Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 29 |
Sommer 2013 |
Larissa Reissner über Trotzkis Rote Armee
Die Schlacht von Swijaschsk, legendäres Kapitel der Revolution
(Frauen und Revolution)
Nachfolgend drucken wir einen Augenzeugenbericht über die Schlacht von Swijaschsk und Kasan ab, die 1918 im ersten Jahr des Bürgerkriegs gegen die siegreiche Oktoberrevolution einen Wendepunkt darstellte. Dieser Bericht wurde um 1922 von der politischen Journalistin und Bolschewistin Larissa Reissner verfasst, die als Soldatin der Roten Armee an der Schlacht teilgenommen hatte. Eine deutsche Übersetzung von „Swijaschsk“ erschien bereits 1924 als Teil der Broschüre Die Front 1918–1919 im Verlag für Literatur und Politik, Wien. Wir drucken diese Version leicht angepasst an die neue Rechtschreibung ab. Die Zwischenüberschriften entstammen der englischen Übersetzung der damals trotzkistischen Socialist Workers Party, die in ihrem theoretischen Organ Fourth International (Juni 1943) veröffentlicht wurde.
Inmitten der Verwüstungen des Ersten Weltkriegs sah sich der junge Arbeiterstaat 1918 einem konterrevolutionären Angriff von 14 imperialistischen und alliierten Armeen sowie diversen weißgardistischen Truppen gegenüber, die mit den vertriebenen Grundbesitzern und Kapitalisten gemeinsame Sache machten (siehe „Bürgerlicher Demokratismus kontra Oktoberrevolution“, Seite 4). Im Spätsommer wurde die Rote Armee unter Leo Trotzkis Führung beim Vorrücken auf Kasan, 800 Kilometer östlich von Moskau, an der Wolga in eine Schlacht verwickelt. Trotzkis berühmter Panzerzug, der als Kommandozentrale in Swijaschsk stationiert war, kam bei diesem Feldzug erstmals zum Einsatz. Zahlenmäßig weit unterlegen schlugen die Soldaten der Roten Armee die dort stationierten tschechoslowakischen Konterrevolutionäre durch reine revolutionäre Begeisterung, Heroismus und Selbstaufopferung zurück. Dieser Sieg ermöglichte die rasche Konzentration von Einheiten der Roten Armee, der Flotte und der Luftwaffe für die Einnahme Kasans, wo auch ein Arbeiteraufstand dazu beitrug, die Weißen zu verjagen. 1922 schrieb Trotzki über die Kämpfe:
„Aus einer schwankenden, unsteten, sich in Auflösung befindenden Masse wurde eine echte Armee geschaffen. Am 10. September 1918 nahmen wir Kasan ein und am folgenden Tag eroberten wir Simbirsk zurück. Dies war ein bedeutender Tag in der Geschichte der Roten Armee. Sofort spürten wir festen Boden unter unseren Füßen. Das waren nicht mehr unsere ersten hilflosen Versuche; von nun an konnten wir Siege erkämpfen.“
– „The Path of the Red Army“ [Der Weg der Roten Armee] (Mai 1922), The Military Writings and Speeches of Leon Trotsky: How the Revolution Armed, Bd. 1, New Park Publications, London 1979
Reissners anschauliche Schilderung erweckt diese Ereignisse wieder zum Leben.
Heroische Kommunistin
Larissa Reissner wurde 1895 als Kind einer Familie polnisch-russisch-deutscher Abstammung im polnischen Lublin geboren, das damals unter zaristischer Herrschaft stand. Ihre ersten Jahre verbrachte sie in der sibirischen Hauptstadt Tomsk, wo ihr Vater Michail eine Rechtsprofessur erhalten hatte. 1903 floh ihre Familie vor der zaristischen Unterdrückung nach Berlin, wo Larissa vier Jahre lebte. Im Exil lebende russische Revolutionäre und führende Mitglieder der SPD wie Karl Liebknecht gingen in ihrem Hause ein und aus. Larissas Vater war einige Jahre lang Mitglied der Bolschewiki. Nach ihrer Rückkehr nach Russland führte Larissa in St. Petersburg ein privilegiertes, aktives intellektuelles Leben, sie verkehrte in sozialistischen Kreisen und schrieb Artikel und literarische Essays.
Einige Monate nach der bolschewistischen Machteroberung trat Reissner den Bolschewiki bei und wurde zur ersten weiblichen Politkommissarin der Roten Armee. Fünf Jahre lang war sie mit dem Bolschewiken Fjodor Raskolnikow verheiratet, der im Juli 1917 den Matrosenaufstand von Kronstadt mit anleitete. Während der Belagerung von Kasan wurde Raskolnikow zum Kommandanten der Wolgaflotte ernannt. Reissner führte die Geheimdienstabteilung der Wolgaflotte und spezialisierte sich auf Spionagearbeit hinter den feindlichen Linien.
Wo auch immer Reissner hinkam, schrieb sie voller Leidenschaft über ihre Erfahrungen in der Revolution. In einem Nachruf nach ihrem Tod durch Typhus 1926 schrieb Karl Radek, der Lebensgefährte ihrer letzten Jahre: „Denn sie war nicht Künstler-Zuschauer, sondern Kämpfer und Künstler, der von innen den Kampf sah und seine Dynamik in menschlichen Schicksalen darstellen konnte“ (Larissa Reissner, Oktober – Ausgewählte Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Karl Radek, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1927).
Anfang und Mitte der 1920er-Jahre erschienen zahlreiche Sammlungen von Reissners Essays und Artikeln auf Russisch. Einige wurden auch auf Deutsch veröffentlicht, doch es gibt sehr wenig auf Englisch oder in anderen Sprachen. Zu ihren Büchern gehören Die Front, eine Sammlung ihrer Bürgerkriegsskizzen, aus der wir „Swijaschsk“ entnommen haben; Afghanistan, gestützt auf ihre Erlebnisse als Mitglied der sowjetischen diplomatischen Delegation am Hof des Emirs; sowie Kohle, Eisen und lebendige Menschen, Reportagen von ihren Reisen durch die Industriegebiete des jungen russischen Arbeiterstaates. Das Buch Hamburg auf den Barrikaden, Skizzen aus den Tagen der gescheiterten Revolution von 1923 in Deutschland (wo Reissner Kominternbeauftragte war), ist auf Englisch und Deutsch erhältlich.
