Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 29

Sommer 2013

 

Pseudotrotzkistische Hochstapler verbreiten antibolschewistisches Traktat

Bürgerlicher Demokratismus kontra Oktoberrevolution

Rezension: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht — Das erste Jahr

Dieser Artikel ist unserer Genossin Tweet Carter gewidmet, die seit 1969 Kader in unserer Partei war. Ihr scharfer Sinn für die unbedingt erforderliche Entlarvung politischer Fälscher trug zum Entstehen dieses Artikels bei. Genossin Carter starb am 20. November 2012. Kränze zu ihrer Erinnerung wurden von unseren Genossen unter anderem an der Grabstätte von Karl Marx in London sowie in Berlin-Friedrichsfelde an der Gedenkstätte der Sozialisten niedergelegt.

Am 25. Oktober 1917 (7. November nach dem neuen Kalender) führte das Militärische Revolutionskomitee unter Führung der bolschewistischen Partei von W. I. Lenin und Leo Trotzki einen bewaffneten Aufstand durch, der die Überreste der kapitalistischen Provisorischen Regierung in Petrograd hinwegfegte und dem Proletariat Russlands die Staatsmacht aushändigte. Als Lenin am folgenden Abend aufs Podium des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten trat, verkündete er unter stürmischem Applaus: „Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung.“

Mit ein paar kurzen Dekreten beendete der Kongress acht Monate der Sabotage durch die kleinbürgerlichen Menschewiki und Sozialrevolutionäre (SR), die beide an der Provisorischen Regierung unter Führung des „sozialistischen“ Ministerpräsidenten Alexander Kerenski beteiligt gewesen waren. In einem Friedensappell rief der Kongress die Völker und Regierungen der ganzen Welt dazu auf, sich den Anstrengungen anzuschließen, das Gemetzel des Ersten Weltkriegs zu beenden; in einem zweiten Dekret wurde die sofortige Konfiszierung des riesigen Besitzes von russisch-orthodoxer Kirche, Großgrundbesitzern und Autokratie zugunsten der verarmten Bauern, die die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung ausmachten, beschlossen. Die neue Arbeiter- und Bauernregierung erkannte das Recht auf nationale Selbstbestimmung der vielen Völker an, die im ehemaligen Zarenreich unterjocht waren. Sie erwartete, dass die Arbeiter in Deutschland, Frankreich und anderen imperialistischen Ländern ihrem Beispiel folgen und ihre eigenen herrschenden Kapitalistenklassen stürzen würden.

Buchstäblich vom ersten Tag an musste sich die Sowjetmacht beharrlich gegen unzählige Vorstöße zur Wehr setzen, sie durch Sabotage, Erpressung, Mord und Militärgewalt zu erdrosseln. Die Menschewiki und SR erklärten der Arbeiter- und Bauernrepublik den Krieg – im Namen der Demokratie – und stürmten aus dem Zweiten Kongress hinaus, um mit ihren reaktionären bürgerlichen Verbündeten gemeinsame Sache zu machen. In Petrograd ging die Machtübernahme praktisch ohne Blutvergießen vonstatten, aber in Moskau wurde eine Woche lang gekämpft. Hunderte starben – ein Vorgeschmack auf den blutigen Bürgerkrieg, der folgen sollte. Die deutschen Imperialisten gewährten Russland einen fragilen, erpresserischen Frieden, gegen Abgabe eines breiten an Bodenschätzen reichen Landstrichs sowjetischen Territoriums. Die Alliierten der imperialistischen Entente, besonders Britannien und Frankreich, konspirierten mit einer ganzen Reihe von monarchistischen, antisemitischen Terroristen und Provokateuren in ihrem Sold, bevor sie dann mit ihren eigenen Armeen einmarschierten. Und auf Schritt und Tritt war die bolschewistische Führung unter Lenin mit tief gehenden Konflikten innerhalb ihres Zentralkomitees konfrontiert bzw. mit ihren zeitweiligen Verbündeten, den Linken Sozialrevolutionären, die sich erst kurz zuvor von den proimperialistischen Sozialrevolutionären abgespalten hatten.

Das epochale erste Jahr der Sowjetmacht wurde bereits in etlichen Büchern dargestellt. Herausragend dabei ist ein freundlich gesinnter Bericht von Victor Serge (Mitglied der trotzkistischen Linken Opposition, der später zu seinen anarchistischen Wurzeln zurückkehrte) von 1930, L’An I de La Révolution Russe [Jahr Eins der Russischen Revolution, im Folgenden „Jahr Eins“ genannt]. Vor kurzer Zeit veröffentlichte nun Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Universität von Indiana, eine neue historische Studie, die auf seinen jahrzehntelangen Forschungen in sowjetischen und russischen Archiven basiert, einschließlich auf Dokumenten, die erst nach der konterrevolutionären Zerstörung der Sowjetunion 1991/92 freigegeben wurden. Die Sowjetmacht – Das erste Jahr [im englischen Original lautet der ausführlichere Titel: „The Bolsheviks in Power: The First Year of Soviet Rule in Petrograd“] ist das dritte Buch einer Reihe über die Oktoberrevolution. Davor erschienen Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July Uprising (1968) [Auftakt der Revolution: Die Petrograder Bolschewiki und der Juliaufstand] sowie The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd (1976) [2012 auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917]. Darin berichtet Rabinowitch anschaulich, wie die Bolschewiki in Petrograd Arbeiter und Soldaten von den Menschewiki und SR brechen und für sich gewinnen konnten. Diese hatten in den Monaten nach der Februarrevolution, durch die die zaristische Monarchie hinweggefegt wurde, ihre Mehrheit in den Sowjets dazu benutzt, Russlands imperialistische Bourgeoisie an der Macht zu halten und das Streben der Massen nach Brot, Land und Frieden zu hintertreiben.

Die Sowjetmacht – Das erste Jahr ist in vier Teile gegliedert. Der erste befasst sich mit den Debatten über eine „sozialistische“ Allparteien-Koalitionsregierung und die Einberufung der bürgerlich-demokratischen Konstituierenden Versammlung. Ein zweiter Teil konzentriert sich auf den Brest-Litowsker Friedensvertrag mit Deutschland. Der dritte beschreibt den darauf folgenden Bruch mit den sich auf die Bauernschaft stützenden Linken Sozialrevolutionären, der in ihrer provokativen Ermordung des deutschen Botschafters Graf Mirbach gipfelte. Der letzte Teil umfasst den von der bolschewistischen Regierung ausgeübten Roten Terror vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs und der proimperialistischen Verschwörungen der konterrevolutionären Weißen.

Wie schon in seinen früheren Büchern vermittelt Rabinowitch viele Details in seiner Beschreibung der überwältigenden Herausforderungen, denen die Diktatur der Arbeiterklasse in ihrem ersten Jahr gegenüberstand. Wir erleben mit, wie das Zusammenspiel von imperialistischem Krieg, Bürgerkrieg und zunehmendem Wirtschaftszusammenbruch die Stärke des Proletariats in Petrograd, dem Zentrum der Revolution, aufzehrte und im roten Kronstadt, das in der Revolution eine zentrale Rolle gespielt hatte, das Bewusstsein der Marinegarnison aushöhlte. Rabinowitch vermittelt wertvolle Einblicke in die Spannungen, denen die Bolschewiki ausgesetzt waren, als sie gleichzeitig Partei- und Regierungsarbeit leisteten in einer Zeit, wo die verlässlichsten und klassenbewusstesten Arbeiter dafür eingesetzt wurden, die Lücken an jeder Front der Revolution zu füllen – von der neu entstehenden Roten Armee bis zu den Kämpfen gegen Hungersnot und konterrevolutionären Terror. Am informativsten ist Rabinowitch wohl dort, wo er die Zusammenarbeit zwischen Lenins parteiinternen Gegnern und Strömungen außerhalb der Partei beleuchtet.

Aber Die Sowjetmacht – Das erste Jahr ist durchdrungen von dem vorherrschenden bürgerlich-akademischen Vorurteil, wonach Russland nicht die von den Bolschewiki geführte Diktatur des Proletariats benötigte, sondern eine liberale Demokratie. Trotzki unterscheidet indessen in seinem Vorwort zur Geschichte der russischen Revolution vom 14. November 1930 klar zwischen der Rolle des Fürsprechers und der des Historikers: Der Autor hat keinen Grund, seine politischen Ansichten zu verheimlichen, aber „der Leser hat das Recht, von einer historischen Arbeit zu fordern, dass sie nicht die Apologie einer politischen Position, sondern die innerlich begründete Darstellung des realen Prozesses der Revolution sei“. Trotzkis Geschichte erfüllte dieses Versprechen, wie selbst der erbittertste akademische Kritiker zugeben muss. Aber für Die Sowjetmacht – Das erste Jahr trifft das nicht zu. Zwar reicht für den aufmerksamen Leser die von Rabinowitch vorgelegte Dokumentation oft aus, um die Interpretation der Ereignisse durch den Autor zu widerlegen, jedoch betrachtet dieser den Verlauf des ersten Jahres der Sowjetmacht durch den Zerrspiegel seiner eigenen politischen Voreingenommenheit.

Ein antibolschewistisches Traktat

Inspiriert wurde Rabinowitch von der sozialen bzw. „revisionistischen“ Schule, die mit dem britischen Historiker E. P. Thompson verbunden war und von der sozialen Gärung der 1960er-Jahre beeinflusst wurde. Rabinowitch und seine revisionistischen Freunde rückten von eingefleischten Kalten Kriegern wie Leonard Schapiro und Richard Pipes ab (siehe: „Leonard Schapiro: Lawyer for Counterrevolution“ [Anwalt der Konterrevolution], Spartacist, englische Ausgabe Nr. 43/44, Sommer 1989, und „Richard Pipes: Exorcising the Russian Revolution“ [Wie Richard Pipes die Russische Revolution austreibt], Workers Vanguard Nr. 647, 7. Juni 1996). Schapiro und seine Anhängerschaft hatten historische Genauigkeit außen vor gelassen, damit sie die Oktoberrevolution als Staatsstreich darstellen konnten, verübt von einer Bande machtgieriger Fanatiker, die ein totalitäres Einparteienregime errichten wollten. Der Harvard-Professor Pipes war ein CIA-Berater gewesen, der in den 1970ern für einen atomaren Erstschlag gegen die UdSSR eintrat und in den 1980ern zum Braintrust von Ronald Reagans antisowjetischer Offensive gegen das „Reich des Bösen“ gehörte. Nach dem „Rollback des Kommunismus“ in der Sowjetunion und Osteuropa richtete Pipes sein Feuer zunehmend gegen das bürgerlich-demokratische Erbe der Großen Französischen Revolution von 1789.

Isaac Deutschers dreibändige Trotzki-Biografie und E. H. Carrs monumentale 14-bändige Geschichte des ersten Jahrzehnts der Sowjetunion, beide begonnen in den frühen 1950ern auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, stechen heraus als zeitgenössische Ausnahmen gegen solch antikommunistische Mythologie. Ebenfalls wertvoll sind die von H. H. Fisher und anderen herausgegebenen dokumentarischen Sammlungen wie Soviet Russia and the West, 1920–27 (1957) sowie ein früherer Band, The Bolsheviks and the World War.

