Spartakist Nr. 162

Frühjahr 2006

 

Frankreich: Arbeiter & Studenten zwingen Regierung in die Knie

Nein zu einer neuen Volksfront!

Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

10. April: Nach mehr als zwei Monaten von Massenprotesten, Universitätsbesetzungen und weitflächigen Streiks erklärte heute der französische Präsident Jacques Chirac, dass die Regierung das Gesetz über den Erstanstellungsvertrag (CPE) zurückzieht, das er am 31. März mit seiner Unterschrift rechtskräftig gemacht hatte. Das CPE legte für Arbeiter, die jünger als 26 Jahre sind, eine Probezeit von zwei Jahren fest, in der sie ohne Grund hätten gefeuert werden können, was die Jobsicherheit und hart erkämpfte Gewerkschaftsrechte für alle Arbeiter, besonders Minderheiten, gefährdet hätte.

Die Rücknahme des CPE ist ein Sieg. Die Regierung ist extrem geschwächt, und das könnte den Weg frei machen für mehr Klassenkampf gegen die Angriffe der Kapitalisten in Frankreich. Viele Studierende wollen den Kampf fortsetzen, bis das ganze rassistische „Gesetz für Chancengleichheit“, von dem das CPE ein Bestandteil war, zurückgezogen wird sowie ein ähnliches Gesetz, das Arbeiter jeden Alters in Firmen mit weniger als 20 Beschäftigten betrifft.

Aber die Gewerkschaftsbürokraten sind glücklich darüber, den Kampf hierbei zu belassen, und haben keine weiteren Streiks zur Ünterstützung der studentischen Forderungen geplant, was praktisch sicherstellen würde, dass der Hauptteil der entworfenen Gesetze durchgesetzt wird. Selbst ohne CPE haben zwei Drittel der Jugendlichen ein Jahr nach Schulabschluss befristete Arbeitsverträge, und der jetzige „Sozialstaat“ in Frankreich heißt, dass man im Allgemeinen keine Festanstellung bekommt, bis man 28 Jahre alt ist. Der folgende Artikel wurde übersetzt aus Workers Vanguard Nr. 867, 31. März.

28. März – Die Proteste von Arbeitern und Studierenden, die Frankreich zur Zeit erschüttern, haben der französischen Bourgeoisie und der rechten Regierung von Präsident Jacques Chirac und Premierminister Dominique de Villepin die schärfste politische Krise seit Jahren beschert. Die Protestbewegung wurde provoziert durch den Versuch der Regierung, eine neue Maßnahme, den Erstanstellungsvertrag für Berufsanfänger (CPE), durchzusetzen, der jungen Arbeitern jegliche Arbeitsplatzsicherheit nimmt, und diese Proteste haben Arbeiter in der gesamten Europäischen Union elektrisiert. Das trifft besonders auf Deutschland zu, wo die Regierung auf ähnliche Weise versucht, die von der Arbeiterklasse durch jahrzehntelangen Kampf errungenen Löhne, Rechte und Sozialleistungen rückgängig zu machen.

In den sieben Wochen seit Beginn der Proteste wurden Dutzende von Universitäten im ganzen Land von Studierenden besetzt oder dichtgemacht. Die Bewegung breitete sich auf die Oberschulen des Landes und in den letzten Wochen auch auf die verfallenden Minderheiten-Ghettos in den Außenbezirken französischer Städte (Banlieues) aus. Von noch größerer Bedeutung ist, dass die Gewerkschaften bei den Protesten eine aktive Rolle gespielt haben. Die massive und sich weiterhin verschärfende Reaktion auf den CPE hat zu Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie geführt, auch zu Opposition gegen de Villepin innerhalb seiner eigenen Partei.

Heute waren in ganz Frankreich ungefähr drei Millionen Menschen auf der Straße. Es gab Streiks der Eisenbahner, der Arbeiter im Luftverkehr und im öffentlichen Nahverkehr in über 70 Städten. Die Mobilisierung der Lehrer war massiv, über 50 Prozent der Lehrer an Oberschulen streikte. Dies war die breiteste Streikmobilisierung seit Beginn des Kampfes gegen den CPE, sie betraf nicht nur den öffentlichen, sondern auch den privaten Sektor, darunter die Auto- und andere Metallindustrien, in deren Belegschaften Minderheiten sehr stark vertreten sind. Gleichzeitig waren die Streiks nur partiell, da beispielsweise der öffentliche Nahverkehr von Paris im Großen und Ganzen weiterhin funktionierte. Die Regierung antwortete auf die Mobilisierungen mit harter Hand, Bullen feuerten Tränengas auf Demonstranten und verhafteten mindestens 400 Leute. Gewerkschafts- und Studentenführer drohen mit weiteren Protesten gegen den CPE, die De-Villepin-Regierung aber zeigt keine Anzeichen eines Einlenkens.