Reissner erzählt über die vielen Heldentaten während der Schlacht von Swijaschsk. Auch sie selbst spielte eine bedeutende Rolle bei dem hart erkämpften Sieg. In seiner Autobiographie Mein Leben (1929) schrieb Trotzki über sie:
„Larissa Reißner, die Iwan Nikititsch [Smirnow] ,das Gewissen von Swjaschsk‘ nannte, nahm selbst einen bedeutenden Platz in der 5. Armee ein, wie in der Revolution überhaupt. Diese herrliche junge Frau, die so viele bezauberte, ist wie ein feuriger Meteor am Himmel der Revolution vorübergezogen. Mit dem Äußeren einer olympischen Göttin verband sie einen feinen ironischen Verstand und die Tapferkeit eines Kriegers. Nach der Einnahme Kasans durch die Weißen begab sie sich, wie eine Bäuerin gekleidet, in das feindliche Lager als Auskundschafterin. Aber ihr Äußeres war zu ungewöhnlich. Sie wurde verhaftet. Ein japanischer Kundschafteroffizier verhörte sie. Während einer Pause schlich sie sich aus der Tür, die schlecht bewacht war, und entkam. Seit der Zeit arbeitete sie in der Kundschafterabteilung. Später schwamm sie auf Kriegsschiffen und nahm an Kämpfen teil. Sie hat dem Bürgerkrieg Erzählungen gewidmet, die in der Literatur weiterleben werden. Mit gleicher Anschaulichkeit schilderte sie die Industrie des Urals wie den Aufstand der Ruhrarbeiter. Sie wollte alles wissen und kennenlernen, an allem teilnehmen. In wenigen Jahren wuchs sie zu einer erstklassigen Schriftstellerin empor. Unversehrt durch Feuer und Wasser hindurchgegangen, verbrannte diese Pallas der Revolution plötzlich an Typhus in der ruhigen Umgebung Moskaus, bevor sie ihr dreißigstes Lebensjahr erreicht hatte.“
Die Vision von Frauenbefreiung
Der junge Arbeiterstaat mobilisierte die Arbeiter- und Bauernmassen in einem politischen und militärischen Krieg zur Niederschlagung der imperialistischen Invasion und zur Verteidigung der proletarischen Revolution. Zehntausende Frauen, zum Teil angefeuert durch das bolschewistische Versprechen der Frauenbefreiung, gingen zum Militär und wurden Soldatin, Krankenschwester, Befehlshaberin und politische Leiterin. Sie waren solch begabte Kundschafterinnen, dass Lenin die Errichtung einer speziellen Schule anordnete, wo zahllose junge Frauen zur Spionage, Aufklärung und Sabotage hinter den Linien der Weißen ausgebildet wurden. Eine von ihnen war Warsenika Kasparowa, Leiterin der Agitationsabteilung des Büros der Militärkommissare im Bürgerkrieg, die wie viele andere zur Anhängerin von Trotzkis Linker Opposition wurde.
Grundlegend für die Zukunftsvision der Bolschewiki war die Einsicht, dass die Befreiung der Frauen mit dem Kampf für die Emanzipation des Proletariats als Ganzes untrennbar verbunden ist. Doch angesichts der schrecklichen Bedingungen im Bürgerkrieg und der kolossalen Armut und sozialen Rückständigkeit des überwiegend bäuerlichen Landes wurde die Entschlossenheit der Bolschewiki, die Frauen ins wirtschaftliche, soziale und politische Leben voll einzubeziehen, zu einer überwältigenden Herausforderung (siehe: „Russische Revolution und Emanzipation der Frauen“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 25, Frühjahr 2006). Lenin und die bolschewistische Partei wussten, dass die vollständige Befreiung der Frauen von der internationalen Ausweitung der sozialistischen Revolution abhing, der sich die 1919 gegründete Kommunistische Internationale verschrieben hatte.
Das Ausbleiben der internationalen Revolution erlaubte es einer Bürokratenschicht unter Stalins Führung, 1923/24 in einer politischen Konterrevolution die Macht an sich zu reißen. Viele der von Reissner beschriebenen Helden fielen Ende der 1930er-Jahre Stalins Säuberungen zum Opfer. Unter ihnen war Iwan Nikititsch Smirnow, der wie viele Opfer Stalins der Linken Opposition angehört hatte. Eine ganze Generation revolutionärer Kommunisten wurde zerschlagen, viele von ihnen hingerichtet. Reissners Schriften verschwanden in der Versenkung. Selbst als ihre Arbeiten 1958 unter Chruschtschow eine Neuauflage erfuhren, wurde „Swijaschsk“ mit seiner Darstellung von Trotzki als Führer der Roten Armee in diesem Band weggelassen.
So wie die stalinistische Bürokratie Lenins Partei ausradierte, so machte sie auch viele Errungenschaften der sowjetischen Frauen rückgängig. Doch der aufziehende stalinistische Thermidor konnte die Errungenschaften, die die Frauen durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erlangt hatten, nicht vollständig auslöschen. Die Konterrevolution von 1991/92 unter Boris Jelzin stieß die Werktätigen dann ins Elend und unterwarf sie erneuter Ausbeutung und kapitalistischer Unterdrückung. Die Internationale Kommunistische Liga hat sich die befreienden Ziele des Kommunismus, die im Bürgerkrieg so viel Heroismus und Opferbereitschaft hervorbrachten, zu eigen gemacht und kämpft für neue Oktoberrevolutionen weltweit.
Aus den Archiven des Marxismus
Swijaschsk
von Larissa Reissner
Wenn zwei Genossen, die 1918 zusammen gearbeitet, dann mit den Tschechoslowaken bei Kasan, dann auf dem Ural oder bei Ssamara und Zarizyn gekämpft haben, sich nach langen Jahren wiedersehen, dann wird der eine es nach einigen Fragen gewiss nicht unterlassen, zu sagen:
„Erinnern Sie sich noch an Swijaschsk?“ Und beide werden sich nochmals fest die Hände drücken.
Was ist Swijaschsk?
Heute ist es eine Legende, eine jener revolutionären Legenden, die noch niemand niedergeschrieben hat, die aber schon an allen Ecken und Enden des großen Russlands erzählt wird. Keiner der demobilisierten alten Rotarmisten, der Gründer der Arbeiter- und Bauernarmee, wird, wenn er nach Hause kommt und an die drei Jahre Bürgerkrieg zurückdenkt, diese märchenhafte Epopöe bei Swijaschsk vergessen, von dem aus, nach allen vier Seiten, die Wellen der revolutionären Angriffe sich in Bewegung setzten. Im Osten – nach dem Ural, im Süden – nach dem Kaspischen Meer, Kaukasus und den persischen Grenzen, im Norden – nach Archangelsk und Polen. Das alles kam natürlich nicht auf einmal, nicht gleichzeitig, aber erst nach Swijaschsk und Kasan kristallisierte sich die Rote Armee zu jenen Kampfeinheiten und politischen Gebilden, die, sich ändernd und vervollkommnend, für die RSFSR klassisch geworden sind.
Am 6. August flüchteten aus Kasan zahlreiche, notdürftig formierte Regimenter; ihr bester klassenbewusster Teil setzte sich in Swijaschsk fest und beschloss, stehenzubleiben und zu kämpfen. Und während die von Kasan rollenden Deserteurmengen beinahe Nischnij-Nowgorod erreichten, hielt schon die in Swijaschsk gebildete Stauwehr die Tschechoslowaken an, und der General, der die Eisenbahnbrücke über die Wolga stürmen wollte, fiel bei der nächtlichen Attacke.