Die ersten beiden Bücher von Rabinowitch widerlegen überzeugend die Fälscherschule von Schapiro und Pipes. Sie dokumentieren sorgfältig die engen Verbindungen der Bolschewiki zu den Arbeitern und Soldaten in Petrograd, die ihre Bestrebungen im bolschewistischen Programm ausgedrückt sahen. Das wiederum schaffte den Bolschewiki eine Basis in der riesigen Bauernschaft – die Soldaten waren in ihrer Mehrheit Bauern in Uniform, und die Arbeiter selbst waren nur eine oder zwei Generationen vom Landleben entfernt. Gleichzeitig bringt Rabinowitch die falsche Behauptung, dass die Attraktivität der Bolschewiki unter den Massen sowie ihre Bereitschaft, mit Anarcho-Syndikalisten und anderen revolutionär gesinnten Elementen zusammenzuarbeiten, „dem gängigen leninistischen Modell“ des strikten organisatorischen Zentralismus und der Disziplin „direkt widerspricht“ (Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen 2012). Rabinowitch argumentiert, der einzige Weg vorwärts sei für Russland „die Bildung einer breiten repräsentativen, ausschließlich sozialistischen Regierung“ gemeinsam mit den Menschewiki und SR gewesen. In Die Revolution der Bolschewiki 1917 gibt es viel Interessantes, aber das Buch endet damit, die Bolschewiki dafür zu rügen, dass sie überhaupt an die Macht kamen.

Dieses Thema rückt nun in den Mittelpunkt des neuesten Buches von Rabinowitch. Im Vorwort fragt er: „Wenn der Erfolg der bolschewistischen Partei 1917, soviel schien klar, wenigstens zum Teil ihrem offenen, relativ demokratischen und dezentralisierten Charakter und Handeln zu verdanken war, wie war dann zu erklären, dass sich diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten und autoritärsten politischen Organisationen der Neuzeit verwandelte?“ Und wie er sich nun daranmacht, diese „Tatsache“ zu erklären, endet Rabinowitch dabei, die gleichen fadenscheinigen antikommunistischen Klischees auszuwalzen wie die schrillen Verfechter des Kalten Krieges.

Wie Schapiro und viele andere versucht Rabinowitch (wenn auch zurückhaltender), die blutigen stalinistischen Säuberungen und „Schauprozesse“ der späten 1930er-Jahre auf das bolschewistische Regime Lenins und Trotzkis zurück zu projizieren. Damit geht einher, dass der Stalinismus zum natürlichen Spross des Leninismus erklärt wird, wobei willentlich das ganze ungeheure Ausmaß der politischen Konterrevolution in der Versenkung verschwindet, die 1923/24 eine konservative, nationalbornierte bürokratische Kaste an die Macht brachte. Von da an änderte sich alles – die Menschen, die die Sowjetunion regierten, die Art, wie sie regiert wurde, und der Zweck, zu dem sie regiert wurde –, erstmalig Ende 1924 explizit ausgedrückt in Stalins Proklamation des nationalistischen Dogmas vom „Sozialismus in einem Land“. Dennoch dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis Stalin sein brutales, antirevolutionäres Regime konsolidiert hatte, auch durch die physische Auslöschung von praktisch allen Lenin nahestehenden Genossen und Mitarbeitern.

Wer ist David North?

Es ist nur passend, wenn im englischen Original von The Bolsheviks in Power ein Klappentext des Historikers John H. L. Keep den Autor Rabinowitch dafür lobt, dass „er erklärt, warum die bolschewistische Regierung diktatorischer wurde, ja sogar terroristisch, als sie sich bemühte, eine zunehmend verarmte und unzufriedene Bevölkerung zu kontrollieren“. Ebenso wie Keep spenden David Norths „Internationales Komitee der Vierten Internationale“ (ihr Ableger in Deutschland ist die Partei für Soziale Gleichheit) und dessen World Socialist Web Site (WSWS) dem Buch leidenschaftlichen Beifall. Eine Rezension von Frederick Choate und David North bejubelte sein Erscheinen: „Dieses Werk wird auf Jahre hinaus Maßstäbe setzen für die geschichtswissenschaftliche Forschung über die sozialen und politischen Folgen, die sich aus dem Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung und der Machtübernahme der Bolschewiki ergaben“ („Alexander Rabinowitch, ,Die Sowjetmacht. Das erste Jahr‘ – Eine bedeutende Studie über das erste Jahr der Sowjetmacht“, wsws.org, 3. August 2010). Freilich ist das Buch Die Sowjetmacht – Das erste Jahr nicht ohne Wert. Aber im Wesentlichen ist es ein antibolschewistisches Traktat.

David North und seine Vorgänger sind Altmeister darin, schwarz in weiß zu verwandeln. North verbrachte seine Lehrjahre als US-Handlanger und Oberaufseher für das korrupte und gewalttätige Internationale Komitee Gerry Healys, das in Britannien seinen Hauptsitz hat. Healy und die von ihm ausgehaltenen Ideologen konnten jede Menge orthodoxe trotzkistische Rhetorik absondern. Gleichzeitig dienten sie unterschiedlichsten arbeiterfeindlichen Kräften: dem chinesischen Stalinisten Mao Zedong, bürgerlichen Diktatoren in ölreichen arabischen Ländern, antisowjetischen Kalten Kriegern und der käuflichen rechten britischen Gewerkschaftsbürokratie. Schon von 1976 an nahmen die Healyisten mehrere Jahre lang Schmiergelder von einer Reihe arabischer Regime an. Nachdem 1985 Healy durch seine Unteroffiziere entthront worden war, denunzierte North jeden einzelnen seiner eigenen früheren Führer als Renegaten und kaperte Healys Krone als „Führer“ des „Welttrotzkismus“. Seit einigen Jahren posiert North nun als Oxford-Dozent und protzt damit, er sei eine (wenn nicht sogar die) führende Autorität in Sachen Trotzki und dessen historisches Erbe.

Nicht nur haben die North-Anhänger Rabinowitch auf Deutsch herausgebracht, sie haben ihn auch auf verschiedenen Versammlungen stürmisch gefeiert. Um mit ihrer revisionistischen Ware besser hausieren gehen zu können, hielten es diese schamlosen Opportunisten für notwendig, sich hauchdünn von dem antibolschewistischen Professor zu distanzieren. So schreiben North und Choate: „Auffallend ist … das Fehlen eines theoretischen Fundaments“, und aufgrund dieses Fehlens „kommt es bisweilen zu einer einseitigen Einschätzung der Ereignisse“.

Das ist reinste Schönfärberei! Weit entfernt davon, bloß zuweilen einseitig zu sein, antwortet Rabinowitch an jedem entscheidenden Wendepunkt mit einem lauten „Nein“ auf die Frage, ob die Bolschewiki die Staatsmacht hätten ergreifen und aufrechterhalten sollen. Von Anfang bis Ende nimmt das Buch Lenin und Trotzki ins Visier, hofiert aber alle möglichen „gemäßigten“ Bolschewiki wie Grigori Sinowjew und Lew Kamenjew, die gegen die Machtübernahme der Bolschewiki waren, sowie die Linkskommunisten um Nikolai Bucharin, die sich zusammen mit den Linken SR gegen den Friedensvertrag mit Deutschland stellten, und sogar die unverhohlen konterrevolutionären Menschewiki und SR (nach Rabinowitch „gemäßigte Sozialisten“), die Seite an Seite mit ihren monarchistischen Verbündeten unter dem „demokratischen“ Banner der bürgerlichen Konstituierenden Versammlung marschierten. Mit Ausnahme der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung im November 1917, die die SR spielend gewannen, bezeichnet Rabinowitch – ohne den geringsten Beweis – praktisch jede Wahl, die unter bolschewistischer Herrschaft stattfand, als „zweifelhaft“, „Wahlbetrug“ oder „manipuliert“. Rabinowitch hat ganz bestimmt ein einheitliches Fundament, ob nun „theoretisch“ oder anders begründet, und das ist die liberale Demokratie.

Das Hirngespinst einer „Allparteien“-Regierung

Die Machtübernahme der Bolschewiki ist für Rabinowitch der Anlass, dringend nach Kräften zu forschen, die der Bourgeoisie die Macht wieder aushändigen könnten. Nach dem Auszug der Menschewiki/SR aus dem Zweiten Sowjetkongress folgten Wochen, in denen die verbliebenen Zauderer hysterisch die Hände rangen und nach „Einheit“ und einer „sowjetischen Allparteienregierung“ riefen – vom gewichtigen Flügel „gemäßigter“ Bolschewiki bis zu Julius Martows Menschewiki-Internationalisten und den Linken Sozialrevolutionären. Rabinowitch, der als „geradezu prophetisch“ diejenigen lobt, die sich gegen eine bolschewistische Regierung stellten, sympathisiert klar mit den kleinbürgerlichen Demokraten und behauptet (als ob es eine Tatsache sei), dass Lenin einen bewaffneten Aufstand durchführte, „weil er ausschließen wollte, dass der Kongress eine sozialistische Koalitionsregierung einsetzen würde, in der die gemäßigten Sozialisten großen Einfluss hätten“. (Diese und alle weiteren nicht anders ausgewiesenen Zitate stammen aus Die Sowjetmacht – Das erste Jahr.)

Dieses Argument ist bestenfalls schlitzohrig. Was für eine Koalition sollte das denn sein zwischen den Kämpfern für proletarische Macht und sozialistische Weltrevolution sowie denjenigen Kräften, die während des Aufstands und der acht vorangegangenen Monate den zaristischen und bonapartistischen Generälen und den Kadetten, dieser Partei der Großbourgeoisie, die Stellung hielten bei der Weiterführung des imperialistischen Krieges? Rabinowitch begeistert sich über den „Geist der Zusammenarbeit“, den Martow und andere am ersten Abend des Kongresses beschworen, gibt aber dann selbst zu, dass sich dies „verflüchtigte“, als „die meisten Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Saal verließen, um sich an der Koordination des Widerstands gegen die bolschewistisch geführten Militäroperationen zu beteiligen“. Die Stimme der „gemäßigten Sozialisten“ – das war der Kanonendonner, der sich gegen die Roten Garden und gegen Arbeiterviertel richtete, als Offiziersanwärter in Petrograd wie auch Militärkräfte außerhalb der Stadt unter Alexander Kerenski, dem Führer der gestürzten Provisorischen Regierung, versuchten, die neue Regierung zu zerschlagen.

Kamenjew war zusammen mit Stalin (letzterer verschwand bald im Hintergrund) einer der „März-Bolschewiki“, die in den Wochen vor Lenins Rückkehr aus dem Exil im April 1917 die Partei zur Unterstützung der Provisorischen Regierung und zur Einheit mit den Menschewiki gelenkt hatten. Sie erhoben erneut ihr Haupt, als Lenin nach Finnland floh, um der scharfen Unterdrückung nach dem gescheiterten Juli-Aufstand zu entkommen, der von ungeduldigen Elementen in den Petrograder Fabriken und Kasernen ausgelöst worden war. Kamenjews „gemäßigte Bolschewiki“ steuerten die Partei nun auf den Pfad des bürgerlichen Parlamentarismus und beteiligten sich am Vorparlament und an der „Demokratischen Beratung“ – Gremien, die dazu dienten, die proletarische Revolution abzuwenden. Im Oktober traten Kamenjew und Sinowjew offen als Streikbrecher auf, als sie sich öffentlich gegen den geplanten Aufstand stellten – und das in der menschewistischen Presse. (Alle Daten vor dem 31. Januar 1918, als die Sowjetregierung den modernen Kalender annahm, beziehen sich auf den alten julianischen Kalender, der 13 Tage hinterherhinkte.)

