Spartakist Nummer 158

Frühjahr 2005

„Kollektivshuld“–Prediger rechtfertigen Kriegsverbrechen:

Deutscher Nationalismus und die Bombardierung Dresdens

Der 60. Jahrestag der Bombardierung Dresdens hat das ganze Land polarisiert, wobei die Frage nach dem Umgang mit den NPD-Nazis dominierte. Für den 21. Januar hatte die NPD zynisch eine Gedenkminute im sächsischen Landtag für die Opfer der Bombardierung Dresdens beantragt. Danach ließen die Nazi-Abgeordneten revanchistische Hetzreden los, in denen sie versuchten, die Opfer der Dresdner Bombardierung für ihr Völkermordprogramm zu instrumentalisieren, und redeten von einem „Bomben-Holocaust“. Dem hatten die sozialdemokratische PDS und die SPD sowie die kleinbürgerlichen Grünen nichts entgegenzusetzen. Spiegel online (11. Februar) titelte „Aufstand der Ratlosen“ und erklärte: „Sie [die Nazis] haben ihre Terminologie modernisiert. Der Holocaust wird nicht mehr geleugnet, er wird in die eigene Argumentation integriert. Statt, wie früher, zu sagen: Den Holocaust hat es nie gegeben, sagen sie nun: Der Holocaust galt den Deutschen. Wir waren nicht die Täter, wir waren die Opfer“. Der Grund für die bürgerlich-demokratische Ratlosigkeit besteht darin, dass Nazi-Revanchismus und liberale Kollektivschuld einander ergänzen. Denn ideologisch setzen beide die Bevölkerung mit den Naziherrschern und der deutschen Bourgeoisie gleich. Der Nazidemagogie vom „Opfervolk“ setzen die Liberalen die Kollektivschuldlüge vom „Tätervolk“ entgegen. Damit waschen die Liberalen die deutsche Bourgeoisie weiß und spielen der Nazidemagogie in die Hände.

Im Zweiten Weltkrieg haben wir Trotzkisten den sowjetischen degenerierten Arbeiterstaat bedingungslos militärisch verteidigt. Im Krieg zwischen den imperialistischen Mächten, also zwischen Deutschland und Japan auf der einen und USA und Britannien auf der anderen Seite, bezogen wir keine Seite, denn diese Mächte kämpften nur um die Neuaufteilung der Welt, um sie stärker ausbeuten zu können (siehe auch den Titelseitenartikel „SPD/Grüne/PDS – Volksfront für deutschen Imperialismus“ auf Seite 1). Die Strategie der alliierten Flächenbombardierung war bewusst und gezielt gegen die deutsche Arbeiterklasse gerichtet: „In seiner ,Area Bombing Directive‘ vom 14. Februar 1942 schrieb das [britische] Luftfahrtministerium als künftiges ,Hauptziel‘ des Bomber Command fest, durch Flächenbombardements ,die Moral der gegnerischen Zivilbevölkerung, insbesondere die der Industriearbeiterschaft‘, zu zerstören. Um Missverständnisse auszuschließen, fügte das Ministerium hinzu, ,dass die Zielpunkte die Siedlungsgebiete sein sollen und beispielsweise nicht Werften oder Luftfahrtindustrien. Dies muss ganz klar gemacht werden‘“ (Spiegel Special, Nr. 01/2003). Spätestens seit dem Sieg der Roten Armee bei Stalingrad Anfang 1943 war klar, dass der deutsche Imperialismus gegen die Sowjetunion verlieren würde. Eines der zentralen Motive für die Bombardierung der deutschen Arbeiterviertel war die Angst, dass die deutsche Arbeiterklasse den Kapitalismus stürzen könnte, so, wie sie es schon am Ende des Ersten Weltkriegs versucht hatte, nur diesmal zusammen mit einer siegreichen Roten Armee, und damit wäre Europa rot geworden. Die Rote Armee zu stoppen und Arbeiterrevolutionen zu verhindern waren auch die einzigen Gründe für die plötzliche Eile bei der Eröffnung der zweiten Front in der Normandie im Juni 1944. Vorher hatten es Churchill und Roosevelt gar nicht eilig, eine zweite Front zu eröffnen, wie sie es 1942 und erneut 1943 Stalin zugesichert hatten. Sie hofften, Deutschland und die Sowjetunion würden sich gegenseitig ausbluten, und sie wären dann die lachenden Dritten.

