Spartakist Nr. 162

Frühjahr 2006

 

Französische Trotzkisten sagen:

Nieder mit dem rassistischen „Erstanstellungs“-Gesetz!

Verteidigt die Jugendlichen der Banlieues!

Nachfolgend drucken wir das übersetzte Flugblatt unserer Genossen der Ligue trotskyste de France vom 15. März.

Staatliche Repression und Einschüchterung von Demonstranten, die gegen den Erstanstellungsvertrag (CPE) protestieren, nehmen täglich zu, immer mehr Leute werden verhaftet. Sofortige Freilassung aller Demonstranten! Alle Anklagen müssen fallengelassen werden! Die Bullen-Bereitschaftseinheiten traktieren Studierende mit Tränengas und verprügeln sie genauso, wie der Staat im letzten November mit den Jugendlichen schwarzafrikanischer und nordafrikanischer Abstammung aus den Arbeitervierteln verfuhr, die gegen die tägliche rassistische Unterdrückung und gegen die Tötung zweier Jugendlicher durch die Bullen protestierten, die vor einer Polizeikontrolle in Clichy-sous-Bois geflohen waren. Auch für diese Jugendlichen fordern wir, sie sofort freizulassen und alle Anklagen gegen sie fallenzulassen!

Der CPE würde Arbeitern ein Zwei-Stufen-System auferlegen, mit einer zweijährigen Probezeit für die unter 26-jährigen. Junge Arbeiter, egal welcher sozialen oder ethnischen Herkunft, werden der Gnade ihrer Bosse ausgeliefert sein: Sollten sie bloß einmal Überstunden ablehnen, sollten sie bloß einmal streiken oder einmal im Gespräch mit einem Gewerkschaftsaktivisten gesehen werden, sollten sie schwanger werden usw., wird man ihnen wahrscheinlich die Tür weisen. Falls der Angriff gelingt, wird er auf alle Arbeiter ausgedehnt werden, um Entlassungen zu erleichtern. Diese Maßnahme zielt darauf ab, die Arbeiterbewegung noch mehr zu schwächen und neue Angriffe auf alle Arbeiter vorzubereiten. Aus diesem Grund ist es im direkten Interesse der gesamten Arbeiterklasse, diesen neuerlichen Angriff zurückzuschlagen.

Unmittelbare Zielscheibe des CPE sind die Ghetto-Jugendlichen aus den Vorstädten, die ohnehin schon mit hoher Arbeitslosigkeit, permanenter rassistischer Ausgrenzung bei Einstellungen, im Schulwesen und bei der Wohnungssuche zu kämpfen haben und die unaufhörlich von den Bullen schikaniert werden. Das so genannte „Chancengleichheits“-Gesetz, wovon der CPE nur ein Bestandteil ist, sieht auch vor, Familienbeihilfen für Eltern auszusetzen oder gar zu streichen, wenn deren Kinder die Schule schwänzen oder „wenn irgendeine andere durch unzureichende elterliche Autorität bedingte Schwierigkeit auftritt“. Mit anderen Worten, dieses Gesetz trifft die ärmsten Schichten der Bevölkerung, insbesondere Arbeiterfamilien, und ganz speziell die Familien von Alleinerziehenden mit Immigrantenherkunft. Genau das sagte Premierminister Dominique de Villepin bei seinem Fernseh-Interview am 12. März, er versuchte dadurch, die Studierenden zu beschwichtigen und ganz allgemein die Jugendlichen zu spalten, er sagte, dass diese Maßnahme auf die arbeitslose Ghetto-Jugend abziele und dass (weiße) Studierende mit ihren Qualifikationen weiterhin (?!) dauerhafte Anstellungen bekommen würden. Nieder mit dem CPE! Nieder mit dem rassistischen „Chancengleichheits“-Gesetz! Nieder mit den rassistischen Vigipirate-Polizeikontrollen! Die Arbeiterbewegung muss die Ghetto-Jugendlichen verteidigen!