So zerschellte bei dem ersten Zusammenstoß der Weißen, die eben erst Kasan besetzt hatten und daher moralisch und materiell stärker waren, mit den Kerntruppen der Roten Armee, die die Wolgabrücke verteidigten, der Ansturm der Tschechoslowaken. In dem General Blagotitsch verloren sie ihren populärsten und begabtesten Führer. Vermutlich werden weder die von dem eben errungenen Siege berauschten Weißen noch die um Swijaschsk zusammengedrängten Roten eine Ahnung davon gehabt haben, welche historische Bedeutung ihre ersten Scharmützel an der Wolga haben würden.
Ohne Unterlagen, ohne Karten und ohne die Hilfe seitens jener Genossen, die damals der 5. Armee angehörten, ist es sehr schwer, die militärische Bedeutung von Swijaschsk begreiflich zu machen. Vieles ist schon vergessen, die Gesichter und Namen – alles überzieht der Nebel der Zeit. Aber das eine wird niemals vergessen werden: das Gefühl der größten Verantwortung für die Verteidigung von Swijaschsk, das alle seine Kämpfer vereinigte – vom Mitglied des revolutionären Kriegsrats bis zu jenem letzten Rotarmisten, der sein irgendwo existierendes Regiment verzweifelt suchte und sich plötzlich umdrehte, mit dem Gesicht nach Kasan, um mit seiner elenden Knarre in der Hand und restloser Entschlossenheit bis aufs letzte zu kämpfen. Alle fassten die Sachlage so auf: noch ein Schritt zurück und der Weg von der Wolga nach Nischny und Moskau steht den Feinden offen. Der weitere Rückzug wäre der Anfang vom Ende, wäre ein Todesurteil für die Republik der Sowjets gewesen. Ob das vom strategischen Gesichtspunkt aus zutraf, das weiß ich nicht. Vielleicht hätte die Armee noch weiter zurückgehen und von einer andern Stelle aus ihre Fahnen zum neuen Siege tragen können. Aber moralisch ist es zweifellos richtig. Und soweit der Rückzug von der Wolga damals eine vollständige Niederlage bedeutete, soweit gab die Möglichkeit, uns zu halten, die Brücke zu verteidigen – uns ein Recht auf eine reale Hoffnung.
Die revolutionäre Ethik hat die komplizierte Lage mit zwei Worten formuliert: Rückzug bedeutet – Einzug der Tschechen nach Nischny und Moskau.
Wenn Swijaschsk und die Brücke sich halten, dann bedeutet dies – Rückeroberung von Kasan durch die Rote Armee.
Ankunft von Trotzkis Zug
Am dritten oder vierten Tage nach dem Sturz Kasans kam Trotzki nach Swijaschsk. Sein Zug machte an der kleinen Station halt, und zwar mit der offensichtlichen Absicht, hier lange zu bleiben: die Lokomotive stand eine Weile schnaufend da, ließ dann den Zug stehen, stillte ihren Durst und kam nicht wieder. Die Wagenkette des Zuges stand ebenso unbeweglich da, wie die schmutzigen Hütten und Baracken, in denen sich der Stab der 5. Armee befand. Diese Unbeweglichkeit des Zuges schien ausdrücken zu wollen, dass dieser Ort nicht aufgegeben werden kann und darf.
Nach und nach nahm der fanatische Glaube, dass diese kleine Station zu einem Ausgangspunkt für den neuen Angriff gegen Kasan werden würde, reale Formen an.
Jeder Tag, den diese entlegene, armselige Bahnstation sich gegen den unermesslich stärkeren Feind behauptete, stärkte ihre Kraft und hob die Stimmung. Von irgendwoher, aus dem Hinterlande, aus entlegenen Dörfern kamen zunächst vereinzelte Soldaten, dann kleine Abteilungen und schließlich bedeutende Truppenteile nach Swijaschsk.
Ich sehe noch vor mir diese kleine Station, wo es keinen einzigen Soldaten gab, der erzwungenerweise gekämpft hätte. Alles was da lebte und sich verteidigte, war durch die starken Bande einer freiwilligen Disziplin, einer freiwilligen Teilnahme am Kampfe miteinander verknüpft.
Die Menschen, die auf dem Boden des Stationsgebäudes in schmutzigen, mit Glasscherben und Stroh bedeckten Baracken schliefen, hatten fast keine Hoffnung mehr auf den Erfolg und verloren daher auch jede Furcht. Die Frage, wann und wie das alles ein Ende nehmen werde – interessierte niemand. Ein Morgen gab es nicht – es gab ein kurzes, heißes, dampfendes Stück der Zeit, das man Heute nennt. Und davon lebte man, wie man zur Zeit der Ernte lebt.
Morgen, Tag, Abend, Nacht – eine jede Stunde musste bis aufs äußerste verwertet, ausgelebt und bis auf die letzte Sekunde verbraucht werden, man musste die Zeit sorgsam, fein säuberlich mähen, wie das reife Korn auf dem Felde. Jede Stunde schien reif, dem ganzen früheren Leben unähnlich, sie schwand dahin wie ein Wunder. Und es war auch ein Wunder.
Aeroplane kamen, warfen ihre Bomben auf die Station und die Züge nieder und verschwanden wieder; das widerwärtige Gebell der Maschinengewehre und die ruhige Stimme der Geschütze näherten sich und zogen sich wieder zurück; irgendein Mensch im zerrissenen Militärmantel, mit einem Zivilistenhut und Stiefeln, aus denen die Zehen hervorsahen – kurz, einer der Verteidiger von Swijaschsk zog lächelnd seine Uhr aus der Tasche und dachte:
„Es ist 6 Uhr 20, also heute, um 6 Uhr 20, lebe ich noch. Swijaschsk hält sich, Trotzkis Zug steht auf dem Bahndamm, im Fenster der Politischen Abteilung leuchtet die Lampe auf. Es ist gut. Der Tag ist zu Ende.“
Es fehlte fast jedes Verbandsmaterial. Es ist unbegreiflich, wie und womit die Ärzte ihre Verwundeten behandelten. Man schämte sich nicht dieser Armut und fürchtete sie nicht. Die Soldaten gingen mit ihren Suppenschüsseln zur Küche, unterwegs sahen sie Tragbahren mit Verwundeten und Sterbenden. Der Tod schreckte nicht – jeden Tag, jede Stunde erwartete man ihn. In einem nassen Mantel, mit einem roten Fleck auf dem Hemde und einem Gesicht daliegen, in dem das Menschtum ausgelöscht ist – diese Möglichkeit wurde als selbstverständlich vorausgesetzt.
