenz ausgesprochen hatte, die eine üble Mischung russischer Kompromissler, Kautsky-Anhänger und unverhohlener Sozialpatrioten darstellte. Dies zeigte, dass alles richtig war, was Lenin darüber sagte, weshalb sie die Zimmerwalder Konferenz verlassen sollten. Trotzki sagte, der Weg nach Stockholm sei der Weg zur Zweiten Internationale. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Lenin selbst in der Hitze des Kampfes nicht einen Moment die Aufgabe der Schaffung einer neuen Kommunistischen Internationale vergaß. Erst nach der Oktoberrevolution wurde die Dritte Internationale gegründet.
Lasst mich etwas über die Demokratische Beratung sagen, die vom 14.22. September stattfand, und über das Vorparlament, das am 7. Oktober folgte. Ich möchte nicht alle Details der Demokratischen Beratung behandeln, da es ein bisschen langweilig ist. Dies war eine durch und durch manipulierte Konferenz, bei der die Menschewiki und Sozialrevolutionäre darauf achteten, dass konservative und offen bürgerliche Kräfte überwogen. Vermittels der Demokratischen Beratung und des Vorparlaments sollte die politische Aufmerksamkeit der Massen von den Sowjets, als zeitweiligen und absterbenden Institutionen, auf die Konstituierende Versammlung und eine bürgerliche Republik abgelenkt werden. Lenin befand sich noch im Untergrund und tobte wegen der Weigerung des bolschewistischen Zentralkomitees, mit dem Aufstand zu beginnen. In seiner Freizeit schrieb er Staat und Revolution Kamenjew musste versprechen, es fertig zu stellen und zu veröffentlichen, sollte Lenin ermordet werden.
Gerade als die Demokratische Beratung schloss, schrieb Lenin einen Artikel für die bolschewistische Zeitung, in dem er sie als niederträchtige [ ] Fälschung und Stall bezeichnete und mit der Duma (russisches Parlament unter dem Zar) verglich. Der zweite Teil von Lenins Artikel widmete sich den Fehlern der Bolschewiki und wandte ein, dass die Bolschewiki die Konferenz unter Protest hätten verlassen sollen, sobald deren Charakter klar geworden war. Auf kameradschaftliche, aber doch direkte Art nimmt sich der Artikel besonders Kamenjew und Sinowjew vor, ihren Enthusiasmus für die Konferenz und ihre schwachen Reden. Lenin erklärte, dass 99 Prozent der bolschewistischen Delegation die Demokratische Beratung hätten verlassen und zu den Fabriken und Kasernen gehen sollen, um mit den Massen die Lehren dieser lächerlichen Konferenz und die Niedertracht der menschewistischen und sozialrevolutionären Kompromissler zu diskutieren. Es ist aufschlussreich, dass dieser Artikel, obwohl Lenin ihn in der bolschewistischen Zeitung unter der Überschrift Helden der Fälschung und Fehler der Bolschewiki veröffentlicht haben wollte, von der Redaktion zensiert wurde, so dass er nur Helden der Fälschung hieß, und dass jegliche direkte Kritik an den Bolschewiki herausgestrichen wurde. Wir können annehmen, dass Lenin wütend und besorgt war.
Innerhalb weniger Tage hatte Lenin den Schluss gezogen, dass die Bolschewiki nie an der Demokratischen Beratung hätten teilnehmen dürfen, und argumentierte, wie auch Trotzki, mit heftigen Worten für einen Boykott des bevorstehenden Vorparlaments. Sie waren nicht unmittelbar erfolgreich. Die Mehrheit der großen Fraktion, die an der Demokratischen Beratung teilgenommen hatte, war für eine Teilnahme am Vorparlament man muss diese parlamentarischen Fraktionen im Auge behalten, daran pflegten mich Genossen zu erinnern, als ich bei einer Wahl kandidierte. Lenin verlangte zu wissen: Wer war denn überhaupt die Parlamentsfraktion, dass sie diese Fragen entscheiden konnte? Er befand sich, trotz der relativ begrenzten Tragweite der Frage, auf dem Kriegspfad, denn es war ein weiterer Versuch der rechten Führer in der Partei, diese auf den Weg der Vollendung der demokratischen Revolution zu führen. In Wirklichkeit ließ die Auseinandersetzung die Meinungsverschiedenheiten vom April wiederaufleben und löste die Meinungsverschiedenheiten vom Oktober aus. Tatsächlich gingen, wie Genosse George Foster hervorgehoben hat, die Differenzen mit Kamenjew und Sinowjew zurück auf das Jahr 1912.
[WIRD FORTGESETZT]