Der ganze Sinn des CPE ist die Untergrabung der Einheit der Arbeiterklasse durch Verschärfung der Differenzen zwischen Jung und Alt und zwischen dunkelhäutigen Jugendlichen nichteuropäischer Herkunft und denen europäischer Herkunft. Es ist ein Versuch, die Jugendlichen, insbesondere die aus den Ghettos, gegen die Gewerkschaften selbst auszuspielen. Um diesen Angriff zurückzuschlagen, muss die Arbeiterbewegung die engen Grenzen der Gewerkschaftspolitik überschreiten und ganz direkt der besonderen Unterdrückung von Immigranten und in Frankreich geborenen Jugendlichen nordafrikanischer und schwarzafrikanischer Herkunft entgegentreten. Die Arbeiterbewegung muss rassistische Ausgrenzung bei der Wohnungssuche, im Bildungswesen und bei den Einstellungen bekämpfen. Für die Aufteilung der gesamten Arbeit auf alle Arbeiter ohne Lohnverlust, mit unbefristeten Verträgen! Das kapitalistische System ist nicht nur unfähig, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, sondern es ist das System selbst, das eine Schicht von Dauerarbeitslosen hervorbringt, um die Ausbeutung aller Arbeiter zu verschärfen. Jeder ernsthafte Kampf in dieser Sache stellt die Frage des Sturzes des gesamten kapitalistischen Systems durch Arbeiterrevolution.

Die Gewerkschaftsführer und die Sozialdemokraten – vor allem die Sozialistische Partei (PS), aber auch die Kommunistische Partei (PCF) – widersetzen sich dem CPE, versuchen aber gleichzeitig Streikaktionen der Arbeiter zu bremsen. Aus diesem Grund wurde die zweite größere Gewerkschaftsmobilisierung auf den 18. März, einen Samstag, angesetzt. Doch damals im November rührten die gleichen Gewerkschaftsbürokraten keinen Finger zur Verteidigung der belagerten Jugendlichen in den Ghettos. Was die PS und die PCF betrifft, so riefen sie auf dem Höhepunkt der Revolte den bürgerlichen Staat dazu auf, die „Ordnung wiederherzustellen“, wobei die PS sogar den „Ausnahmezustand“ offen unterstützte zur Verteidigung „ihrer“ Republik. Wenn also jetzt diese gleichen Irreführer zornig die gegen die Jugend gerichteten Angriffe von Innenminister Nicolas Sarkozy und de Villepin und den Einsatz von Bereitschaftspolizei gegen protestierende Studierende durch die Regierung anprangern, dann unterstreicht dies nur ein weiteres Mal ihre enorme Scheinheiligkeit und ihren enormen Opportunismus und ihre beschwichtigende Haltung gegenüber rassistischer Unterdrückung. Tatsächlich ermutigte gerade ihre Unterstützung der Regierung gegen die Revolte der Ghetto-Jugend de Villepin dazu, im Januar seinen CPE und sein „Chancenungleichheits“-Gesetz vorzulegen.

Hinter dem Anti-CPE-Radikalismus der sozialdemokratischen Führer stecken natürlich ihre Wahlambitionen für 2007. Sie sehen endlich eine Möglichkeit, die Erinnerung an PS-Premierminister Lionel Jospins „Plurale Linke“ zu tilgen, die vorherige Volksfrontregierung (eine Regierung aus PS und PCF zusammen mit kleinen bürgerlichen Parteien wie den Chevènement-Leuten, den Linken Radikalen und den Grünen). Es war Jospins „Plurale Linke“, die letztes Mal ihre eigene Sorte von Niedriglohnjobs für Jugendliche eingeführt hat, die die Universitäts„reform“ in Kraft setzte und die rassistischen Vigipirate-Personenkontrollen wieder aufnahm. Die Sozialdemokraten, insbesondere die PCF, gehen mit der Lüge hausieren, dass sie angeblich ihre Lektion gelernt haben und dass sie sich, sollten sie gewählt werden, aktiv für die Interessen der Arbeiter und Immigranten und Jugendlichen einsetzen würden. Doch das kapitalistische System zu regieren bedeutet in erster Linie, die Interessen der „eigenen“ Bourgeoisie und deren Profitrate gegen ausländische kapitalistische Rivalen zu verteidigen – was verstärkte Ausbeutung der Arbeiter und verschärfte Unterdrückung im eigenen Land, in den Ex-Kolonien, in Osteuropa und darüber hinaus bedeutet.