Als das Wikschel, das von Menschewiki/SR dominierte Exekutivkomitee der machtvollen Eisenbahnergewerkschaft, damit drohte, die Eisenbahn unter seine Kontrolle zu bringen, falls die Bolschewiki nicht Einheitsverhandlungen zustimmten, stürzten sich Kamenjew & Co. auf diese Gelegenheit. Die Gespräche mit Wikschel mündeten in einen Vorschlag für eine Mehrparteienregierung, in der die Bolschewiki zu einer ohnmächtigen Minderheit gemacht und Lenin und Trotzki komplett ausgeschlossen worden wären! Kamenjew und andere Bolschewiki, die an den Verhandlungen teilnahmen, unterstützten diesen Vorschlag; David Rjasanow, ein weiterer Rechter, ging sogar so weit, einer nicht-sowjetischen „demokratischen“ Regierung (d. h. einer wieder aufgewärmten Provisorischen Regierung) zuzustimmen. Derartige Versöhnungsversuche konnten nur den Glauben der Menschewiki und SR stärken, die Sowjetregierung stehe am Rande des Zusammenbruchs.

Die Annahme des Wikschel-Vorschlags hätte den Selbstmord der Revolution bedeutet, aber Lenin torpedierte dies sogleich am nächsten Tag, am 1. November. Bei dieser Sitzung des Petrograder Komitees der Bolschewiki gab Lenin die berühmte Erklärung ab – in einer Rede, die später von den Stalinisten unterdrückt wurde: „Trotzki hat längst gesagt, dass eine Einigung unmöglich ist. Trotzki hat das begriffen – seitdem hat es keinen besseren Bolschewiken gegeben“ (Trotzki, Die permanente Revolution, 1930). Lenin drohte Sinowjew, Kamenjew und anderen, sie müssten die Parteidisziplin befolgen und aufhören, mit Feinden der Revolution zu feilschen; sonst würden sie ausgeschlossen werden. Daraufhin gaben sie ihre Regierungsposten auf und traten erbost aus dem Zentralkomitee zurück („auf entsprechenden Druck hin“, wie Rabinowitch das nennt). Sie schworen, den Kampf für eine Allparteienregierung und die Konstituierende Versammlung fortzusetzen. Einige Jahre später kommentierte Trotzki:

„Jene Genossen also, die gegen den bewaffneten Aufstand und die Machteroberung waren und sie als ein Abenteuer bezeichneten, traten nach dem siegreichen Aufstand dafür ein, dass die Macht jenen Parteien zurückgegeben werde, durch deren Bekämpfung das Proletariat die Macht erobert hatte…

Es handelte sich mit anderen Worten darum, durch die Pforte der Sowjets den Weg zum bürgerlichen Parlamentarismus zu finden.“

– Trotzki, „Lehren des Oktobers“ (1924), Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923–1928, Bd. 2, Olle und Wolter, Berlin 1975

In „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, einer Reihe von im September 1917 geschriebenen Artikeln, hatte Lenin die Behauptung des linken Menschewiken Nikolai Suchanow, die Sowjets könnten die bürgerliche Regierung beeinflussen, lächerlich gemacht und Trotzkis Aufruf zu einem Boykott des Vorparlaments und der Demokratischen Beratung energisch zugestimmt. Wo immer die Tore der Revolution nicht felsenfest gegen parlamentarische Illusionen verriegelt wurden, erlitten die Arbeiter verheerende Niederlagen. Nur wenige Monate nach dem Oktober wurde die Finnische Revolution durch Baron Mannerheim und seine deutschen Verbündeten in Blut ertränkt, weil die unentschlossene und heterogene finnische Sozialdemokratie versuchte, sich mitten im Bürgerkrieg an die parlamentarische Demokratie zu klammern. Otto Kuusinen, ein führender linker Sozialdemokrat und späterer Kommunist, erinnert sich: „In der Hoffnung, unsere demokratischen Eroberungen nicht aufs Spiel zu setzen und durch unsere parlamentarische Geschicklichkeit um diesen geschichtlichen Wendepunkt herummanövrieren zu können, entschieden wir, der Revolution auszuweichen… Wir glaubten nicht an die Revolution; wir setzten keine Hoffnung in sie; wir wollten sie nicht“ (zitiert in Serge, „Jahr Eins“). Nur Lenins und Trotzkis harte Linie gegen Beschwichtigung und Koalition machten den Sieg der Russischen Revolution möglich.

Das Argument, auch die Bolschewiki hätten aus formal demokratischen Gründen der Macht entsagen sollen, ist ein immer wieder auftauchendes Steckenpferd von Sozialdemokraten. Als Anfang der 1950er-Jahre dieses Argument in Max Shachtmans Independent Socialist League in den USA aufgegriffen wurde, wandte sich James Robertson, später einer der Gründer der Spartacist-Tendenz, kategorisch dagegen. Eine solche Machtaufgabe wäre „ein Verrat höchster Größenordnung“ gewesen, schrieb Robertson („Should the Bolsheviks Have Surrendered State Power?“ [Hätten die Bolschewiki die Staatsmacht aufgeben sollen?], Forum, Mai 1954). Er beharrte darauf: „Es gab keine andere Partei, die fähig gewesen wäre, Russland mittels Sowjets zu regieren, geschweige denn, die Dritte Internationale auf revolutionärem Kurs zu lenken.“ Robertson betonte, dass eine Machtaufgabe durch die Bolschewiki nicht nur die Niederwerfung des Arbeiterstaats nach sich gezogen, sondern auch die Auslöschung der Bolschewiki als revolutionärer Organisation bedeutet hätte.

Nach der Niederlage der Kamenjew/Sinowjew-Opposition fanden sich die Linken Sozialrevolutionäre damit ab, der Regierung unter den Bolschewiki beizutreten, was sie dann Mitte November auch taten, nachdem sie bereits zuvor das von ihnen dominierte Führungsgremium des Kongresses der Sowjets der Bauerndeputierten, das Zentrale Exekutiv-Komitee der Arbeiter- und Bauern-Sowjets, aufgelöst hatten. Sie schlossen sich den Bolschewiki an, denn, wie Maria Spiridonowa, eine Führerin der Linken SR, erklärte: „So fremd uns ihr grobes Verhalten auch sein mag, … die Massen … folgen [ihnen]“ (zitiert in Die Sowjetmacht – Das erste Jahr).

Die Konstituierende Versammlung

Nachdem es der Konterrevolution nicht gelungen war, die Revolution durch Waffengewalt oder erpresserische „Verhandlungen“ im Keim zu ersticken, stellte sie sich geschlossen hinter die Vorbereitungen für die Konstituierende Versammlung. Während der Monate, in denen die Menschewiki und SR in der Regierung saßen, hatten sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung aufzuschieben. Jetzt forderten sie lautstark eine Konstituierende Versammlung, die sie als Mittel für die „demokratische“ Konterrevolution sahen. Und sie hatten Recht. Für die Bolschewiki klärten die Kämpfe von 1917/18 das Verhältnis zwischen der proletarischen Diktatur (den Sowjets) und der bürgerlichen Demokratie (der Konstituierenden Versammlung). Aufgrund dieser Erfahrungen stellten sich Lenin und Trotzki gegen die Konstituierende Versammlung, die zwangsläufig der proletarischen Macht entgegengesetzt sein musste. Ähnlich wie die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, die Lenin in seinen Aprilthesen verwarf, war auch der Aufruf zu einer Konstituierenden Versammlung ein Überbleibsel des alten bolschewistischen Minimalprogramms für eine demokratische Republik.

Trotz ernsthafter Bedenken stimmte Lenin der vor dem Oktober versprochenen baldigen Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu. Die November-Wahlen basierten auf veralteten Parteilisten, aufgestellt vor der Abspaltung der Linken SR von den rechten SR und vor der Ausbreitung revolutionärer Stimmungen auf die ländlichen Gebiete. Bei diesen Wahlen bekamen die SR eine Mehrheit von insgesamt 58 Prozent. In Petrograd, wo die Massen sehr wohl wussten, wo die verschiedenen Parteien standen, wurden die „gemäßigten Sozialisten“ hinausgedrängt. Die Bolschewiki bekamen 45 Prozent der Stimmen, konzentriert in den Kasernen und Arbeitervierteln, während die Kadetten mit 26 Prozent an zweiter Stelle lagen; diese Stimmen hatten sie von der bürgerlichen Elite und deren Helfershelfern aus der Mittelklasse eingesammelt. Die Gesellschaft war polarisiert: für oder gegen die Revolution.

Wie vorauszusehen, weigerte sich die Konstituierende Versammlung bei ihrer ersten Sitzung am 5. Januar, die Sowjetmacht anzuerkennen, und wurde daraufhin aufgelöst – ohne irgendeinen Mucks von Opposition unter den Massen. Trotzki erinnerte sich an Lenins spätere Feststellung:

„Es war gewiss sehr riskant unsererseits, dass wir die Einberufung nicht auf einen späteren Termin verlegt hatten – es war sehr, sehr unvorsichtig. Aber letzten Endes war es besser so. Die Verjagung der Konstituierenden Versammlung durch die Sowjetmacht bedeutet die offene und vollständige Liquidierung der formalen Demokratie im Namen der revolutionären Diktatur. Das wird eine nachhaltige Lektion sein.“

– zitiert in: Trotzki, Über Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1996

Rabinowitch zeigt recht offen, wo seine Sympathien in der Frage liegen. So lamentiert er: „Der 5. Januar setzte den Bemühungen um die Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems nach westlichem Vorbild in Russland bis zum späten 20. Jahrhundert ein Ende.“ Trotzdem ist er gezwungen anzuerkennen, dass sich die Unterstützung für die Konstituierende Versammlung hauptsächlich auf die privilegierten Klassen beschränkte. Der Wahlerfolg, so kommentiert er, war „eine eindrucksvolle Bestätigung der bolschewistischen Politik und der Sowjetmacht durch die unteren Klassen in Petrograd und Umgebung“. Im Gegensatz dazu war eine Demonstration am 28. November, zu der der Bund zur Verteidigung der Konstituante aufgerufen hatte – ein Block aus Kadetten, Sozialrevolutionären, Menschewiki und liberalen Volkssozialisten –, eine Ansammlung „zumeist gut gekleideter Bürger“, wo „in feurigen Reden das sofortige Ende der Sowjetmacht“ beschworen wurde.