Tatsächlich wurden die Kohleverflüssigungsbetriebe, die den kriegswichtigen Sprit für Hitlers Panzer produzierten, bis 1944 kaum bombardiert. Der Spiegel schreibt:

„Auf Anlagen der Mineralölwirtschaft, die den Sprit für die durch Russland rasselnden Panzer produzierten, entfielen bis Mai 1944 nur 1,1 Prozent aller Bombenabwürfe. Vermutungen [warum das so war] reichen von dem Hinweis, dass ein Teil der Werke mit angloamerikanischem Kapital errichtet worden war, etwa der Standard Oil of New Jersey und der britischen Royal Dutch Shell, bis hin zu einer Überlegung des Berliner Historikers Groehler: Es habe im Interesse der Westalliierten gelegen, dass die deutschen Panzer an der Ostfront genug Kraftstoff haben, um die Russen möglichst lange vom Reichsgebiet fern zu halten – so lange jedenfalls, bis die angloamerikanischen Invasoren weit genug vorgerückt waren, um den kommunistischen Einfluss im Nachkriegseuropa begrenzen zu können.“

Groehler hat vollkommen Recht. Bezüglich der Bombardierung Dresdens wurde sogar explizit im Tagesbefehl der Royal Air Force erklärt, dass dies auch eine Warnung an „die Russen“ sein sollte: „Mit dem Angriff ist beabsichtigt, den Feind dort zu treffen, wo er es am meisten spüren wird. Hinter der teilweise schon zusammengebrochenen Front gilt es, die Stadt unbenutzbar zu machen und nebenbei den Russen, wenn sie einmarschieren, zu zeigen, was das Bomber Command leisten kann“ (Die Welt, 20. Februar 2004). Den gleichen Zweck, die Sowjetunion einzuschüchtern und die Arbeiterklasse zu demoralisieren, verfolgten die verbrecherischen Atombombenabwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945.

Der Dresdner Oberbürgermeister Ingolf Roßberg (FDP) benutzte die Argumentation des britischen Historikers Frederick Taylor, der Churchills Bombardierung Dresdens zwar als unmenschlich kritisiert, doch als militärisch durchaus gerechtfertigt hinstellt: „Dresden war im Februar 1945 das größte noch existierende Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie. Deshalb müssen wir uns von der Formel der ,unschuldigen Stadt‘ lösen.“ Nur zielte die Bombardierung Dresdens nicht auf die Rüstungsbetriebe, die am Stadtrand lagen, ab! Diese wurden auch kaum getroffen, was Taylor selber in seinem durchaus lesenswerten Buch „Dresden, 13. Februar 1945“ auch ehrlicherweise zugibt. Aufgrund günstiger Wetterbedingungen und absoluter Abwesenheit von Flak konnten die Bomber ihr Ziel, die Dresdner Innenstadt (wo kaum ein Betrieb, geschweige denn ein Rüstungsbetrieb stand), hervorragend ins Visier nehmen und fast 40 000 Dresdner Zivilisten und Flüchtlinge, vor allem Frauen, alte Menschen und Kinder ermorden. Dies war ein Kriegsverbrechen.

Ein Beitrag in der Frankfurter Rundschau rechtfertigt die Einäscherung Dresdens damit, dass einige der wenigen übrig gebliebenen Dresdner Juden so ihrer Deportation nach Auschwitz entgingen: „Rettendes Inferno – Der Untergang Dresdens im Februar 1945 bewahrte die 20 Jahre alte Henny Wolf vor dem Konzentrationslager“. Natürlich kann man sich über jeden einzelnen nur freuen, der der Nazivölkermordmaschine durch welche glücklichen Umstände auch immer lebend entkam. Henny Wolf hatte wahnsinniges Glück, nicht von einer britischen Bombe zerrissen oder vom Feuersturm erfasst zu werden. Im FR-Artikel wird das auch indirekt wiedergegeben: „Irgendwann mitten in der Nacht in einer engen Gasse erfasst der Sog des Feuers die Menschen. ,Meine Mutter schwebte plötzlich. Wir hielten uns alle an den Händen.‘“ Was der Artikel versucht zu verdecken, ist, dass das Schicksal der europäischen Juden den britischen und amerikanischen Alliierten völlig gleichgültig war.

Ein Spiegel-Interview (29. Oktober 2001) mit Gerhart Riegner, der 1942 den jüdischen Weltkongress vom Holocaust informierte, bringt die bittere Wahrheit über den US- und den britischen Imperialismus auf den Punkt:

„Riegner: Es fehlte der Wille zum Retten. Uns haben die Amerikaner im Juni 1944 gesagt, man könne Auschwitz nicht bombardieren. Das sei zu weit entfernt, die Flugzeuge würden den Rückweg nicht schaffen. Zur gleichen Zeit griffen Bomber jedoch mehrfach die Buna-Werke der I.G. Farben in Monowitz an, fünf Kilometer von Auschwitz entfernt. Warum hat man uns belogen?

Spiegel: Auch die anderen westlichen Regierungen waren kaum bereit, den Opfern zu helfen.