Um die Protest- und Streikbewegung zu spalten und entgleisen zu lassen, haben Regierung und Presse versucht, Arbeiter und studentische Jugendliche gegen unterdrückte Minderheiten-Jugendliche aufzuhetzen, und eine Hysterie gegen „Gewalt“ durch „Casseurs“ (gewalttätige Randalierer) – ein rassistisches Kodewort für Ghetto-Jugendliche – hochgepeitscht. Die Wut der Ghetto-Jugendlichen angesichts unaufhörlicher Polizeirepression und wild wuchernder Diskriminierung explodierte letzten November in einem Massenaufruhr der Ghettos in ganz Frankreich. Die rassistische Hysterie gegen Ghetto-Jugendliche wird vom Staat und seinen Sprachrohren dazu benutzt, die blutige Gewalttätigkeit der Polizei vergessen zu machen. Cyril Ferez, ein Mitglied der Postgewerkschaft SUD-PTT, liegt im Koma, nachdem er im Verlauf von Gewerkschaftsdemonstrationen am 18. März von Einheiten der Bereitschaftspolizei verprügelt worden war. Ein weiterer Demonstrant erlitt ebenfalls ein Schädeltrauma durch Polizeigewalt. Bei der Pariser Demonstration vom 28. März trug die SUD-Gewerkschaftsföderation ein Banner gegen Repression zu Ehren von Cyril Ferez und führte die Gewerkschaftskontingente an.

Eine „Atmosphäre von Manipulation“, wie ein französischer Ausdruck sagt, umgibt die Anti-Casseur-Hysterie. Eine der schlimmsten Randale, die angeblich von „Casseurs“ begangen wurden, ereignete sich in St. Denis zur selben Zeit, als Vertreter der Linken eine Volksabstimmung darüber planten, dass Immigranten bei Kommunalwahlen ein Wahlrecht haben sollten. Die Polizei gibt zu, dass sie Zivilbullen zur Infiltrierung von Studentenprotesten einsetzt, angeblich um „gewalttätige“ Elemente aus dem Verkehr zu ziehen. Indessen griffen am 14. März in der Nähe der Sorbonne, unter den schützenden Augen der CRS-Bereitschaftspolizei, Faschisten der Front National und anderer Gruppen, mit Metallstangen bewaffnet, protestierende Studierende an.

Vom Beginn der Anti-CPE-Proteste an haben unsere Genossen der Ligue trotskyste de France (LTF) bei Demonstrationen, Studentenversammlungen und Gewerkschaftsmobilisierungen interveniert und betont, wie dringend notwendig es ist, dass die Arbeiterbewegung und die protestierenden Studenten die Sache der Armen im Ghetto zu ihrer eigenen machen. Doch die Gewerkschaftsirreführer, die reformistischen Parteien der Kommunisten (PCF) und Sozialisten (PS) und die „extreme Linke“, die ihnen nachläuft, haben bei dem rassistischen Angriff Beihilfe geleistet. Es war genauso, wie ein Extrablatt von Le Bolchévik vom 15. März betonte: „Tatsächlich ermutigte gerade ihre Unterstützung der Regierung gegen die Revolte der Ghetto-Jugend de Villepin dazu, im Januar seinen CPE und sein ,Chancenungleichheits‘-Gesetz vorzulegen“ (siehe „Französische Trotzkisten sagen: Nieder mit dem rassistischen ,Erstanstellungs‘-Gesetz! Verteidigt die Ghetto-Jugendlichen!“, Seite 26). Jetzt beteiligen sich die Reformisten am Zetergeschrei gegen „Casseur-Gewalt“, und einige Protestorganisatoren haben kriminellerweise sogar die rassistischen Bullen dazu aufgerufen, Ghetto-Jugendliche aus den Demonstrationen hinauszuwerfen.

Bei der heutigen Pariser Demonstration bildeten viele Blöcke durch festes Unterhaken Ketten, um Jugendliche aus den Banlieues fernzuhalten. Es gab Vorfälle, wo Zivilbullen Jugendliche auf dem Bürgersteig davon abhielten, sich den Demonstranten auf der Straße zu nähern. Die mit der Sozialistischen Partei verbundene CFDT-Gewerkschaftsföderation verkündete über Lautsprecher ihre Ablehnung von Gewalt und ihre Absicht, gegen „Randalierer“ vorzugehen, die versuchen könnten, die Demonstration zu stören. Die LTF intervenierte in Paris und Rouen bei den heutigen Demonstrationen in Opposition zu der Kampagne gegen Ghetto-Jugendliche, wir verkauften mehr als 150 Exemplare von Le Bolchévik und verteilten Tausende Exemplare unseres Extrablatts vom 15. März.