Der von den Kadetten kontrollierte Bund zur Verteidigung der Konstituante beabsichtigte, die Eröffnung der Konstituierenden Versammlung zu benutzen, um einen konterrevolutionären Aufstand zu provozieren. Rabinowitch tut sein Möglichstes, diese Tatsache zu leugnen. Er zetert über Trotzki, weil dieser von einem Aufstand der Kadetten sprach. Die Einstufung der Kadettenpartei als „Volksfeinde“ sowie die Verhaftung einer Reihe ihrer Führer sind für ihn „Provokationen“, die er verurteilt. Er wendet ein, das SR-Zentralkomitee habe doch zuvor ein von deren Militärkommission ausgehecktes Komplott, „führende Bolschewiki zu entführen oder zu ermorden“, formell zurückgewiesen. Jedoch gab es einen Anschlagsversuch auf Lenins Leben am 1. Januar, der, wie Rabinowitch zugibt, „von einer kleinen verblendeten Gruppe junger Armeeoffiziere geplant und ausgeführt worden sei. Sie seien nach Petrograd gekommen, um am Schutz der Konstituierenden Versammlung mitzuwirken.“ Und recht lahm gibt Rabinowitch über die vom Bund zur Verteidigung der Konstituante gesponserte „friedliche“ Demonstration vom 5. Januar zu: „Offenbar trugen sich zumindest einige Initiatoren mit der Hoffnung, dass die Demonstration in einen bewaffneten Aufstand unter der Parole ,Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!‘ münden werde.“

Die von den Menschewiki und SR propagierte Vorstellung, auf der Basis der Konstituierenden Versammlung könnte ein stabiles demokratisches Regime konsolidiert werden, war ein Hirngespinst. Diese Parteien waren im Wesentlichen verbraucht – zur leeren Hülle geworden während ihres monatelangen offenen Verrats im Interesse der Bourgeoisie – und inzwischen zu kaum mehr als einem Anhängsel der Kadetten, Militaristen und der verbündeten Entente-Imperialisten geworden. Die wirkliche Bedeutung der Konstituierenden Versammlung lag in ihrem Wert als „demokratisches“ Feigenblatt der Reaktion. Eine SR-Konferenz im Mai 1918 beschloss, „die bolschewistische Diktatur zu stürzen und eine auf allgemeinem Wahlrecht basierende Regierung zu etablieren, die bereit wäre, im Krieg gegen Deutschland Unterstützung von den Alliierten zu akzeptieren“ (zitiert in E. H. Carr, The Bolshevik Revolution, 1917–1923, Bd. 1 [Macmillan Press, London 1950]).

Dies lieferte die Vorlage für das sogenannte Komitee der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung (Komutsch). Im Juni 1918 setzte dieses von den SR dominierte Gremium in Zentralrussland eine Regierung ein, gestützt auf die Bajonette der Tschechischen Legion, deren Loyalität dem bürgerlichen Nationalisten Thomas Masaryk und dessen Oberherren in Paris und London galt. Rabinowitch konzentriert sich auf Petrograd und erwähnt Komutsch nur nebenbei. Aber Victor Serge sagt kurz und knapp über diese Konterrevolutionäre: „Sobald eine Stadt eingenommen war, wurde sie zum Schauplatz eines anhaltenden Massakers an Kommunisten und Verdächtigten“ (Serge, „Jahr Eins“). Dessen ungeachtet wurde Komutsch, sobald es als ineffektiv bei der Bekämpfung der Roten angesehen wurde, von General Koltschaks Weißen gestürzt, welche sodann eine Reihe von SR-„Demokraten“ hinrichteten.

Entgegen den Absichten und Ansichten des Autors bestätigt das Buch Die Sowjetmacht – Das erste Jahr klar (und das gehört zu seinen Vorzügen), dass die Konstituierende Versammlung auf Schritt und Tritt jenen diente, die die Sowjetmacht verhindern, aufweichen, verneinen und letztlich stürzen wollten. Mit anderen Worten: Sie war ein Schlachtruf der Konterrevolution.

Friedensvertrag von Brest-Litowsk

Kaum hatte die Sowjetregierung die Konstituierende Versammlung aufgelöst, stand sie vor einer noch tiefer gehenden Krise. Der bolschewistisch geführte Zweite Sowjetkongress hatte sich verpflichtet, auf ein sofortiges Ende des Weltkriegs hinzuarbeiten. Die Frage, wie das zu erreichen sei, führte zu heftigen Debatten, die die bolschewistische Partei an den Rand einer Spaltung brachten, und zum Ende der Koalition mit den Linken Sozialrevolutionären. Nur dank Lenins Festigkeit und seiner politischen Autorität überlebten Partei und Staat dies ohne Schaden.

Die Entente-Verbündeten stellten sich taub gegenüber der Friedenserklärung der Sowjets, wogegen die Mittelmächte unter Führung Deutschlands einem Waffenstillstand zustimmten. Deutschland bestand darauf, die Verhandlungen über die Friedensbedingungen in der polnischen Stadt Brest-Litowsk abzuhalten, wo die deutsche Armee ihr Hauptquartier hatte. Die Mittelmächte hatten ihre eigenen Gründe für ein schnelles Ende des Kriegs mit Russland, wie es John Wheeler-Bennett 1938 in seinem gründlichen Bericht Brest-Litovsk: The Forgotten Peace, March 1918 (W. W. Norton & Co., New York 1971) dokumentiert. Die Kriegsmüdigkeit war weitverbreitet: Im Januar 1918 brach in Deutschland ein kurzlebiger revolutionärer Aufstand aus, und Wien wurde überrollt von gewaltigen Streiks gegen die Lebensmittelknappheit, die sofortigen Frieden forderten. Deutschland beabsichtigte, seine Armeen von der Ostfront an die Westfront zu verlegen in der Hoffnung, mit einer letzten Offensive gegen die anglo-französische Entente losschlagen zu können, bevor deren neuer amerikanischer Verbündeter in voller Stärke aufmarschierte; Österreich, völlig ausgeblutet und vor einer Hungersnot, wollte verzweifelt einen Frieden um jeden Preis.

Die Bolschewiki hatten ursprünglich gehofft, die proletarische Revolution in Russland würde innerhalb eines kurzen Zeitraums die Arbeiter in anderen europäischen Ländern dazu inspirieren, ihre Herrscher zu stürzen, und zum Abschluss eines allgemeinen demokratischen Friedens führen. Das sollte jedoch nicht geschehen. Ein beträchtlicher Teil der Parteiführer mit Bucharin an der Spitze argumentierte, dass ein Separatfrieden mit Deutschland Verrat an der Sache der Weltrevolution sei. Sie wiesen prinzipiell jeden Kompromiss mit den Imperialisten zurück und behaupteten, der einzige Weg, der dem Sowjetstaat offen stehe, sei ein revolutionärer Krieg gegen Deutschland, selbst wenn dies den Tod der Revolution in Russland bedeute. Die Logik dahinter war, dass ein isolierter, relativ schwacher Arbeiterstaat niemals zeitweilige Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen könnte und daher immer nur eine kurzlebige Affäre wäre.

Rabinowitch beschreibt, ohne selbst allzu viel zu kommentieren, wie Lenin nach intensiver Forschung und Gesprächen bereits frühzeitig zu der Schlussfolgerung kam, dass sich die russische Armee schnell auflösen und kampfunfähig werden würde. Lenin trat dafür ein, Deutschlands Bedingungen, wie hart sie auch sein mögen, sofort anzunehmen. Mit dieser Position befand er sich im Zentralkomitee in der Minderheit; gegen ihn stellten sich nicht nur die Linkskommunisten, sondern auch Trotzki, der die Mittelposition „Weder Krieg noch Frieden“ einnahm (den Krieg nicht fortsetzen, den Friedensvertrag nicht unterzeichnen). Trotzkis Position setzte sich durch, und daraufhin drang die deutsche Armee rasch Hunderte Kilometer weiter auf sowjetisches Territorium vor. Trotzki gab daraufhin nach, und Lenin überzeugte schließlich die bolschewistische Partei und die Sowjetregierung, sogar noch härteren Friedensbedingungen zuzustimmen, damit die Revolution weiterleben konnte. Es sei notwendig, durchzuhalten, bis die deutsche Revolution herangereift wäre, argumentierte Lenin, weil „wir ohne die deutsche Revolution verloren sind“ (Politischer Bericht des Zentralkomitees, 7. März 1918, Außerordentlicher Siebenter Parteitag der KPR[B]).

Bucharin brach die Disziplin und denunzierte ebenso wie Martow und die Linken SR (und natürlich auch die Menschewiki und SR) öffentlich den Brester Vertrag. Lenin sagte es unverblümt: „Den Frieden zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu unterzeichnen heißt dem deutschen Imperialismus den bewaffneten Aufstand oder den revolutionären Krieg erklären. Das ist entweder eine Phrase oder eine Provokation der russischen Bourgeoisie, die begierig den Einmarsch der Deutschen erwartet“ („Notiz über die Notwendigkeit, den Frieden zu unterzeichnen“, 24. Februar 1918). Die Tatsache, dass sich die Linkskommunisten und Linken SR bei ihrer Ablehnung des Brester Vertrags in einem Block mit den rechtesten Opponenten wiederfanden – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – unterstreicht, dass diese Opposition im Wesentlichen parallel lief zu den Forderungen der Entente-Imperialisten nach einer Weiterführung von Russlands Krieg gegen Deutschland.

Der Vierte Sowjetkongress im März ratifizierte den Vertrag mit überwältigender Mehrheit. Ein Bauern-Delegierter antwortete auf eine Reihe von Gegnern des Friedens und unterstützte mit einfachen, aber machtvollen Worten Lenins Position:

„Genossen, wir haben vier Jahre gekämpft; wir sind erschöpft. Wir haben keine Armee. Wir haben keine Vorräte. Die Deutschen haben eine Armee. Sie steht nur wenige Kilometer vor Moskau und Petrograd. Sie ist bereit, vorzurücken. Wir sind hilflos.“

– zitiert in: Wheeler-Bennett, Brest-Litovsk

Tatsächlich hatte die bolschewistische Führung nur wenige Tage vor dem Kongress den Sitz der Regierung nach Moskau verlegt, um der Schlinge, die deutsche und finnische Kräfte um Petrograd zusammenzogen, zu entkommen. Für Rabinowitch ist das eine Gelegenheit, die Bolschewiki zynisch der Feigheit zu bezichtigen. Er höhnt, „dass die Haupthelden des ,Oktober‘ sich in offenkundiger Panik nach Moskau absetzten“. Was Rabinowitch an der Revolution verabscheut, ist ihre Stärke und Entschlossenheit, wohingegen er jedes Anzeichen von Schwäche und Desorganisation verherrlicht. Aber Lenin und Trotzki waren Revolutionäre, nicht liberale Romantiker. Ihnen war klar, dass proletarische Führer nicht einfach ersetzt werden können.

Das war eine blutige Lehre für das deutsche Proletariat, die es mit dem Leben seiner herausragenden revolutionären Führer bezahlt hat. Als die „gemäßigt sozialistische“ deutsche Regierung im Januar 1919 daran ging, den Spartakusaufstand in Berlin niederzumachen, gingen die Spartakist-Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht aus der Schusslinie und wurden auf Geheiß der Sozialdemokraten durch Freikorps abgeschlachtet, die bereits im Baltikum bei ihrem Kreuzzug gegen den Bolschewismus Blut geleckt hatten.