Brüder! – ein verbrauchtes, unglückseliges Wort. Aber es kommt zuweilen, in den Augenblicken der äußersten Not und Gefahr, – dann ist es heilig, groß, unantastbar. Und jener hat niemals gelebt und weiß nichts vom Leben, der nicht eines Nachts zerfetzt und verlaust auf dem schmutzigen Boden gelegen und sich nicht dabei gedacht hat, dass die Welt herrlich, unendlich herrlich ist. Dass z.B. das Alte zusammengebrochen ist, und dass das Leben mit nackten Händen um seine unumstößliche Wahrheit kämpft, um die weißen Schwäne seiner Auferstehung, um etwas unvergleichlich Größeres und Besseres, als dieses Stück Sternenhimmel, das durch das samtschwarze Fenster mit der ausgeschlagenen Scheibe sichtbar ist – um die Zukunft der ganzen Menschheit. Einmal im Jahrhundert berühren sie sich und tauschen ihr lebendiges Blut aus. Diese Worte, diese unmenschlich schönen Worte – und der Geruch des lebendigen Schweißes, des lebendigen Atems der andern, auf dem Boden Schlafenden. Das sind keine Fieberphantasien, keine Sentimentalitäten – denn das Morgen wird einen Morgen haben, wo ein tschechischer Bolschewist, Genosse G., Setzeier für die ganze „Bande“ bereiten wird, wo der Stabschef in sein holzsteifes, vereistes Hemd kriechen wird, das er am Tage vorher gewaschen; es wird ein Tag kommen, an dem jemand sterben und so sterben wird, dass er in der letzten Stunde weiß, dass der Tod nur etwas unter allem anderen und nicht die Hauptsache ist, dass Swijaschsk wieder nicht genommen ist und dass auf der schmutzigen Wand noch immer mit Kreide geschrieben steht – „Proletarier aller Länder vereinigt euch“.
Gegen den Strom
So vergingen einer nach dem andern die regnerischen Augusttage. Die mageren, schlecht bewaffneten Schützenketten haben sich nicht zurückgezogen, die Brücke blieb in unsern Händen, und aus dem Hinterlande, irgendwo aus der Ferne, begann Unterstützung zu uns zu stoßen.
Außer den im Herbstwinde wehenden Spinngeweben sah man jetzt auch richtige Telephonleitungen, und ein gewaltiger, schwerfälliger, lahmer Apparat begann auf der Bahnstation zu arbeiten, – auf diesem auf der russischen Karte kaum sichtbaren schwarzen Punkt, an den sich die Hand der Revolution vor einem Monat im Augenblick der Flucht und Verzweiflung anklammerte. Hier zeigte sich das ganze organisatorische Genie von Trotzki. Er hat es verstanden, die Verpflegung in Gang zu bringen, frische Batterien und einige Regimenter auf den offenkundig sabotierenden Eisenbahnen nach Swijaschsk zu schaffen – alles, was für den bevorstehenden Angriff notwendig war. Es ist dabei nicht zu vergessen, dass man im Jahre 18 arbeiten musste, als noch die Demobilisation ihre zerstörende Wirkung übte, als eine gut equipierte rotarmistische Abteilung in den Straßen von Moskau eine große Sensation hervorrief. Es war ein Gegen-den-Strom-Schwimmen, gegen die Erschöpfung von vier Kriegsjahren, gegen die das ganze Land überschwemmenden Fluten der Revolution, die die Trümmer der Araktschejewschen Disziplin, den wilden Hass gegen alles, was an Offiziersbefehl, Kaserne und Militär erinnerte, überall verbreitete.
Trotz alledem ordnete sich zusehends die Verpflegung, es kamen Zeitungen, es kamen Stiefel und Mäntel. Und dort, wo Stiefel verteilt werden, dort ist ein echter, dauerhafter Armeestab, dort sitzt die Armee fest und denkt nicht an die Flucht. Stiefel bedeuten viel!
Zur Zeit von Swijaschsk gab es noch nicht den Orden des Roten Banners, sonst hätte man ihn Hunderten geben müssen. Alle – auch die Feiglinge und die nervösen Menschen und einfach mittelmäßigen Arbeiter und Rotarmisten – alle ohne Ausnahme leisteten Unglaubliches und Heroisches, sie übertrafen sich selbst, traten aus ihrem engen Flussbett heraus, überschwemmten freudig ihr normales Niveau. So war die Atmosphäre. Ich erinnere mich an einige Briefe, die ich damals aus Moskau durch ungewöhnlichen Zufall erhielt. Es war in ihnen die Rede von der jauchzenden Freude des Kleinbürgertums, das sich anschickte, die denkwürdigen Tage der Pariser Kommune zu wiederholen.
Und zu gleicher Zeit flammte die gefährlichste, an dem Faden einer Eisenbrücke hängende Front der Republik, in jener unerhörten heroischen Begeisterung, die für weitere drei Jahre eines Krieges in Hunger und Typhus ausreichte.
Die Menschen, die es vollbrachten
In Swijaschsk war nicht nur Trotzki, der es verstanden hat, der neugeborenen Armee das eiserne Rückgrat zu geben, der sich hier festsetzte, entschlossen, keinen Zoll Erde aufzugeben, der es verstanden hat, diesem Häuflein von Verteidigern ein tiefer, metallisch gleichgültiger Führer zu sein, – dort versammelten sich auch die alten Parteiarbeiter, die künftigen Mitglieder des Revolutionären Kriegsrats der Republik und der Armeen, von denen der Historiker des Bürgerkrieges als von Marschällen der Großen Revolution sprechen wird. Rosenholz und Gussew, Iwan Nikititsch Smirnow, Kobosew, Meschlauk, der andere Smirnow und noch viele Genossen, auf deren Namen ich mich nicht besinne. Von den Seeleuten – Raskolnikow und der verstorbene Markin.
Rosenholz verwandelte seinen Eisenbahnwagen gleich am ersten Tage in eine Kanzlei des Revolutionären Kriegsrats, es tauchten dort eine Menge Karten auf, Schreibmaschinen klapperten – es war unbegreiflich, woher sie kamen –, kurz er begann sofort einen festen, geometrisch zweckmäßigen organisatorischen Apparat mit seinem präzisen Verbindungsdienst und klarem Schema zu bauen.
Auch später, wenn in irgendeiner Armee, an irgendeiner Front die Arbeit zu stocken begann – sofort brachte man Rosenholz, wie die Bienenkönigin in einem Sack, dorthin, setzte ihn in das zerstörte Bienenhaus, und sofort begann er zu bauen, zu organisieren, Zellen zu bilden, mit telegraphischen Drähten zu summen. Trotz des Militärmantels und der gewaltigen Pistole am Gürtel war in seiner ganzen Gestalt und auf seinem weißen, etwas weichen Gesicht nichts Kriegerisches zu entdecken. Aber seine ungeheure Kraft lag auch gar nicht in dieser Richtung, sondern in der organischen Fähigkeit, zu erneuern, zu verbinden, das Tempo des stockenden Blutkreislaufs bis zu einer explosiven Geschwindigkeit zu steigern.
Er war neben Trotzki eine Art Dynamo, der gleichmäßig, ölig-geräuschlos, Tag um Tag sein unzerreißbares organisatorisches Spinngewebe flocht.