Das Gesetz der Regierung zum Erstanstellungsvertrag schafft ein landesweites zweistufiges System, das neu eingestellte Jugendliche zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, die zwei Jahre lang keinen Kündigungsschutz haben. Der CPE ist ein Angriff auf die gesamte Arbeiterbewegung, da die Bourgeoisie versucht, Jugendliche, die um ihre Zukunft bangen – die Arbeitslosigkeit in Frankreich für 18- bis 25-jährige liegt bei über 20 Prozent –, dazu zu benutzen, die Löhne und Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter in den Keller zu treiben.

Insbesondere richtet sich der CPE gegen Minderheiten-Jugendliche in den Banlieues, die Opfer von Bullenterror, Diskriminierung und Massenarbeitslosigkeit sind (48 Prozent nach der letzten Erhebung). Der CPE ist ein Zusatz zu dem so genannten „Chancengleichheitsgesetz“, das als direkte Antwort auf die Rebellion der Ghetto-Jugend im letzten Herbst verabschiedet wurde (siehe: „Frankreich: Freiheit für die verhafteten Jugendlichen! Rassistische Bullen provozierten massive Jugendrevolte“, Spartakist Nr. 161, Winter 2005/2006). Dieses Gesetz legalisiert Nachtarbeit für Fünfzehnjährige und erlaubt den Antritt einer Lehre ab dem Alter von 14 Jahren, womit Frankreich und Serbien die einzigen beiden Länder in Europa sind, in denen keine Schulpflicht bis zum Alter von 15 Jahren gilt. Frankreichs Minderheiten-Jugendliche, von den rassistischen kapitalistischen Medien hartnäckig als „Immigranten“ bezeichnet, sind zum größten Teil französische Staatsbürger, geboren und/oder aufgewachsen in Frankreich. Sie sind die Kinder und Enkel von immigrierten Arbeitern, die in den 60er- und 70er-Jahren aus den Ländern des ehemaligen französischen Kolonialreichs kamen, vor allem aus Nordafrika, und in jüngerer Zeit aus Westafrika. Die LTF fordert volle Staatsbürgerrechte für alle, die es nach Frankreich geschafft haben, einschließlich der Immigranten ohne Papiere und der Asylsuchenden!

Die reformistischen Führer der Arbeiterklasse, deren Blick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr gerichtet ist, wollen eine neue Volksfrontkoalition zusammenzimmern. Die Volksfront ist ein Bündnis der Klassenzusammenarbeit zwischen Massenparteien der Arbeiterklasse, wie PCF und PS, und bürgerlichen Parteien, wie den Grünen oder der Gruppierung um den Ultranationalisten Jean-Pierre Chevènement. Diese verräterische Politik ordnet die Arbeiterklasse dem Klassenfeind unter, untergräbt den Klassenkampf und demoralisiert das Proletariat.

Die multiethnische französische Arbeiterklasse kann gegen rassistische Angriffe mobilisiert werden. Am 9. November 2005 entwickelte sich in Bobigny, einer Arbeitervorstadt von Paris, eine Demonstration, zu der die Gewerkschaftsführer mit ökonomischen Forderungen aufgerufen hatten, stattdessen zu einem Protest gegen den rassistischen Bullenterror, mit dem die Ghettos überzogen wurden. An der Demonstration nahmen Arbeiter des Citroën-Autowerks in Aulnay-sous-Bois teil, wo die Belegschaft größtenteils aus Immigrantenfamilien stammt. Mehrere dieser Arbeiter wiesen darauf hin, dass es eine Verbindung gab zwischen der Entlassung von 500 Arbeitern mit Zeitverträgen im Monat davor und der Revolte in den Wohngebieten der Minderheiten in dieser Stadt.

Es könnte nicht deutlicher sein, dass der Kampf gegen die arbeiterfeindlichen Angriffe der Bosse die Verteidigung der Minderheitenbevölkerung gegen rassistischen Terror und Diskriminierung in den Mittelpunkt stellen muss und dass dies wiederum einen politischen Kampf gegen die Parteien der Volksfront erfordert. Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel dafür gab es auf einer Studentenversammlung am 24. März in Rouen, als unsere Genossen eine Resolution einbrachten, die dazu aufrief, „Sofortige Freilassung aller verhafteten Studierenden und Banlieue-Jugendlichen! Weg mit allen Anklagen!“ Dieser Antrag wurde anfangs vom Großteil der auf der Versammlung anwesenden 150 Studierenden positiv aufgenommen. Dann sprang die „extreme Linke“ als kämpfende Avantgarde der rassistischen Volksfront ein und stellte sicher, dass diese elementare Erklärung der Einheit zwischen Studierenden und Ghetto-Jugendlichen eine Abfuhr erhielt.