Der Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre

Rabinowitch gibt zu, dass das Versprechen „sofortiger Friede“ im bolschewistischen Programm von 1917 eine „unwiderstehliche Anziehungskraft“ ausübte. Tatsächlich war das Versprechen von Land und Frieden der Schlüssel dafür, das enorme Gewicht der Bauernschaft – einschließlich der Bauern in Uniform, die den Großteil der Militärgarnisonen ausmachten – hinter dem revolutionären Proletariat zu mobilisieren. Dennoch rechtfertigt Rabinowitch die fanatisch antibolschewistische Reaktion auf die Unterzeichnung des Friedensvertrags. Die Linken Sozialrevolutionäre (gemeinsam mit vier Linkskommunisten) verließen den Sownarkom, also die Sowjetregierung. Die Linken SR, berichtet Rabinowitch, „verstärkten … ihren Guerillakrieg gegen die Deutschen im Baltikum und in der Ukraine“ und „planten … Terroranschläge gegen hochrangige Vertreter Deutschlands“.

Diese Aktionen kamen faktisch einer Kriegserklärung gegen die existierende Sowjetregierung gleich. Trotzdem gestatteten die Bolschewiki den Linken SR, weiterhin beträchtlichen Einfluss in verschiedenen lokalen Sowjets auszuüben sowie auch in der sowjetischen Agentur zur Bekämpfung von Sabotage und Konterrevolution, der Tscheka, bekannt als das „Schwert der Revolution“ und geführt vom polnischen Bolschewiken Felix Dserschinski. Am 6. Juli, kurz nach Eröffnung des Fünften Sowjetkongresses, betraten zwei Linke SR, die Mitglieder der Tscheka waren und sich fälschlich auf Dserschinski beriefen, die deutsche Gesandtschaft in Moskau und ermordeten den deutschen Botschafter. Damit gaben sie das Signal zum bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht.

Aber nicht doch, meint der gelahrte Professor „nach Durchsicht aller verfügbaren veröffentlichten und unveröffentlichten Unterlagen“. Die Ermordung von Graf Mirbach sei keineswegs Teil eines antisowjetischen Aufstands gewesen, sondern lediglich eine „unüberlegte Tat“: „Der Entschluss dazu wurde hastig gefasst“, da „die Hoffnung der Linken Sozialrevolutionäre“, den Brester Vertrag rückgängig zu machen und eine „Änderung der Sownarkom-Politik“ herbeizuführen, sich beim Fünften Kongress „als vergebens“ erwiesen habe. Bei dieser Verteidigung seiner Klienten zieht Rabinowitch schließlich seine Trumpfkarte: Ein antisowjetischer Aufstand „muss den Linken Sozialrevolutionären vollkommen unverständlich erschienen sein, da die Hegemonie demokratischer, revolutionärer Sowjets den Kern ihres Credos bildete“.

Rabinowitch selbst liefert ausreichend Beweise für eine Verschwörung der Linken SR gegen die Sowjetregierung. Es war alles andere als eine hastige Entscheidung; mindestens seit drei Monaten hatten die Linken SR hinter dem Rücken der Regierung und gegen den überwältigenden Willen des Sowjetkongresses geplant, einen erneuten deutschen Angriff auf den Sowjetstaat zu provozieren. Zum Zeitpunkt der Ermordung von Mirbach „versammelte sich praktisch das gesamte Zentralkomitee der Linken Sozialrevolutionäre im militärischen Hauptquartier“ der Tscheka, wo der Linke Sozialrevolutionär Dimitri Popow „beachtliche Truppen“ befehligte. Dserschinski wurde als Geisel genommen. Auf den Kreml erfolgte ein Kanonenangriff.

In jener Nacht besetzte der führende Linke Sozialrevolutionär Prosch Proschjan an der Spitze einer Abteilung von Matrosen das zentrale Telegrafenamt – eine Tatsache, die Rabinowitch herunterspielt und nur in einer Fußnote detailliert ausführt! Proschjan erklärte: „Wir haben Mirbach getötet, der Sownarkom ist verhaftet.“ Er ordnete an, alle von Lenin, Trotzki oder Swerdlow unterzeichneten Telegramme aufzuhalten, da sie für „die augenblickliche Regierungspartei, insbesondere die Linken Sozialrevolutionäre, gefährlich sind“ (Zitate aus Die Sowjetmacht – Das Erste Jahr). Als die Bolschewiki am nächsten Morgen Verhandlungen anboten, um eine in der Pagenschule von Petrograd verschanzte Militäreinheit der Linken SR zum Aufgeben zu bewegen, lehnte diese ab und begann eine wütende Straßenschlacht, in der zehn Soldaten der Roten Armee von den Linken SR ermordet wurden (eine Tatsache, die Rabinowitch weglässt).

Rabinowitch, der Lenin für all das verantwortlich machen möchte, behauptet, die Bolschewiki hätten die Linken SR provoziert und die bolschewistische Mehrheit auf dem Fünften Sowjetkongress „gefälscht“. (Die Anklage der „Fälschung“, gibt der Autor zu, basiert auf „indirekten Beweisen“ und auf der Frage, wie die „geradezu riesige Vorherrschaft bolschewistischer Delegierter“ zustande kommen konnte.) Tatsache ist, dass die Linken SR freiwillig außerhalb des Rahmens der sowjetischen Legalität operierten; drei Monate später versuchten sie in der Zweiten Abteilung der Baltischen Flotte einen zweiten Aufstand. Nachdem sie so politischen Selbstmord begangen hatten, zersplitterten sie sich rasch; die besten Elemente – darunter einer der Attentäter Mirbachs, Jakow Blumkin – gingen auf die Seite der Bolschewiki über. Für die Bolschewiki wiederum hatte der versuchte Aufstand ihrer früheren Verbündeten eine lehrreiche Wirkung, wie Trotzki 1925 in einer Ehrung des bolschewistischen Organisators Jakow Swerdlow festhielt:

„Trotz der Tatsache, dass natürlich von einer Vermischung der Organisationen nie die Rede war, musste der Block mit den Linken SR das Vorgehen unserer Parteieinheiten unweigerlich etwas nebulös machen… Kennzeichnend für die Laxheit, den Mangel an Wachsamkeit und Zusammenhalt unter Parteimitgliedern, die erst vor kurzem in den immer noch jungen Staatsapparat verpflanzt worden waren, ist die einfache Tatsache, dass die Organisation der Linken SR innerhalb der Tscheka-Truppen den Kern des Aufstandes bildete.

Die heilsame Wende fand buchstäblich innerhalb von zwei bis drei Tagen statt. In den Tagen des Aufstands, der von einer herrschenden Partei gegen die andere organisiert wurde, als alle persönlichen Beziehungen plötzlich in Zweifel gezogen wurden und die Funktionäre in den Regierungsabteilungen schwankend wurden, rückten die besten und ergebensten kommunistischen Elemente der verschiedenen Institutionen schnell zusammen und kappten jedes Band zu den Linken SR und bekämpften sie… Man könnte sagen, dass sich die Parteimitgliedschaft just in diesen Tagen mehrheitlich ihrer Rolle als herrschende Organisation zum ersten Mal wirklich bewusst wurde, als Leiter des proletarischen Staates, als Partei der proletarischen Diktatur nicht nur in politischer, sondern auch in organisatorischer Hinsicht.“

– Trotsky, „Yakov Sverdlov“, in: Portraits, Political and Personal, Pathfinder Press, New York 1977

Die Linken Sozialrevolutionäre: eine Bauernpartei

Selbst wenn die Führer der Linken SR meinten, dem Sozialismus und der Sowjetmacht ergeben zu dienen, war ihre Einstellung den Klasseninteressen des revolutionären Proletariats grundsätzlich entgegengesetzt. So schlossen sich die Linken SR nach dem Aufstand sogleich dem Geschrei nach einer Allparteienregierung an und schlugen vor, allerdings erfolglos, dass die Bauerndelegierten die Hälfte des Zentralexekutivkomitees des Sowjets stellen sollten und Vertreter der bürgerlichen städtischen Dumas bis zu einem Drittel (siehe John H. L. Keep, Hrsg., The Debate on Soviet Power: Minutes of the All-Russian Executive Committee of Soviets, Second Convocation, October 1917–January 1918 [Die Debatte über Rätemacht: Protokoll des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses, Oktober 1917–Januar 1918], Oxford University Press, London 1979). Als Populisten sahen die Linken SR keinen fundamentalen Unterschied zwischen der Bauernschaft und dem Proletariat. Dies war „die Partei der Mittelbauern“, wie Victor Serge bemerkt: „So können wir sofort ihr Schwanken verstehen, ihre anarchistischen Tendenzen, ihren Widerwillen gegen den zentralisierten Staat und die reguläre Armee, ihren Hang zum Guerillakrieg, ihre demokratische Mentalität, die so häufig dem diktatorischen Geist der Bolschewiki entgegenstand“ („Jahr Eins“). Das Bündnis der Linken SR mit den Bolschewiki war von seinem Charakter her unbeständig.

Die katastrophale Lage der Sowjetrepublik ließ keinen Spielraum für Romantiker und Illusionäre. In den Monaten vor der Oktoberrevolution hatte Lenin in Artikeln wie „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (September 1917) auf die Erdrosselung der Industrieproduktion und die drohende Hungersnot hingewiesen und war für die sofortige Machtübernahme des Proletariats eingetreten. Nach dem Oktober eskalierten kapitalistische Sabotage und konterrevolutionäre Intrigen immer mehr. Die Situation verschlimmerte sich qualitativ durch den Raubfrieden, durch den Deutschland die Kontrolle über nahezu 70 Prozent von Russlands Metallindustrie, 45 Prozent seiner Ölproduktion und 55 Prozent der Getreideproduktion erlangte. Petrograd und Moskau standen am Rande einer schrecklichen Hungerepidemie und große Teile der Bevölkerung flohen aufs Land. Die klassenbewusstesten Arbeiter waren zu Zehntausenden an die verschiedenen Fronten des Bürgerkriegs oder auch in die Sowjetregierung einberufen worden. Diejenigen, die zurückblieben, waren großenteils verzweifelt und demoralisiert.

Angesichts dieser Situation argumentierten die Linken SR, wie Rabinowitch zustimmend schreibt, es sei „die wichtigste soziale Basis der revolutionären Regierung in der immer noch riesigen, gesunden und politisch begabten Klasse der arbeitenden Bauern zu suchen: in den mittleren und armen Bauern, die ihre eigene bescheidene Scholle bearbeiteten“. Das war ein Argument für die Liquidierung der Klassendiktatur des Proletariats zugunsten einer atomisierten Masse von Kleingrundbesitzern, also nur einen kleinen Schritt entfernt von Anarchie und kapitalistischer Restauration. Die Linken SR waren gegen die Lebensmittel-„Beschaffungsdiktatur“ der Bolschewiki, mit der das unter den bessergestellten Bauern grassierende Getreidehorten verhindert werden sollte. Sie verboten ihren Mitgliedern, sich an den Nahrungsbeschaffungseinheiten zu beteiligen, die für die Versorgung der Städte und der Roten Armee so wichtig waren. Sie kämpften gegen die Bemühungen der Bolschewiki, den Klassenkrieg aufs Land zu tragen durch die Bildung von Komitees der Dorfarmut (Kombedy), und jammerten, in Rabinowitchs Worten, dass eine „ganz neue Kategorie kleiner Landbesitzer“ nun „zu Klassenfeinden erklärt“ werde.