Ich erinnere mich nicht genau, welche Arbeit Iwan Nikititsch Smirnow im Stab der 5. Armee offiziell leistete. Ob er nur ein Mitglied des Revolutionären Kriegsrats war oder gleichzeitig auch noch die Politische Abteilung leitete, aber er verkörperte jedenfalls die revolutionäre Ethik, er war das höchste moralische Kriterium, er war das kommunistische Gewissen von Swijaschsk.
Sogar unter den parteilosen Soldatenmassen und auch unter den Kommunisten, die ihn früher nicht gekannt haben, war seine beispiellose Reinheit sofort anerkannt. Er wird es wohl kaum gewußt haben, wie man ihn fürchtete, wie man sich fürchtete, gerade in den Augen dieses Menschen, der niemals irgend jemand anschrie, feige und schwach zu erscheinen. Niemand war so sehr geachtet, als Iwan Nikititsch. Jeder fühlte, dass im kritischen Augenblick gerade er der Mutigste und Stärkste sein würde.
Mit Trotzki – im Kampfe sterben, nachdem die letzte Patrone verschossen ist, begeistert sterben, ohne die Wunden zu fühlen; bei Trotzki – das heilige Pathos des Kampfes, des Wortes und einer Tat, die an die besten Seiten der großen französischen Revolution erinnert.
Mit Smirnow aber (so schien es uns damals, so sprachen wir flüsternd miteinander, wenn wir in jenen kalten, schon herbstlichen Nächten dichtgedrängt auf dem Boden lagen), mit Smirnow – ist die klare Ruhe an der „Wand“, bei der Vernehmung vor einem weißen Untersuchungsrichter, im schmutzigen Loch des Gefängnisses. Ja, so sprach man von ihm in Swijaschsk.
Boris Danilowitsch Michailow kam etwas später, wenn ich mich recht entsinne – aus Moskau. Er kam in einem städtischen Mantel, mit jenem hellen, leicht wechselnden Gesichtsausdruck, den Menschen haben, die aus einem Gefängnis oder aus einer großen Stadt in die freie Luft hinaustreten.
Einige Stunden später hat der wilde Rausch von Swijaschsk ihn schon vollständig erfasst. Er machte verkleidet einen Patrouillengang in der Richtung nach Kasan, kehrte nach drei Tagen zurück, müde, mit gebräuntem Gesicht, mit unvermeidlichen Läusen bedeckt. Vor allem kehrte er heil und ganz zurück.
Es ist interessant, zu beobachten, wie dieser tiefe, innere Prozess sich vollzieht, wenn Menschen, die in eine revolutionäre Front geraten, plötzlich wie ein an allen vier Ecken angezündetes Strohdach aufflammen, dann erkalten und sich in ein feuerfestes einheitliches Gussstück verwandeln.
Der Jüngste unter ihnen war Meschlauk, Waleri Iwanowitsch. Seine Lage war ganz besonders schwer. Sein Bruder und seine Frau waren in Kasan geblieben und sind Gerüchten nach erschossen worden. Später stellte es sich heraus, dass sein jüngerer Bruder in der Tat dabei zugrunde gegangen ist, während seine Frau Entsetzliches durchgemacht hat. In Swijaschsk war es nicht üblich, zu klagen und von seinem Unglück zu sprechen. Und Meschlauk schwieg ehrlich, arbeitete, ging in seinem langen Kavalleriemantel durch den klebrigen Herbstschmutz, seine ganze Sehnsucht konzentrierte sich auf den einen brennenden Punkt, auf Kasan.
Inzwischen begannen die Weißen zu fühlen, dass Swijaschsk sich mit seinem gefestigten Widerstand zu etwas Großem und Gefahrvollen herauswachse.
Gelegentliche Angriffe und Scharmützel nahmen ein Ende; es begann eine richtige Belagerung mit organisierten großen Kräften. Aber die beste Zeit zum Angriff haben sie verpasst.
Der alte Slawin, Kommandeur der 5. Armee, ein nicht sehr begabter, aber sein Handwerk gut beherrschender Oberst, fasste festen Fuß, arbeitete einen bestimmten Plan aus und verwirklichte ihn mit echt lettischer Hartnäckigkeit.
Swijaschsk stand fest da, wie ein Stier, seinen breitstirnigen, niedrig gesenkten Kopf gegen Kasan gerichtet, es rührte sich nicht vom Fleck und schüttelte nur ungeduldig seine schweren, eisernen Hörner.
An einem sonnigen Herbstmorgen kamen flinke, schnelllaufende Minenschiffe aus dem Baltischen Meer nach Swijaschsk. Ihr Erscheinen rief eine große Sensation hervor. Die Armee fühlte sich jetzt an der Flussseite geschützt. Es begann eine Reihe von artilleristischen Duellen auf der Wolga, die einige Male am Tage stattfanden. Von dem Feuer der am Ufer versteckten Batterien geschützt, wagte sich jetzt unsere Flottille weit vor; diese Vorstöße waren oft sehr tollkühn, so z. B. der am 9. September von Markin, einem der Gründer und ersten Helden unserer Roten Flotte unternommene. Auf seinem schwerfälligen, eisengeschützten Schleppdampfer wagte er sich bis zu den Anlegestellen in Kasan vor, er vertrieb mit Maschinengewehrfeuer die Mannschaft der feindlichen Batterie und nahm die Verschlussstücke von einigen Geschützen fort.
Ein andermal, es war am 30. August spät nachts, näherten sich unsere Schiffe dicht an Kasan, beschossen die Stadt, setzten einige Kähne mit Munition und Lebensmitteln in Brand und entfernten sich, ohne ein einziges Fahrzeug verloren zu haben. Unter anderen befand sich Trotzki zusammen mit dem Kommandeur gerade in dem Augenblick auf dem Minenschiff „Protschny“, als es, um sein beschädigtes Steuerreep zu reparieren, sich unter den Mündungen der weißgardistischen Geschütze an einen feindlichen Schlepper anseilen musste.
Der Hauptkommandierende Wazetis kam in dem Augenblick an, als die Angriffsbewegung auf Kasan schon im vollen Gang war. Die meisten, darunter auch ich, wussten nichts Genaueres von dem Ergebnis der Konferenz, – nur das eine wurde bald allgemein bekannt und von allen Seiten mit tiefer Befriedigung aufgenommen: Unser Alter (so nannte man unter uns den Kommandeur) erklärte sich gegen die Ansicht von Wazetis, der den Angriff auf Kasan auf dem linken Ufer vornehmen wollte; unser Alter wollte die Operation auf dem rechten, die Stadt beherrschenden Ufer, Werchny Uslon genannt, durchführen und nicht auf dem linken, ungeschützten.
Die Weißen rücken vor
Gerade in dem Augenblick, als die ganze 5. Armee sich krampfhaft auf den Angriff vorbereitete, als ihre Hauptkräfte nach schweren, tagelangen Kämpfen endlich unter fortwährenden Gegenangriffen der Feinde vorzudringen begannen, – beschlossen die drei „Leuchten“ des weißgardistischen Russlands, der Swijaschsker Epopöe vereinigt ein Ende zu machen.