Riegner: Das stimmt, leider. Die meisten Länder hatten Angst, dass man ihnen die Juden auf den Hals schickt. Da war es ihnen lieber, sie wurden umgebracht, irgendwo weit weg. Das ist das Grauenhafteste von allem, aber so ist es gewesen.“

Tausende Dresdner strömten zum offiziellen Gedenken an die Opfer des Dresdner Feuersturms. Sie wollten ihrer Liebsten gedenken und Zehntausenden anderer, die unschuldig ermordet worden waren, und ein Zeichen setzen, dass so etwas nie wieder geschieht. Sie waren, wie Arbeiter und Immigranten in ganz Deutschland, wütend über die Naziprovokation, die gleichzeitig stattfand. Der Guardian (14. Februar) berichtet: „,Das ist ein schrecklicher Tag für Dresden – Ich bin wütend‘, sagte Ursula Hamann, 77, die in der Stadt lebte und den Angriff 1945 überlebte. ,Es ist traurig sehen zu müssen, dass so etwas wieder in Deutschland geschieht.‘ Edeltraud Krause sagte: ,Sieh sie dir an. Du musst dir nur ihre dummen Gesichter ansehen. Sie repräsentieren uns nicht.‘“ In Ergänzung des Naziaufmarschs mobilisierten die so genannten „Antideutschen“ gegen die Dresdner Bevölkerung und bejubelten zynisch die Einäscherung Dresdens: „No tears for Krauts“, „Bomber Harris – Do it again!“ („Keine Tränen für Krautfresser“, „Bomber Harris – mach’s noch mal!“) waren ihre Losungen. Diese Ex-Linken kauen die Kollektivschuld-Ideologie wider, wie sie von Fischer sowie einer ganzen Reihe gutbürgerlicher liberaler Feuilletonisten vertreten wird. So vom Historiker und Journalisten Götz Aly, der kürzlich einen Artikel mit dem unglaublichen Titel „Die Wohlfühl-Diktatur“ im Spiegel veröffentlichte. Der Artikel soll einen Vorgeschmack auf Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ geben und bringt den Zweck der Kollektivschuldlüge, die deutsche Bourgeoisie weißzuwaschen, auf den Punkt: „Wer die verbrecherische Dynamik des Nationalsozialismus verstehen will, sollte nicht länger auf Großbanken und Konzerne starren.“ Ein anderes Beispiel ist die weiter oben erwähnte Rechtfertigung der Einäscherung Dresdens in der Frankfurter Rundschau.

Tatsächlich sind die „Antideutschen“ kein Teil der Linken, sondern Fischers „Putztruppe“, die versucht, die Linke mit allen Mitteln zu zerstören und gegen Immigranten mit muslimischem Hintergrund zu hetzen. In ihrer „Solidarität mit Israel“ stehen die „Antideutschen“ ganz auf einer Linie mit dem Bundesaußenministerium. So führte Fischer bei seiner Gedenkrede vor der UN-Vollversammlung zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 24. Januar aus: „Das Existenzrecht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger wird immer unverhandelbare Grundposition deutscher Außenpolitik bleiben. Darauf wird sich Israel stets verlassen können.“ „Solidarität“ mit den zionistischen Herrschern Israels, die das palästinensische Volk blutig unterdrücken, hat nichts mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun. Wir verteidigen das enteignete und verelendete palästinensische Volk gegen den zionistischen Staatsterror. Gleichzeitig geben wir dem arabischen Nationalismus und dem islamischen Fundamentalismus kein Jota Unterstützung. Wir sind für das Selbstbestimmungsrecht sowohl der palästinensischen als auch der hebräisch-sprachigen Nation, auch wenn letzteres im Augenblick nicht bedroht ist. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es keine gerechte Lösung, wenn zwei Nationen, wie in Israel/Palästina, ein und dasselbe Territorium für sich beanspruchen. Nur eine Arbeiterrevolution im Nahen Osten, die die Scheichs und Obristen, die Mullahs und die zionistischen Herrscher hinwegfegt, kann die Grundlage für eine gerechte, demokratische Lösung der nationalen Frage schaffen. Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens! Während Fischer seine Krokodilstränen über Auschwitz in der UNO medienwirksam vergoss, beriet die deutsche Innenministerkonferenz darüber, wie man den Zuzug jüdischer Aussiedler aus der Ex-Sowjetunion stoppen könnte. Dabei wurden Schily & Co. von Israel unterstützt, dessen Herrscher darüber ausflippen, dass jüdische Flüchtlinge nicht nur lieber nach Deutschland als in die Todesfalle Israel auswandern wollen (was äußerst peinlich ist), sondern sogar aus Israel zurück nach Osteuropa auswandern, um von dort aus nach Deutschland oder in ein anderes Land, wo es sicherer ist, zu gelangen. Die jüdischen Flüchtlinge wollen berechtigter Weise nicht als Kanonenfutter für den rassistischen und langfristig gesehen selbstmörderischen Krieg der zionistischen Herrscher gegen die Palästinenser verheizt werden (siehe unser Flugblatt auf Seite 7 dieser Zeitung). Gegen den antisemitischen Einwanderungsstopp gegen osteuropäische Juden haben denn auch die „Antideutschen“ nichts weiter einzuwenden.

Wir haben 1998 in „Holocaust, ,Kollektivschuld‘ und deutscher Imperialismus“ geschrieben: „Nur leninistische Internationalisten, die dafür kämpfen, Leo Trotzkis Vierte Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution wiederzuschmieden, können die Lehren von Hitlers Aufstieg zur Macht ziehen und eine Strategie vorbringen, wie man die wachsende faschistische Gefahr heute zerschlägt. Das ist die Aufgabe der Internationalen Kommunistischen Liga und ihrer deutschen Sektion, der Spartakist-Arbeiterpartei (SpAD)“ (Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 20, Sommer 1998).