Die Schtschastny-Affäre

Gerade zu dem Zeitpunkt, als die Linken SR ihren antisowjetischen Aufstand planten, versuchten noch unheilvollere Kräfte die Konterrevolution zu schüren, indem sie aus den extremen Schwierigkeiten, vor denen die Sowjetrepublik stand, Kapital zu schlagen versuchten. Rabinowitch offeriert eine seitenlange leidenschaftliche Verteidigung des sowjetischen Marinekapitäns Alexej Schtschastny, der im März 1918 den Befehl über die Baltische Flotte übernahm. Schtschastny, weithin „Admiral“ genannt, errang seine Lorbeeren als Organisator des „Eismarsches“, als über 200 Schiffe, bedroht von deutschen und finnischen Streitkräften, durch eisbedeckte Gewässer den Durchbruch schafften zur relativen Sicherheit in Kronstadt.

In der Geschichtsschreibung von Rabinowitch übernimmt zu diesem Zeitpunkt Trotzki die Rolle des Haupt-Übeltäters, die vorher Lenin innehatte. Rabinowitch klagt, der Führer der Roten Armee habe Schtschastny unter falschem Vorwand verhaften lassen und „eigenhändig eine Untersuchung und ein Scheinverfahren vor Gericht [organisiert], das mit einem Todesurteil endete. Die Anklage lautete auf einen Umsturzversuch gegen die Petrograder Kommune“, die regionale Sowjetregierung. Schtschastny wurde am 21. Juni hingerichtet. Trotzkis angeblich abgekartete Anklage, so berichtet man uns, wurde schließlich 1995 rückgängig gemacht mit der „Rehabilitierung“ des konterrevolutionären Kapitäns … durch das konterrevolutionäre Regime Boris Jelzins! Einige Jahre später veröffentlichte Rabinowitch eine erweiterte russische Version seines Artikels „The Shchastny File: Trotsky and the Case of the Hero of the Baltic Fleet“ [Die Akte Schtschastny: Trotzki und der Fall des Helden der Baltischen Flotte] (Russian Review, Oktober 1999), um den Schwall der antitrotzkistischen Verleumdungen seitens der Apologeten für das neue kapitalistische Russland anzuheizen.

Das war kein Lynchmord, wie Rabinowitch es darstellen möchte, sondern ein notwendiger Kriegsgerichtsprozess zu einer Zeit, als das Schicksal des Sowjetstaates auf des Messers Schneide stand. Trotzkis Biograf Isaac Deutscher erklärte:

„Der Prozess sollte der werdenden Armee die in jeder regulären Armee selbstverständliche Idee einimpfen, dass gewisse Handlungen als Verrat betrachtet und bestraft werden müssen; und er sollte die Offiziere einschüchtern, die mit den Weißen Garden sympathisierten. Im Bürgerkrieg hat eine andere als die Todesstrafe kaum je eine abschreckende Wirkung. Die Furcht vor dem Gefängnis schreckt den potentiellen Verräter nicht, da er in jedem Fall auf den Sieg der anderen Seite hofft, die ihn befreien, ehren und belohnen wird; zumindest rechnet er wohl auch nach dem Bürgerkrieg mit seiner Begnadigung.“

– Deutscher, Der bewaffnete Prophet 1879–1921, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1962

In seinem Drang, Trotzki als Organisator des „vermutlich ... erste[n] sowjetische[n] ,Schauprozess[es]‘ “ zu verurteilen – hier bezieht sich Rabinowitch auf Stalins blutige Säuberungen der späten 1930er-Jahre – verschweigt er die Aussage von Schtschastnys Mitverschwörer Leutnant Fedotow, der in seinen Memoiren 1944 enthüllte, was Schtschastny ihm anvertraut hatte:

„Die Bolschewiki sind deutsche Agenten, sie werden versuchen, die Flotte den Deutschen auszuhändigen, damit diese sie gegen die Alliierten einsetzen können. Aber es wird etwas geschehen, was das verhindert… Die Baltische Flotte machte die bolschewistische Revolution möglich, die Baltische Flotte wird die bolschewistische Macht beenden.“

– zitiert in: Evan Mawdsley, The Russian Revolution and the Baltic Fleet, Macmillan Press, London 1978

Auch ohne Fedotows Erklärung enthält das Buch von Rabinowitch jede Menge Belege, die beweisen, dass die Anklagepunkte gegen Schtschastny keineswegs falsch waren. Nach dem Brester Frieden wurde der Lüge, die Bolschewiki wären deutsche Agenten, neues Leben eingehaucht. Kerenski und die Bourgeoisie hatten diese Große Lüge im Sommer 1917, ein paar Monate vor der bolschewistischen Machteroberung, dazu benutzt, bolschewistische Arbeiter und Soldaten zu jagen und zu terrorisieren. Jetzt, unter striktem Befehl, jede Handlung zu unterlassen, die eine neue deutsche Invasion hätte provozieren können, verbreitete Schtschastny den Irrsinn, die bolschewistische Regierung stehe in einem geheimen Bündnis mit dem imperialistischen Deutschland, um Mütterchen Russland auszuverkaufen. Kein Zufall, wie Rabinowitch in „The Shchastny File“ zugibt, da Schtschastny ein „russischer Patriot“ gewesen sei, der „Berichten zufolge aktiv in einer gemäßigt sozialistischen Organisation von Marineoffizieren“ war (Russian Review, Oktober 1999). Mitten in dieser „gemäßigt sozialistischen“ Verschwörung in der sowjetischen Marine steckte der monarchistische britische Agent Captain Francis Cromie, der seinen Komplizen die Umsiedlung nach Britannien versprochen hatte. Cromie wurde bald darauf bei einem Schusswechsel mit Tscheka-Truppen getötet, als diese ein geheimes Treffen imperialistischer und russischer konterrevolutionärer Agenten sprengten.

Schtschastny und andere Spezis (frühere zaristische Offiziere und Beamte, die bereit waren, als Spezialisten unter den Roten zu arbeiten) riefen zur Kriegsmobilisierung für die Verteidigung des „Vaterlands … nicht der Sowjetmacht“ auf. Er brachte seine Matrosen dazu, die Autorität des neuen Kommissars der Baltischen Flotte, des von Trotzki eingesetzten Iwan Flerowski, abzulehnen. Auf dem Dritten Kongress der Delegierten der Baltischen Flotte warf Schtschastny den Bolschewiki den Fehdehandschuh hin. Er donnerte, „dass der Moment gekommen ist für die Zentralregierung, aufzustehen und gegen die Deutschen zu kämpfen“. Im Mai riefen die Minenleger unter Schtschastnys Kommando dazu auf, die Petrograder Kommune zu ersetzen durch eine Diktatur der Baltischen Flotte, und sie eilten zur Verteidigung zweier „stramm antibolschewistischer“ Offiziere, die diesen Aufruf verbreitet hatten. Als Schtschastny verhaftet wurde, trug er gefälschte Briefe bei sich, die angeblich eine geheime Zusammenarbeit zwischen den Bolschewiki und der deutschen Regierung beweisen sollten. (Dass diese Briefe tatsächlich Fälschungen waren, erwähnt Rabinowitch nur in einer Fußnote.)

So sehr ist Rabinowitch von seinem „Helden“ eingenommen, dass er nicht einmal Trotzkis Aussage zum Fall Schtschastny zitiert. Zum Schluss seiner detaillierten Aussage vor dem Kriegsgericht am 20. Juni 1918 sagte Trotzki:

„Schtschastny vertiefte beharrlich und kontinuierlich die Kluft zwischen der Flotte und der Sowjetmacht. Er schürte Panik und baute sich fortwährend als Kandidaten für die Rolle des Erretters auf…

Wenn die Herren Admirale und Generale während einer Revolution beginnen, ihr eigenes persönliches politisches Spiel zu spielen, müssen sie immer bereit sein, Verantwortung für dieses Spiel zu übernehmen, wenn es verloren geht. Admiral Schtschastnys Spiel ist verlorengegangen.“

– „The First Betrayal“ [Der erste Verrat], in: The Military Writings and Speeches of Leon Trotsky: How the Revolution Armed, Bd. 1, New Park Publications, London 1979

Konterrevolutionäre Agitation in Petrograd

Die Verschwörung in der Baltischen Flotte ging einher mit ähnlichen Entwicklungen in Petrograd. Eine Außerordentliche Versammlung der Delegierten der Petrograder Fabriken und Betriebe (AVD) tauchte im Frühjahr 1918 auf, als die Sowjetregierung aufgrund großer Lebensmittelknappheit in der Stadt besonders angreifbar war. Rabinowitch schildert die AVD als eine Art spontane Basisbewegung, aber die von ihm angeführten Tatsachen beweisen, dass es sich lediglich um ein weiteres Komplott der alten konterrevolutionären „gemäßigten Sozialisten“ handelte, ausgebrütet nach der Auflösung der Konstituierenden Versammlung. Die wenigen Hochburgen der AVD waren Fabriken wie die Obuchow-Werke, die Kriegsmaterial produzierten und wo die Menschewiki und die SR Einfluss behalten hatten. Ein weiteres Beispiel war die San-Gali-Fabrik, wo „die Beziehung zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft während der Revolutionszeit relativ entspannt gewesen“ war und es erst dann kämpferisch wurde, als es gegen die bolschewistische Regierung ging. Mit einem Zitat eines SR-Redners in den Putilow-Werken zeigt Victor Serge das Ausmaß der rückständigen antisemitischen Stimmung, die von der AVD gepflegt wurde: „Los, wir schmeißen die Jids in die Newa, machen ein Streikkomitee und stoppen die Arbeit“ („Jahr Eins“).

Unter dem Banner der Erneuerung der Revolution durch die Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung zielte die AVD darauf ab, die Sowjetherrschaft zu stürzen. Sie beschloss, zum 1. Mai provokativ eine getrennte Demo zu organisieren, von der sich zumindest ein Teil der AVD-Führung erhoffte, sie würde zu blutigen Auseinandersetzungen mit Regierungskräften führen; die Demonstration wurde in letzter Minute abgesagt, weil nur wenige Arbeiter bereit waren, sie zu unterstützen. Am 20. Juni wurde der führende Petrograder Bolschewik W. Wolodarski in der Nähe der Obuchow-Werke ermordet. Während der folgenden zwei Tage taten sich die Minenleger der Baltischen Flotte mit Obuchow-Arbeitern zusammen zu einem Aufstand gegen die Bolschewiki, der aber ohne Erfolg blieb.