Ssawinkow, Kappel und Fortunatow unternahmen an der Spitze von bedeutenden Kräften einen tollkühnen Vorstoß gegen eine Bahnstation neben Swijaschsk. Sie wollten auf diese Weise Swijaschsk und die Wolgabrücke endlich in ihre Hände bringen. Der Vorstoß wurde glänzend durchgeführt; nachdem sie einen weiten Umweg gemacht hatten, stürzten sich die Weißen auf die Bahnstation Schichrany, schossen sie kurz und klein, zerrissen die Verbindung mit der übrigen Linie und verbrannten den dort stehenden Munitionszug. Die wenig zahlreiche Besatzung von Schichrany wurde bis auf den letzten Mann niedergeschlagen.
Und nicht nur das: sie schlugen buchstäblich alles nieder, was in dieser Station lebte. Ich hatte Gelegenheit, Schichrany einige Stunden nach dem Vorstoß zu sehen. Es trug alle Spuren jener sinnlosen Zerstörung, die alle Siege dieser Herrschaften auszeichnete – sie fühlten sich niemals als die Herren und künftigen Bewohner des eroberten Bodens.
Im Hofe lag eine bestialisch erschlagene (erschlagene und nicht getötete) Kuh, der Hühnerstall war voll toter Hühner, die auf eine unsinnige, allzu menschliche Weise ums Leben gebracht waren. Mit dem Brunnen, mit dem kleinen Gemüsegarten, dem Wasserturm und den Wohnhäusern wurde ebenso verfahren, als wenn es gefangene Menschen – Bolschewisten und Juden wären. Man hatte den Eindruck, als wenn alle dem die Gedärme herausgerissen wären. Tiere und Gegenstände lagen vergewaltigt, entstellt herum. Neben dieser erschreckenden Entstellung alles dessen, was früher eine menschliche Siedlung war, – erschien der unbeschreibliche, nicht zu schildernde Tod von einigen überraschten Eisenbahnern und Rotarmisten als etwas ganz Natürliches.
Nur bei Goya, in seinen Illustrationen zu dem spanischen Feldzug und dem Guerillakrieg findet man eine ähnliche Harmonie der durch den dunkeln Wind und die Schwere der Erhängten geneigten Bäume, des Staubes am Wege, des Blutes und der Steine.
Von der Station Schichrany schlug die Ssawinkowsche Abteilung den Weg nach Swijaschsk längs des Eisenbahndamms ein. Man schickte ihr unsern Panzerzug „Freies Russland“ entgegen, der, soviel ich mich erinnere, mit weittragenden Marinegeschützen armiert war. Sein Kommandeur war indes nicht auf der Höhe seiner Aufgabe. Von zwei Seiten, wie es ihm schien, umzingelt, verließ er seinen Zug und eilte zum Revolutionären Kriegsrat „um ihm seine Meldung zu erstatten“.
Der Panzerzug wurde während seiner Abwesenheit kurz und klein geschossen. Seine schwarzen verbrannten Trümmer lagen lange Zeit am Gleise, in nächster Nähe von Swijaschsk. Die Weißen standen unmittelbar bei Swijaschsk, anderthalb bis zwei Kilometer von dem Stab der 5. Armee entfernt. Es brach eine Panik aus. Ein Teil der Politischen Abteilung, oder gar die ganze, stürzte zu den Anlegestellen, um auf den Dampfern zu entkommen.
Das Regiment, das fast an dem Ufer der Wolga kämpfte, hielt den Angriff nicht aus und flüchtete mit Kommandeuren und Kommissaren; am Morgen fand man Teile dieses Regiments auf den Stabsschiffen der Wolgaer Kriegsflottille an.
In Swijaschsk blieben nur der Stab der 5. Armee mit seinen Kanzleien, und der Zug von Trotzki.
Wie Swijaschsk gerettet wurde
Lew Dawidowitsch Trotzki mobilisierte das ganze Zugpersonal, alle Schreiber, Telegraphisten, Sanitäter und die Schutzwache, die unter dem Kommando des Stabschefs der Flottille, Genossen Lepetenkow, stand (übrigens einem der mutigsten, aufopferungsfähigsten Soldaten der Revolution, dessen Biographie ein glänzendes Kapitel dieses Buches sein könnte) – kurz alles, was fähig war, ein Gewehr in der Hand zu halten.
Die Stabskanzleien standen nun leer da – „Hinterland“ gab es nicht mehr. Alles wurde den Weißen, die schon dicht vor der Station waren, entgegengeworfen. Der ganze Weg von Schichrany bis zu den ersten Häusern von Swijaschsk – und je näher zu Swijaschsk, um so mehr – war von Geschossen zerwühlt, mit toten Pferden, Waffen und Munition bedeckt. Nachdem die Weißen das starrende, rauchende und geschmolzene Gerippe des Panzerzugs erreicht haben, stockt ihr Angriff, flutet zurück und stürzt sich wieder gegen die schnell mobilisierten Reserveteile von Swijaschsk. Hier stehen sie sich eine Zeitlang gegenüber, hier gibt es viele Leichen.
Die Weißen glaubten, als sie uns bemerkten, dass sie einen frischen, gut organisierten Truppenteil vor sich hätten, dessen Existenz selbst ihre Patrouillen nicht bemerkt hätten. Die von einem 48stündigen Kampf erschöpften Soldaten überschätzten die Kräfte des Gegners und ahnten nicht, dass sie nur ein zusammengewürfeltes Häuflein von Kämpfern vor sich hatten, hinter denen nichts war außer Trotzki und Slawin, die schlaflos in einer verrauchten Stube des verlassenen Stabs an einer Karte saßen, mitten im menschenleeren Swijaschsk, durch dessen Straßen die Gewehrkugeln pfiffen.
Auch diese Nacht stand Trotzkis Zug wie immer ohne Lokomotive da, und kein einziger Teil der für den Angriff bestimmten, weit nach Swijaschsk vorgeschobenen 5. Armee wurde diese Nacht beunruhigt und, um das fast wehrlose Swijaschsk zu decken, von der Front genommen. Die Armee und die Flottille erfuhren von dem nächtlichen Angriff erst, als alles zu Ende war, als die Weißen sich schon zurückzogen, fest davon überzeugt, dass sie nahezu eine ganze Division vor sich hatten.
Am nächsten Tage wurden 27 Deserteure gerichtet und erschossen, die im kritischen Augenblick auf die Dampfer geflohen waren. Darunter waren auch mehrere Kommunisten. Von dieser Erschießung der 27 wurde später viel gesprochen, besonders natürlich im Hinterlande, wo man nicht wusste, wie sehr der Weg nach Moskau und unser ganzer aus letzten Mitteln und Kräften unternommener Angriff gegen Kasan damals gefährdet waren.
Erstens sprach die ganze Armee davon, dass die Kommunisten sich als Feiglinge gezeigt hätten, dass es für sie kein Gesetz gäbe, dass sie ungestraft desertieren könnten, während man einen einfachen Rotarmisten wie einen Hund erschieße.