Ein Sprecher der Gauche révolutionnaire (GR), verbunden mit Peter Taaffes in Britannien beheimatetem Committee for a Workers International (CWI) – Sozialistische Alternative (SAV) in Deutschland –, rief die Studierenden dazu auf, sich um die Unterstützung der Polizei für die Forderung nach Freilassung der Verhafteten zu bemühen. Dies spiegelte die berüchtigte Position des CWI wider, dass die Bullen der Bosse „Arbeiter in Uniform“ seien. Der Aufruf von GR war der Prolog für den Auftritt eines Sprechers der Studentenvereinigung UNEF, die von der PS und Alain Krivines Ligue communiste révolutionnaire unterstützt wird. Unverhohlen verteidigte er die Bullen, sie hätten nur ihren Job getan, als sie „Casseurs“ verhafteten. Ein Gegenantrag, der es vermied, die Jugendlichen aus den Banlieues ausdrücklich zu verteidigen, wurde mit Unterstützung der gesamten „extremen Linken“, einschließlich einiger der anwesenden Anarchisten, angenommen.

Einige dieser Anarchisten gaben später gegenüber unseren Genossen zu, sie hätten einen Fehler begangen, als sie unseren Antrag nicht unterstützt hatten. Auf einer Studentenversammlung am 27. März in Rouen wurde eine von unseren Genossen initiierte Resolution verabschiedet, die den Ausschluss der Polizei aus den Protesten und „Bullen raus aus den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung!“ forderte.

Auf einer Studentenversammlung im Pariser Vorort St. Denis am 24. März, wo unsere Genossen ebenfalls für die Verteidigung der Banlieue-Jugendlichen eintraten, verteidigte ein Sprecher von Lutte ouvrière (LO) ausdrücklich den Einsatz von Schlägertrupps, um „Casseurs“ gewaltsam von den Demonstrationen auszuschließen. Unsere Genossen hatten scharfe politische Auseinandersetzungen mit den Anarchisten und Sozialdemokraten über unsere Verteidigung der Russischen Revolution von 1917, deren letztendlicher Sturz 1991/92 den Weg ebnete für die heutigen Angriffe gegen die Arbeiterklasse und gegen Immigranten.

Rassistische Angriffe auf Minderheiten sind ein Markenzeichen der Volksfront, da sie kapitalistische Austeritätspolitik gegen die Arbeiterklasse durchsetzt. Das Vigipirate-Programm, rassistischer Bullenterror in den Ghettos, wurde von der Volksfrontregierung unter Präsident François Mitterrand in der Vorbereitungsphase zum Golfkrieg 1991 eingeführt. Im Herbst 1998, als eine wachsende Bewegung von Schülern mehr Lehrer forderte und gegen die miserablen Bedingungen an ihren Schulen protestierte, antwortete die vom sozialistischen Premierminister Lionel Jospin geführte Volksfrontregierung mit der Entfesselung von Polizeiterror gegen Minderheiten-Jugendliche. In dem von der Regierung Jospin vorgeschlagenen „Sofortmaßnahmenprogramm“ war auch die Schaffung von 10 000 Fünfjahres-Arbeitsverträgen für „Jugendjobs“ vorgesehen, spezielle Verträge, unter denen Jugendliche zu Hungerlöhnen und ohne Weiterbeschäftigungsgarantie arbeiten sollten.

Damals wie heute gehörte die LTF zu den Wenigen in der französischen Linken, die für die Verteidigung der Hunderten von Jugendlichen eintraten, die der Polizei auf Demonstrationen oder bei willkürlichen Personenkontrollen ins Netz geraten waren. Wie die LTF in „,Casseurs: Kodewort für rassistischen Terror – Nur Arbeiterrevolution kann Jugendlichen eine Zukunft geben!“ (Le Bolchévik Nr. 148, Winter 1998/99) schrieb:

„In ganz Frankreich haben die Bullen Jugendliche aus den Minderheitenghettos gewalttätig angegriffen, sie benutzen dabei das rassistische Kodewort ,Casseurs‘. Dieses Kodewort ist eine echte Lizenz zum Töten und richtet sich gegen Jugendliche aus Immigrantenfamilien...