Die AVD ging Ende Juli sang- und klanglos unter, nachdem sie für einen Generalstreik am 2. Juli kaum Unterstützung bekommen hatte. Rabinowitch spricht mit Verachtung über ein „zweifelhaftes ,Mandat‘ “ des neugewählten Petrograder Sowjets und verurteilt dessen „harte Gegenmaßnahmen“ gegen den angedrohten Streik – die im wesentlichen darin bestanden, feindliche Druckereien zu schließen, mit Verhaftung der Agitatoren zu drohen sowie bewaffnete Patrouillen auf die Straße zu schicken. Die Ermordung eines bolschewistischen Führers durch SR-Terroristen verdient es nach Rabinowitch hingegen nicht, als brutal charakterisiert zu werden. Stattdessen klagt er, Wolodarski sei bis kurz vor den Wahlen zum Petrograder Sowjet für die „Unterdrückung“ der aufrührerischen Presse der Sozialrevolutionäre verantwortlich gewesen. Die erbitterte Reaktion klassenbewusster Arbeiter auf den Mord an Wolodarski brachte der junge Bolschewik Iljin-Schenewski zum Ausdruck:

„Wir hatten unseren politischen Gegnern jede Möglichkeit gegeben, uns während der Wahlen zum Petrograder Sowjet zu bekämpfen. Wir hatten ihnen die Herausgabe all ihrer Zeitungen erlaubt. Wir hatten ruhig all ihren demagogischen und verleumderischen Reden bei Arbeiterversammlungen zugehört. Wir waren so besorgt, nicht ihre ,Bürgerrechte‘ zu beschneiden. Und nun hatten wir darauf die passende Antwort bekommen.“

– A. F. Ilyin-Zhenevsky, The Bolsheviks in Power: Reminiscences of the Year 1918, New Park Publications, London 1984

Roter Terror kontra reaktionäre Weiße

Vom Spätsommer bis zum Herbstanfang wurde ganz Sowjetrussland überschwemmt von einer Flut von militärischen Interventionen der Entente-Alliierten, konterrevolutionären Komplotten im eigenen Land, Hungersnot und Cholera. Am 30. August ermordeten SR-Attentäter den Führer der Petrograder Tscheka (PTscheka), M. S. Urizki, einen altgedienten Revolutionär und erfahrenen Führer, der 1917 bei der Fusion der Meschrajonzy (der Zwischenbezirksorganisation) gemeinsam mit Trotzki den Bolschewiki beigetreten war. In der gleichen Nacht war es Attentätern fast gelungen, auch Lenin nach einer Fabrikversammlung in Moskau zu töten. Victor Serge bemerkt: „Es herrschte das Gefühl vor, dass nun der Zeitpunkt der Abrechnung da war, wo die Revolution keine andere Alternative hatte als entweder zu zerstören oder zerstört zu werden“ („Jahr Eins“). Um den wütenden Weißen Terror zu bekämpfen, wurde der Rote Terror verkündet.

Rabinowitch dokumentiert zwar die Vielzahl von Verschwörungen und gescheiterten Revolten, die in direkter Kollaboration mit hochrangigen britischen und französischen Agenten stattfanden, findet aber keine Indizien für die „Schlussfolgerung, Urizkis Ermordung sei Teil einer einzigen groß angelegten, nationalen und internationalen Verschwörung gegen die Sowjetmacht gewesen“. Stattdessen denunziert er die Bolschewiki, dass sie den Mord an Urizki und den Mordversuch an Lenin dazu benutzt hätten, „eine Orgie politisch motivierter Geiselnahmen und Erschießungen durch die PTscheka“ in Gang zu setzen und mit „aufpeitschenden“ Leitartikeln eine „Lynchjustiz“ anzuheizen.

Diese „Orgie von Erschießungen“ hatte zur Folge, dass in der Woche nach Urizkis Ermordung etwa 500 Personen in Petrograd und weit weniger in Moskau von der Tscheka getötet wurden; in anderen Städten war die Anzahl der Toten ähnlich oder kleiner. Die in Petrograd erscheinende Krasnaja Gaseta erklärte dann: „Unsere Feinde sollten uns in Ruhe lassen, damit wir ein neues Leben aufbauen können. Wenn sie das tun, werden wir ihren brennenden Hass vergessen und sie nicht mehr stellen“ (zitiert in Serge, „Jahr Eins“). Rabinowitch verschweigt die wirklichen Orgien von Massenmord, die von den Weißen begangen wurden. Serge dokumentiert, dass die Weißen bei ihrem Siegeszug in Finnland an einem Ort Explosivgeschosse benutzten, um 200 Frauen zu erschießen, und an einem anderen Ort 600 Rotgardisten kaltblütig mit Maschinengewehren töteten. Alles in allem ermordeten sie Zehntausende unbewaffnete Arbeiter und deren Familien – und zwar nach der Schlacht.

In Cathy Porters Biografie von Larissa Reissner, die mit 23 Jahren die erste Kommissarin der Roten Armee wurde, werden die Massaker und Pogrome beschrieben, die überall dort geschahen, wo immer die Tschechische Legion und die SR/Komutsch-Regierung gerade ihre Herrschaft ausübten: In Samara „wurden Bolschewiki auf der Straße massakriert, und es gab eine wahre Epidemie von Lynchmorden“; in Kasan „waren die Straßen übersät von nackten, verstümmelten Leichen mit ausgestochenen Augen und dem an der Brust befestigten Parteiausweis“ und so fort (Porter, Larisa Reisner, Virago Press, London 1988).

Rabinowitch erwähnt nicht das wohl wichtigste militärische Ereignis von 1918: die Schlacht von Swijaschsk nahe Kasan (siehe „Larissa Reissner über Trotzkis Rote Armee“, Seite 64). Hier siegte die Rote Armee, mit Trotzkis berühmtem Zug als Nervenzentrum, gegen eine viel größere Streitmacht der Weißen, und fing an, ein wirkliches Heer aufzustellen. Auf Trotzkis Befehl hin wurden 27 Soldaten, darunter mehrere Kommunisten, die in Panik vor dem Feind geflüchtet waren, vor Gericht gestellt und erschossen. Reissner erzählt in ihren um 1922 verfassten Erinnerungen:

„Erstens sprach die ganze Armee davon, dass die Kommunisten sich als Feiglinge gezeigt hätten, dass es für sie kein Gesetz gäbe, dass sie ungestraft desertieren könnten, während man einen einfachen Rotarmisten wie einen Hund erschieße.

Ohne den außerordentlichen Mut Trotzkis, des Armeekommandeurs und der andern Mitglieder des Revolutionären Kriegsrats wäre das Ansehen der in der Armee arbeitenden Kommunisten für lange vernichtet gewesen.“

– Reissner, „Swijaschsk“, Die Front 1918–1919, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1924

Solch harsche Maßnahmen waren notwendig, um die disziplinierte und festgefügte revolutionäre Armee zu schaffen, die in der Folge die Weißen und ihre imperialistischen Verbündeten besiegte. Der Bürgerkrieg wütete noch bis 1920, aber Swijaschsk war ein Wendepunkt.

Die Deutsche Revolution 1918/19

Nur wenige Monate nach dieser Schlacht, als Petrograd den ersten Jahrestag der Oktoberrevolution feierte, kam die aufrüttelnde Nachricht, dass in ganz Deutschland massenhaft Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenräte entstanden und der Kaiser gestürzt worden war. Den Geist des Patriotismus ins Gedächtnis rufend, der die Opposition gegen den Brester Friedensvertrag durchdrungen hatte, schrieb Lenin:

„Der Gram, die Erbitterung und die wütende Empörung, die dieser Frieden hervorgerufen hatte, sind begreiflich, und es versteht sich von selbst: wir Marxisten konnten nur bei der klassenbewussten Vorhut des Proletariats Verständnis dafür erwarten, dass wir dem höheren Interesse der proletarischen Weltrevolution größte nationale Opfer bringen und bringen müssen…

Es ist so gekommen, wie wir gesagt haben.

Der deutsche Imperialismus, von dem manche glaubten, er sei der einzige Feind, ist zusammengebrochen. Die deutsche Revolution, die manchem (um einen bekannten Ausdruck Plechanows zu gebrauchen) ein ,Mittelding zwischen Traum und Komödie‘ zu sein schien, ist Tatsache geworden. Der englisch-französische Imperialismus, der sich in der Phantasie der kleinbürgerlichen Demokraten als Freund der Demokratie, als Verteidiger der Unterdrückten ausnahm, hat sich in Wirklichkeit als eine Bestie entpuppt, die der deutschen Republik und den Völkern Österreichs Bedingungen aufgezwungen hat, schlimmer, als es die Brester waren; als eine Bestie, die die Truppen der ,freien‘ Republikaner, der Franzosen und der Amerikaner, als Gendarmen und Henker, als Würger der Unabhängigkeit und Freiheit der kleinen und schwachen Nationen verwendet.“

– „Wertvolle Eingeständnisse Pitirim Sorokins“ (20. November 1918)

Die Deutsche Revolution scheiterte trotz durchaus günstiger objektiver Umstände. Anstelle einer Partei des bolschewistischen Typus, gestählt durch jahrelangen Kampf und die endgültige Spaltung von den menschewistischen Opportunisten 1912, gab es nur eine Handvoll kleiner revolutionär gesinnter Gruppen, vor allem den Spartakusbund von Luxemburg und Liebknecht, der bis zur Gründung der Kommunistischen Partei Ende Dezember 1918 in Karl Kautskys zentristischer Unabhängiger Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (USPD) geblieben war. Die chauvinistischen Sozialdemokraten unter Noske, Scheidemann und Ebert erlangten die Kontrolle über die Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenräte, kastrierten sie und unterwarfen, in Zusammenarbeit mit der USPD, diese potenziellen Organe der Revolution einer neuen bürgerlichen Regierung, gekrönt von einer demokratischen Nationalversammlung, der deutschen Variante der Konstituierenden Versammlung. Luxemburg und Liebknecht wurden ermordet (und bald darauf auch Luxemburgs polnischer Freund und Genosse Leo Jogiches) und die Revolution in Blut ertränkt. Die von Theodor Dan in Petrograd 1917 vertretene menschewistische Perspektive wurde somit in Berlin 1918/19 bis zum bitteren Ende durchgezogen. Trotzki stellte fest:

„Wenn Sitten und Geist der deutschen Sozialdemokratie der Niedergangsepoche dem Menschewismus überhaupt in Fleisch und Blut übergegangen waren, so schien Dan nachgerade ein Mitglied der deutschen Parteileitung zu sein, ein Ebert kleineren Formats. Der deutsche Dan hat ein Jahr später in Deutschland erfolgreich jene Politik durchgeführt, die dem russischen Ebert in Russland misslungen war. Der Grund lag allerdings nicht in den Menschen, sondern in den Verhältnissen.“

– Trotzki, Geschichte der russischen Revolution

Für Rabinowitch bildet die Niederlage der Deutschen Revolution lediglich die Schlussnote zu seiner Moritat über den „bolschewistischen Extremismus“. Unbeschwert über die Leichenhaufen revolutionärer deutscher Arbeiter hinwegtanzend kommt er zu dem Schluss:

„Für kurze Zeit gab es in Deutschland eine Doppelherrschaft. Arbeiter- und Soldatenräte bestanden neben einer neuen provisorischen Regierung. Die große Mehrheit dieser Räte war von den Gemäßigten beherrscht. Als Anhänger der westlichen parlamentarischen Demokratie konsolidierten sie ihre Machtposition und stellten eine relative gesellschaftliche Ruhe wieder her… Die Abneigung gegen den bolschewistischen Extremismus war ein wichtiger Faktor dafür, dass aus der deutschen Revolution von 1918 eine gemäßigte Regierung hervorging.“

Dieser „gemäßigte“ Ausgang der deutschen Revolution, die Weimarer Republik, war ein krisengeschütteltes Zwischenspiel, das schließlich mit Hitlers Naziregime endete.