Ohne den außerordentlichen Mut Trotzkis, des Armeekommandeurs und der andern Mitglieder des Revolutionären Kriegsrats wäre das Ansehen der in der Armee arbeitenden Kommunisten für lange vernichtet gewesen.
Man kann einer Armee, die sechs Wochen lang die größten Entbehrungen leidet und nahezu mit nackten Händen kämpft, nicht mit Worten plausibel machen, dass Feigheit unter gewissen Umständen keine Feigheit sei, dass es „mildernde Umstände“ für die Feigheit gebe. Man sagt, dass manche unter den Erschossenen gute Genossen waren, und zwar solche, deren Schuld durch die früheren Verdienste, durch Jahre von Zuchthaus und Verbannung aufgewogen wurde. Das mag zutreffen. Niemand behauptet ja, dass ihr Untergang die Folge jener „Exempel statuierenden“ alten militärischen Ethik war, die unter Trommelwirbeln „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ richtete. Gewiss ist Swijaschsk eine Tragödie.
Aber jeder, der mit der Roten Armee gelebt hat und in den Kämpfen hei Kasan mit ihr geboren und erstarkt ist, kann bestätigen, dass der eiserne Geist dieser Armee sich niemals herauskristallisiert hätte, dass es niemals diesen engen Kontakt zwischen der Partei und der Soldatenmasse, zwischen den breiten Schichten und den Spitzen des Kommandos gegeben hätte, wenn die Partei selbst am Vortage des Sturmes auf Kasan, bei dem Hunderte von Soldaten ihr Leben lassen mussten, vor den Augen der ganzen Armee, die bereit war, der Revolution dieses große, blutige Opfer zu bringen, nicht deutlich gezeigt hätte, dass auch für sie die rauhen Gesetze der brüderlichen Disziplin bindend sind, dass sie den Mut hat, auch ihren eigenen Mitgliedern gegenüber die Gesetze der Sowjetrepublik rücksichtslos anzuwenden.
Die 27 wurden erschossen, und das füllte jene Bresche aus, die die Weißen in das Selbstbewusstsein und in die Geschlossenheit der 5. Armee immerhin geschlagen hatten. Den minderwertigen, wenig klassenbewussten, zum Desertieren neigenden Teil der Soldatenmasse (und einen solchen gab es natürlich auch) zwang diese Salve, die die Kommunisten ebenso wie die Kommandeure und gewöhnlichen Soldaten für Feigheit und Ehrlosigkeit im Kampfe gestraft hat, – sich aufzuraffen und jenen gleich zu sein, die bewusst und ohne jeden Zwang in den Kampf zogen.
Das Schicksal von Kasan entschied sich gerade in diesen Tagen und nicht nur von Kasan, sondern auch der gesamten weißen Intervention. Nach den langen Wochen der Verteidigung hat die Rote Armee ihr Selbstbewusstsein gefunden, sie hat sich verwandelt und gefestigt.
Unter der steten Gefahr und bei der größten Anspannung der moralischen Kräfte arbeitete sie ihre Rechte, ihre Disziplin, ihre neuen heroischen Statuten aus. Zum erstenmal verlor sich die panische Angst vor der vollkommeneren Technik des Gegners, hier lernte man jede Artillerie zu umgehen, und unwillkürlich, aus einfachem Selbsterhaltungsinstinkt, entstanden jene neuen Methoden der Kriegsführung, jene spezifischen Kampfmethoden, die schon jetzt in hohen Akademien als die Methoden des Bürgerkrieges studiert werden. Es ist sehr wichtig, dass in Swijaschsk in diesen Tagen gerade ein solcher Mann wie Trotzki war.
Trotzkis Rolle
Ob Trotzki oder ein anderer an seiner Stelle, – es ist jedenfalls klar, dass der Schöpfer der Roten Armee, der künftige Vorsitzende des Revolutionären Kriegsrats der Republik, in diesem Augenblick in Swijaschsk sein musste, dass er die ganze praktische Erfahrung dieser Kampfwochen erleben und seinen ganzen Willen, sein ganzes organisatorisches Genie in die Verteidigung von Swijaschsk legen musste, in die Sache der Verteidigung der geschlagenen und unter dem Feuer der Weißen neu erstehenden Armee.
Und dann gibt es im revolutionären Kriege noch eine Kraft, noch einen andern Faktor, ohne den es keinen Sieg geben kann. Es ist die gewaltige Romantik der Revolution, mit deren Hilfe die Menschen direkt von den Barrikaden sich in die harten Formen des militärischen Apparats ergießen, ohne ihren kurzen, bei den politischen Demonstrationen erworbenen leichten Schritt, ohne ihre Selbständigkeit und Elastizität zu verlieren, die in langjähriger illegaler Parteiarbeit erworben sind.
Um im Jahre 1918 zu siegen, musste man das ganze Feuer der Revolution, alle ihre zerstörenden Flammen nehmen und in das vulgäre, wie die Welt uralte, Schema der Armee spannen.
Bisher löste die Geschichte diese Frage immer mit imposanten, aber verbrauchten theatralischen Effekten. Sie ließ eine Person auf die Bühne treten, die „mit einem Dreispitz auf dem Kopf und einem grauen Feldrock“ die Hauptrolle spielte und auf einem weißen Kampfross Republiken, Banner und Parolen aus lebendigem revolutionären Stoff bildete.
Die russische Revolution ging bei ihrem militärischen Aufbau ebenso wie in vielem andern ihre eigenen Wege. Der Aufstand und der Krieg verschmolzen zu eins, Armee und Partei verbanden sich zu einem untrennbaren Ganzen, und auf den Regimentsfahnen schrieben die schärfsten Formeln des Klassenkampfs die Einheit ihrer Ziele nieder. Das alles war in jenen Tagen in Swijaschsk noch unausgebildet, man fühlte es in der Luft, es suchte damals seine Form und Gestalt.
Die Arbeiter- und Bauernarmee musste sich irgendwie zum Ausdruck bringen, ihr Äußeres, ihre eigenen Formen gestalten, aber wie – das konnte damals noch niemand genau voraussagen. Es gab damals natürlich keinerlei dogmatische Programme, keinerlei Rezepte, nach denen dieser gewaltige Organismus wachsen und sich entwickeln musste.
In der Partei und in den Massen lebte nur eine Vorahnung, ein schöpferisches Erraten dieser noch nie dagewesenen kriegsrevolutionären Organisation, der jeder Kampftag einen neuen, realen Charakterzug verlieh. Trotzkis Verdienst besteht gerade darin, dass er die leiseste Bewegung der Massen, die bereits den Stempel dieser gesuchten, einzigartigen organisatorischen Formel an sich trug, im Fluge erfasste.