Die Studierenden müssen sich der Arbeiterklasse zuwenden. Sie sollten den Anti-CPE-Erklärungen einiger Universitätspräsidenten, die entsprechend Minister-Weisungen Budgets kürzen, Arbeiter entlassen und die Cafeterias und die Gebäudereinigung privatisieren, nicht vertrauen; sie mieten Sicherheitsleute an und rufen die Bullen usw. Die potentiellen Verbündeten der Studierenden an der Universität sind nicht die Universitätspräsidenten, die die Kapitalisten repräsentieren, sondern Universitätsarbeiter und -lehrer. Der Kapitalismus ist kein Politikbaukasten, aus dem sich seine Herrscher nach Gutdünken etwas heraussuchen können; es ist ein System, das in der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere wurzelt, und die herrschende Klasse setzt ihre Bereitschaftspolizei, ihre Gerichte und Gefängnisse ein, um den Erhalt dieser Machtverhältnisse zu sichern. Die Rolle der Universitäten besteht darin, die nächste Generation von Ideologen und Entscheidungsträgern auszubilden, die das kapitalistische System führen sollen. Studierende haben die Wahl, sich entweder anzupassen – oder sich der Sache der sozialistischen Revolution anzuschließen.

Der CPE ist der jüngste in einer ganzen Reihe von Angriffen gegen Arbeiter und Jugendliche und er muss zurückgeschlagen werden. Doch selbst dann würden die Kapitalisten mit neuen Angriffen wieder in die Offensive gehen. Um ein für alle Mal mit derartigen „Flexibilisierungs“maßnahmen Schluss zu machen, die im Wesen des Kapitalismus liegen, muss man das System selbst zerstören. Wir kämpfen für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei – multiethnisch und internationalistisch –, deren Ziel es ist, die Arbeiterklasse in einer sozialistischen Revolution zu führen. Und das bedeutet einen Kampf gegen die Politik derer – darunter die vielen Studentenaktivisten in der Kommunistischen Jugend und der Studentenföderation UNEF –, die heute ihre „Kampf-gegen-Rechts“-Rhetorik von sich geben, nur um morgen einer weiteren kapitalistischen Volksfrontregierung unter Führung von PS und PCF den Weg zu ebnen.

Im Mai ’68 entfachten die Aktionen der Studierenden einen dreiwöchigen Arbeitergeneralstreik, der Millionen von Arbeitern auf die Straße mobilisierte, aber auch, vor allem wichtig, zu Fabrikbesetzungen. Es waren diese Streiks und Fabrikbesetzungen, die der herrschenden Klasse nicht nur hier in Frankreich, sondern weltweit einen Schock versetzte. Doch da es keine revolutionäre Partei gab, wurden die Streiks demobilisiert und verraten, vor allem von der stalinistischen Kommunistischen Partei, die es dank ihres Einflusses innerhalb der Arbeiterklasse schließlich fertig brachte, die Haut der französischen Bourgeoisie zu retten.

Doch heute ist nicht 1968. Jetzt, nach der Zerstörung des sowjetischen degenerierten Arbeiterstaates 1991/92, verschärfen die Kapitalisten weltweit ihre Offensive zur Vernichtung der Errungenschaften der Arbeiter, einschließlich der durch den Mai ’68 erreichten, wobei der CPE nur ein Vorstoß ist im Rahmen des Generalangriffs, den die französischen Kapitalisten durchführen, um im Vergleich zu ihren Rivalen ihre Profitrate zu steigern. Die Konterrevolution in der ehemaligen UdSSR brachte eine enorme politische Demoralisierung der Arbeiter mit sich, in Frankreich noch verschärft durch die Jahre kapitalistischer Austeritätsregierungen unter der Führung von Volksfronten (Mitterrand, Jospin), so dass die Arbeiterklasse gegenwärtig den revolutionären Sozialismus nicht als mögliche Alternative zum Kapitalismus ansieht.