Die kapitalistische PS-PCF-Regierung, das Exekutivkomitee der Bourgeoisie, versucht Jugendliche der Minderheitenghettos in den Vorstädten gegen die kleinbürgerlichen und bürgerlichen Jugendlichen der weißen Stadtzentren auszuspielen. Die Regierung setzt Rassismus ein, um letztere in ihrer Tendenz zu bestärken, Bildung für die Privilegierten zu verteidigen, und versucht sie davon abzubringen, für Bildung für alle zu kämpfen.“

Während in Frankreich die Proteste weitergehen, wird Deutschland seit zwei Monaten von einer andauernden Welle von Streiks der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ver.di, überrollt. Die Streiks richten sich gegen Pläne, Zulagen zu kürzen und die Wochenarbeitszeit von 38,5 auf mindestens 40 Stunden zu verlängern. Darüber hinaus will die gegenwärtige Koalitionsregierung aus Christdemokraten und Sozialdemokraten das Gesetz, das Arbeiter gegen willkürliche Kündigungen schützt, außer Kraft setzen und eine zweijährige Probezeit für alle Neueinstellungen einführen. Arbeiter in ganz Deutschland schauen auf die Ereignisse in Frankreich. Viele sagen, man müsse „französische Methoden“ gegen die Bosse anwenden, obgleich das aus dem Munde der Gewerkschaftsspitzen einfach nur eine Warnung an die Regierung ist, einem Abschluss zuzustimmen oder aber wachsende soziale Unruhen in Kauf zu nehmen. Die Chefin von ver.di in Baden-Württemberg, einer Hochburg des Streiks im öffentlichen Dienst, erklärte in einer Solidaritätserklärung an die französischen Arbeiter und Studierenden: „Unsere Gegner arbeiten längst zusammen. Tun wir es ihnen gleich!“

In ganz Westeuropa sind die kapitalistischen Regierungen fest entschlossen, die Überreste des so genannten „Sozialstaats“ zu beseitigen, jene sozialen Maßnahmen, die hauptsächlich während des antisowjetischen Kalten Kriegs nach dem Zweiten Weltkrieg von den Bourgeoisien eingeführt worden waren aus Furcht vor dem Gespenst einer sozialen Revolution. Als Folge der kapitalistischen Konterrevolution in der Sowjetunion und in Osteuropa 1989–92 starteten die Herrscher der Europäischen Union (EU) einen allumfassenden Angriff auf die Arbeiterbewegung mit dem Ziel, die Profitrate hochzuschrauben, um effektiver mit ihren imperialistischen Rivalen, insbesondere der „Supermacht“ USA, konkurrieren zu können. In allererster Line bedeutete das rassistischen Terror und andere Angriffe auf Immigranten, Asylsuchende und die unterdrückten Bevölkerungsminderheiten, in Deutschland vor allem von türkischer und kurdischer Abstammung und in Frankreich von schwarzafrikanischer und nordafrikanischer Abstammung. Gleichzeitig haben diese Arbeiter, die Minderheiten angehören, als Teil des Proletariats eine bedeutende soziale Macht und haben in den letzten Jahren bei zahlreichen Kämpfen gegen die Angriffe der Bosse große Kampfbereitschaft bewiesen. Solange jedoch solche Kämpfe in die Sackgasse der Klassenzusammenarbeit und neuer Volksfrontregierungen gelenkt werden, werden sich die Angriffe der Herrschenden nur weiter fortsetzen und vervielfachen.

Entgegen dem Appell der Reformisten für ein kapitalistisches „soziales Europa“ rufen wir zu proletarischen Revolutionen auf, um die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa zu errichten. Als es 1995 in Frankreich zu massiven Streiks im öffentlichen Sektor kam, warnten wir vor den Reformisten, die „vorgeben, den Arbeitern eine Führung zu geben, nur um ihre Kämpfe abzuwürgen und auf Wahlen umzulenken“ („Für eine neue Führung, eine revolutionäre Führung!“, Extrablatt vom 4. Dezember 1995 zum Le Bolchévik, abgedruckt in Spartakist Nr. 121, Januar/Februar 1996). In der Tat wurden die kämpferischen Streiks 1995 von reformistischen Irreführern zum Scheitern gebracht und dazu benutzt, die rassistische und gegen die Arbeiterklasse gerichtete Jospin-Volksfront an die Macht zu bringen. Unsere Warnung ist heute ganz genauso gültig. Notwendig ist vor allem die Schmiedung revolutionärer Arbeiterparteien, die sich der völligen und bedingungslosen politischen Unabhängigkeit des Proletariats verschrieben haben. Diejenigen, die arbeiten, müssen herrschen!