Er sammelte und ordnete alle jene kleinen Methoden, mit deren Hilfe das belagerte Swijaschsk seine Kampfarbeit vereinfachte, ordnete und beschleunigte. Und dies nicht nur im eng technischen Sinne. Nein, eine jede neue und gelungene Kombination der Tätigkeit eines Fachmanns und eines Kommissars, jenes, der befiehlt, und des andern, der den Befehl durchführt und dafür verantwortlich ist, wurde, wenn sie durch die Erfahrung geprüft war und sich bestätigt hatte, sofort in einen Befehl, in eine Verordnung, in ein Rundschreiben verwandelt. Auf diese Weise ging die revolutionäre Erfahrung nicht verloren, geriet nicht in Vergessenheit, wurde nicht entstellt.
Nicht das Mittelmaß wurde zu einer alle verpflichtenden Norm, sondern gerade das Beste, das Geniale, das von den Massen in den heißesten, schöpferischsten Augenblicken des Kampfes erdacht war. Im großen und im kleinen – mag es eine solche schwierige Sache sein, wie die Arbeitseinteilung unter den Mitgliedern des Revolutionären Kriegsrats, oder die schnelle, kurze freundschaftliche Geste, mit der sich der Rote Kommandeur und der Soldat – beide beschäftigt, beide in ihrer Sache eilend – begrüßen, – alles musste dem Leben abgelauscht, erlernt und für den allgemeinen Gebrauch als Norm in die Massen zurückgeworfen werden. Und dort, wo es nicht vorwärts ging, wo es knarrte und stockte – dort musste man den Fehler erraten, musste man helfen, befreien, wie die Hebamme die Mutter aus den Wehen befreit.
Man kann ein ausgezeichneter Wortführer sein und einer neuen Armee eine rationell untadelhafte, plastische Form verleihen und dabei doch ihren Geist einfrieren, ihn sich verflüchtigen lassen, nicht imstande sein, diesen Geist in dem juristischen Formelnsieb lebendig zu erhalten. Damit dies vermieden wird, muss man noch ein großer Revolutionär sein, eine schöpferische Intuition, ein hundert Kilowatt starkes inneres Radio haben, ohne das man nicht an die Massen herantreten darf.
Letzten Endes erteilt gerade dieser revolutionäre Instinkt die endgültige Sanktion, gerade er reinigt das neue, im Entstehen begriffene Recht von allen versteckten, gegenrevolutionären Tendenzen. Er verletzt die verlogene formale Gerechtigkeit im Namen einer höheren proletarischen, er hindert das elastische Gesetz am Verknöchern, er macht es unmöglich, dass der Kontakt mit dem Leben verloren geht und das starre Gesetz sich als eine aufreizende unnötige Last auf die Schultern der Rotarmisten legt.
Trotzki hatte diese intuitive Fähigkeit.
Niemals vermochte der Soldat, der Befehlshaber, der Kriegskommissar in ihm, den Revolutionär zu verdrängen. Und wenn er mit seiner übermenschlichen, metallischen Stimme einen Deserteur heruntermachte, so fürchtete er ihn als den großen Meuterer, der einen vernichten, niederschlagen kann – für gemeine Feigheit, für Verrat – nicht an der militärischen Sache, sondern an der allgemein proletarischen, revolutionären.
Trotzki konnte kein Feigling sein, sonst hätte ihn die Verachtung dieser erstaunlichen Armee erdrückt, sie hätte dieses Blut ihrer 27 Brüder, das ihren ersten Sieg weihte, einem Schwächling niemals verziehen.
Einige Tage vor der Einnahme von Kasan durch unsere Truppen verlies Lew Dawidowitsch Swijaschsk; die Nachricht von dem Anschlag auf Lenin rief ihn nach Moskau. Aber weder der Vorstoß Ssawinkows nach Swijaschsk, der von den Sozialrevolutionären mit der größten Meisterschaft organisiert war, noch der von derselben Partei und fast gleichzeitig mit dem Ssawinkowschen Vorstoß unternommene Versuch, Iljitsch zu töten, – konnte die Rote Armee mehr aufhalten, und die entscheidende Sturzwelle des Angriffs brach über Kasan herein.
Vom 9. auf den 10. September, spät nachts, wurden die Truppen auf die Schiffe verladen, und am Morgen gegen 5 1/2 Uhr bewegten sich die mächtigen vielstöckigen Transportschiffe unter dem Schutz von Minenschiffen zu den Landungsstellen von Kasan. Es war so seltsam, in der trübe vom Mond beleuchteten Finsternis an der halbzerstörten Mühle mit dem grünen Dach vorüberzufahren, hinter der gewöhnlich die Batterie der Weißen lag; an dem halb verbrannten „Delphin“ vorbei, der brennend sich aufs Ufer hinaufgeworfen hatte, an all den bekannten Biegungen, Landzungen, Sandbänken und Buchten vorbei, über die vom Morgen bis zum Abend so viele Wochen lang der Tod hinwegfegte, Rauchwolken hinwegzogen, goldene Garben des Geschützfeuers hinwegschossen.
Man fuhr mit gelöschten Lichtern, in absoluter Stille – über die schwarze, kalte, glattfließende Wolga. Hinter dem Heck – flüchtiger Schaum auf dumpf summenden, sorglos ins Kaspische Meer hinabziehenden, alles hinwegspülenden, alles vergessenden Wellen. Und doch war die Stelle, die der Schiffsriese in diesem Augenblick geräuschlos durchschwamm, noch gestern von zahllosen explodierenden Geschossen durchfurcht. Dort, wo eben der Nachtvogel, die schweigende, kalt dampfende Wasserfläche leicht berührend, hinweggeglitten ist, erhoben sich gestern noch so viele weiße Schaumfontänen, klangen gestern noch unruhige Kommandoworte und schossen schmale Minenschiffe durch Rauch, Flammen und einen Regen von Eisensplittern, – zitternd von der gepressten Ungeduld ihrer Maschinen und von den fortwährenden Stößen der beiden feuernden Geschütze.
Man schoss, entwand sich dem niederprasselnden Hagel der Geschosse, wischte das Blut vom Deck... Und jetzt ist alles still, die Wolga fließt, wie sie vor tausend Jahren geflossen ist und wie sie noch lange fließen wird.
Ohne einen einzigen Schuss gelangten wir zu den Landungsstellen. Es begann hell zu werden. In der rosagrauen Dämmerung tauchten bucklige, schwarze, verkohlte Gespenster auf. Hebekrane, Balken verkohlter Gebäude, zersplitterte Telegraphenpfosten – alles das schien grenzenloses Leid durchgemacht, jede Empfindlichkeit verloren zu haben. Ein Reich des Todes, vom kalten Rosa des nordischen Morgens übergossen. Und die verlassenen Geschütze am Ufer mit hocherhobenen Mündungen, im grauen Licht niedergeworfenen Gestalten gleich, erstarrt in stummer Verzweiflung, den Kopf auf die kalten, taunassen Hände gestützt.
Nebel. Die Menschen zittern vor Kälte und nervöser Spannung, es riecht nach Maschinenöl, nach geteerten Tauen. Der blaue Kragen des Matrosen am Geschütz dreht sich verwundert mit dem Oberkörper – das Ufer ist menschenleer lautlos, es ruht in toter Stille. Das ist der Sieg.