Nicht der Kommunismus, sondern seine Parodie, der Stalinismus, war in einer Sackgasse gelandet. Trotz ihrer stalinistischen Degeneration verteidigten wir die Sowjetunion gegen Imperialismus und Konterrevolution; wir kämpften für eine proletarisch-politische Revolution, um die stalinistische Bürokratie zu stürzen. Zum Beispiel warfen wir in Ostdeutschland Ende 1989 und Anfang 1990 alle unsere Kräfte in den Kampf für ein rotes Rätedeutschland, in Ost- und Westdeutschland, und gegen eine kapitalistische Wiedervereinigung. Dies war das genaue Gegenteil der Rolle, die die so genannten „Linken“ der Ligue communiste révolutionnaire (LCR), Lutte ouvrière (LO) usw. spielten, die die Konterrevolution unterstützten und die jetzt über den CPE und andere Folgen der kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion jammern.

Um den Teufelskreis aufeinander folgender kapitalistischer Regierungen der Rechten und der Volksfront zu durchbrechen, ist es notwendig, mit den Reformisten zu brechen und diese Verräter zu entlarven. Stattdessen verbringt die so genannte „extreme Linke“ ihre Zeit mit Versuchen, gemeinsame Treffen und andere vorbehaltlose Vorschläge einer „Einheit im Kampf“ mit Leuten wie PS-Chef Hollande und PCF-Chef Buffet zu organisieren. Am 11. März, gleich nach dem Bullenangriff auf die Sorbonne, appellierte LCR-Führer Besancenot erneut an eben diese Kräfte: „Die gegen den CPE mobilisierten Jugendlichen brauchen die Hilfe und die Solidarität aller Kräfte der Linken, vor allem gegen die Anmaßung und Unnachgiebigkeit der Regierung. Wir schlagen ein Treffen zum frühest möglichen Zeitpunkt vor, um eine vereinte Gegenwehr gegen diese jüngsten Regierungsangriffe vorzubereiten.“ Die kriecherische Anbiederung der LCR an die PS und andere „linke Kräfte“ wie die bürgerlichen Chevènement-Leute, in der Hoffnung, sie kämpferischer zu machen, kann nur die schlimmsten Illusionen der Arbeiterklasse und militanter Jugendlicher in die sozialdemokratischen Verräter stärken und deren Ambitionen, aus der Anti-CPE-Kampagne Kapital zu schlagen für die Wahlen 2007, ein linkes Mäntelchen umhängen. Der Preis, den die LCR für ihre Appelle zur Einheit mit PS & Co. zahlt, ist das Totschweigen des rassistischen Charakters des „Chancenungleichheitsgesetzes“ und der Tatsache, dass dieses sich vor allem gegen Ghetto-Jugendliche aus Immigranten- und Arbeiterfamilien richtet.

Heute arbeitet die LCR auf die nächste PS-PCF-Regierung hin, doch im April/Mai 2002 setzten sie ihren Einfluss bei den gewaltigen multiethnischen Demonstrationen von Jugendlichen gegen den faschistischen Demagogen Le Pen dazu ein, zur Stimmabgabe für Präsident Chirac aufzurufen. So tragen sie einen Teil der Verantwortung für diese reaktionäre rechte Regierung. LO widersetzte sich einer Stimmabgabe für Chirac, aber ihre Unterstützung für das rassistische Gesetz gegen das Kopftuch und ihre beschränkte ökonomistische Intervention in der Arbeiterklasse erleichtert die Angriffe von Chirac, de Villepin und Sarkozy. Diese reformistischen Organisationen können nicht gegen rassistische Unterdrückung kämpfen, geschweige denn die Arbeiterklasse zu ihrer sozialen Emanzipation führen, denn ihre gesamte Perspektive basiert auf Klassenzusammenarbeit.