Politische Piraten

Damit kommen wir zurück zu den Vermarktern und Presseagenten von Die Sowjetmacht – Das erste Jahr, nämlich der World Socialist Web Site von David North. Wie kann eine angeblich trotzkistische Organisation mit einem Werk hausieren gehen, das feindlich eingestellt ist gegen Lenin, Trotzki und deren Verteidigung des jungen sowjetischen Arbeiterstaats? Tatsächlich steht solcher Antisowjetismus in vollem Einklang mit der Geschichte des Internationalen Komitees (IK) unter North und seinem Vorgänger Gerry Healy. Wenn sie es darauf anlegen, können North und Konsorten durchaus orthodoxen Trotzkismus ausspucken. Um Lenins Begriff zu verwenden, sind sie aber „politische Banditen“, d. h. politische Piraten, die jede Fahne hissen und jedes Ziel angreifen können. Wenn es ihren episodischen, oft grotesken opportunistischen Interessen diente, nutzte das IK ohne Zögern die kapitalistischen Gerichte gegen Opponenten in der Arbeiterbewegung, betätigte sich als gekaufter Presseagent verschiedener ölreicher Regime im Nahen Osten und kroch auch sonst vor fremden Klassenkräften auf dem Bauch. 1966 zerrten die Healyisten in London den erklärten Trotzkisten Ernest Tate vor Gericht, nachdem er versucht hatte, einen brutalen Angriff von Healys Schlägern auf ihn bekannt zu machen. 1981 benutzte Healy die Schauspielerin Vanessa Redgrave als Vorzeige-Anhängerin, um den britischen Sozialisten Sean Matgamna zu verklagen, der auf die Beziehungen des IK mit Oberst Gaddafis Libyen hingewiesen hatte (siehe „Healyismus zerstoben“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 12, Winter 1986/87). Die einzige durchgehende politische Konstante war die beständige Feindschaft gegenüber jeder Verteidigung der Errungenschaften der Russischen Revolution.

Als die Imperialisten in den späten 70er- und 80er-Jahren ihren Feldzug zur Zerstörung des sowjetischen Arbeiterstaates auf Hochtouren brachten, wurden die Healy/North-Gruppen zu Verfechtern der Konterrevolution. Sie bejubelten den Sieg von Chomeinis brutal antikommunistischer „Islamischer Revolution“ im Iran; sie feierten in Afghanistan die Handlanger der CIA, die mörderischen Mudschaheddin, für deren Kampf gegen die sowjetische Rote Armee; sie warben für die von den Imperialisten gesponserten Klerikal-Nationalisten der Solidarność in Polen; sie verteidigten „nationale Rechte“ Seite an Seite mit der von Faschisten durchsetzten Sajudis-Bewegung in Litauen und ähnlich gesinnten baltischen Reaktionären aus den sogenannten „unterjochten Nationen“. So sah der Antikommunismus aus, den Healys IK voll ausspielte, und zwar zu einer Zeit, als North an der Spitze seiner amerikanischen Zweigstelle stand.

Kurz vor dem britischen Bergarbeiterstreik von 1984/85, der seit Jahrzehnten größten Klassenschlacht in Britannien, agierte Healys Workers Revolutionary Party (WRP) als Handlanger der herrschenden Klasse und ihrer Arbeiterleutnants innerhalb der Bürokratie des Gewerkschaftsverbands TUC, als diese gegen die kämpferische Bergarbeitergewerkschaft vorging. So stellte die Zeitung der WRP 1983 den Führer der Bergarbeitergewerkschaft, Arthur Scargill, an den Pranger, weil er zu Recht Solidarność als „antisozialistisch“ bezeichnet hatte. Dieses „Exposé“ war zeitlich so abgepasst, dass es mit der jährlichen TUC-Konferenz zusammenfiel – um in der gewerkschaftsfeindlichen bürgerlichen Presse und unter den Kalten-Kriegs-Bonzen des britischen TUC und der Labour Party einen großen Aufruhr hervorzurufen, den diese dazu benutzten, die Bergarbeiter zu isolieren und ihren Verrat einzuleiten.

Wenige Jahre davor hatte die gesamte Presse der Healyisten (darunter auch das Bulletin unter North) den Mord an 21 Mitgliedern der Kommunistischen Partei Iraks im Jahr 1978 – der historisch die Loyalität von Schlüsselsektoren des Proletariats in diesem Land gehörte – durch Saddam Husseins baathistisches Regime gutgeheißen (siehe: „Healyites: Kill a Commie for Gaddafi“ [Healyisten: Bring einen Roten für Gaddafi um], Workers Vanguard Nr. 230, 27. April 1979). Für diese und ähnliche Dienste im Interesse einer Reihe von arabischen Scheichs, Obristen und Diktatoren erhielt das IK – wie es selber zugibt – mehr als eine Million britische Pfund, u. a. von den Herrschern des Irak, von Libyen, Kuwait und Abu Dhabi (siehe zum Beispiel „Das Katzengold des David North“, Spartakist Nr. 91, November/Dezember 1991). Heute möchte North diese Verbrechen als das Werk des „Gründer-Führers“ Gerry Healy hinstellen. Mit Wahrheit hat das nichts zu tun.

Kein einziger der IK-Führer wandte sich gegen den scheußlichen Verrat, den das IK wiederholt beging, um das Geld einzusacken, das von bürgerlichen Regimen im Nahen Osten floss. Ganz im Gegenteil, Healy wurde von seinen bis dahin loyalen Leutnants, darunter North, erst dann abgesetzt, nachdem diese Geldflut versiegt war. Als Healys Organisation 1985 implodierte, salbte sich North selbst zum neuen König des übrig gebliebenen Misthaufens. Den Untergang der UdSSR – zu dem das IK selbst beigetragen hatte – nahm North zum Anlass, die Gewerkschaften auf der ganzen Welt als Werkzeuge der Bourgeoisie abzuschreiben („The End of the USSR“, Bulletin, 10. Januar 1992). Auch jeglichen Kampf für nationale Selbstbestimmung (eine Forderung, die die North-Anhänger vehement unterstützt hatten, als sie der Sache des Antisowjetismus diente) wies North bald als hoffnungslos reaktionär zurück.

Derselbe David North, der jetzt das antikommunistische Buch von Robert Service, Trotsky: A Biography des Rufmords beschuldigt, hat sich selber seine Sporen durch Rufmord verdient: In den 1970ern erklomm er die Spitze der Healy-Organisation in den USA über den politischen Leichnam seines Vorgängers Tim Wohlforth, indem er die psychotische Schmähschrift „Security and the Fourth International“ mit verfasste. Mit haltlosen Anschuldigungen wird darin die revolutionäre Integrität einiger von Trotzkis engsten Mitarbeitern in den späten 1930ern angefochten, so etwa von Führern der damals trotzkistischen Socialist Workers Party in den USA: Sie seien gleichzeitig Agenten des FBI und der stalinistischen Geheimpolizei gewesen. Die Schrift „Verteidigung von Sicherheit und die Vierte Internationale“ vertreibt die World Socialist Web Site von North stolz bis zum heutigen Tag.

Vor ein paar Jahren hisste North seine neueste Fahne – als wortgewandter pseudoakademischer Verteidiger Leo Trotzkis gegen antikommunistische Historiker wie Robert Service, Geoffrey Swain und Ian Thatcher. Wie bringt North das nun in Einklang mit seiner Bewunderung für Rabinowitchs antibolschewistisches Traktat? Durch die ausgeleierte Methode, die von Josef Stalin am klarsten ausgedrückt wurde: Papier ist geduldig (und genauso Cyberspace). In ihrer 2007 erschienenen Rezension des Buches Die Sowjetmacht – Das erste Jahr retuschieren North und Choate einfach viele der offensichtlichsten antileninistischen Schandflecke weg. Rabinowitch ist ungeachtet seiner liberal-demokratischen Vorurteile ein fähiger und ernsthafter Historiker. Die North-Leute sind einfach nur politische Gauner. Nur derartige Typen können nach Lektüre dieses Buches Rabinowitch für seine „konsequente Objektivität“ loben und behaupten, er erweise sich als Gegner der „,Pro-Demokratie‘-Richtung, die die Oktoberrevolution ablehnte und die Sowjetunion als ein gescheitertes Menschheitsexperiment ansah“.

Um das hinzukriegen, bedarf es einer ganzen Menge Schönfärberei. Die Rezension der North-Leute bringt nicht den geringsten Hinweis auf die Haltung von Rabinowitch bzw. auf ihre eigene Einstellung zur Konstituierenden Versammlung und deren Auflösung. (Stattdessen heißt es, er „bewertet die Auseinandersetzungen … vollkommen anders als die meisten gängigen antibolschewistischen Darstellungen“.) Auch findet man kein Wort über Rabinowitchs Sympathie für die Gegner des Brester Vertrags oder auch sein liberales Moralisieren über den Roten Terror. Und die paar Kritikpunkte, die North und Choate aufbringen, sind in einem über den Dingen stehenden, kollegialen Ton gehalten. (Die Einleitung der deutschen Ausgabe erwähnt nicht einmal diese.)

Hinsichtlich einer Allparteien-Koalitionsregierung schreiben North und Choate: „Man spürt, dass der Historiker Sympathien für die Gemäßigten hegt. Aus dem Material, das Professor Rabinowitch präsentiert, lässt sich allerdings schwerlich ableiten, wie deren Bemühungen um einen politischen Kompromiss mit den Menschewiki hätten Erfolg haben können, ohne den Sturz der Provisorischen Regierung rückgängig zu machen.“ Das kann man wohl sagen! Man merkt, dass die North-Anhänger über die „immer rigorosere“ Linie Lenins und Trotzkis ein gewisses Unbehagen hegen, die sie freilich der „Sturheit der Gegner der Bolschewiki“ zuschreiben. Kurz gesagt, das Problem bestehe darin, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht ohne Hintergedanken verhandelten.

North und Choate kritisieren Rabinowitch wegen seiner giftigen Denunzierung von Lenins Brief vom 22. Mai 1918, veröffentlicht unter dem Titel „Über die Hungersnot“. Darin bezeichnet Lenin die Linken SR als charakterlos und drängt die Arbeiter von Petrograd, bei den Abteilungen für Lebensmittelbeschaffung eine Vorkämpferrolle zu spielen. Rabinowitch schäumt, der Brief „ködert die Arbeiter, damit sich diese einer heiligen Prozession aufs Land anschließen“ [fehlt in der deutschen Ausgabe!], er sei „zornig“ und „hemmungslos“. Beschwichtigend geben North und Choate zu bedenken: „Lenin legte seine Politik offen und ehrlich dar“, um dann den Leser als Schlichter einzusetzen: „Mag der Leser selbst entscheiden, ob er darin ,hemmungslos vom Leder zog‘.“ Sogleich versichern sie dem Leser, dies sei ohnehin keine große Frage, da Lenin selbst später zugegeben habe, dass „ganz außerordentlich gesündigt“ wurde. Ja, das hat er tatsächlich gesagt, aber Rabinowitch verurteilt als außerordentliche Sünde die gesamte Politik der Bolschewiki gegenüber der Bauernschaft und den Linken SR!

Der einzige Abschnitt in Rabinowitchs Buch, der North und Choate ernstlich beunruhigt, betrifft die Behandlung des Falls Schtschastny: Es ist „eines Historikers vom Rang Rabinowitchs einfach nicht würdig, Trotzki der Teilnahme am ,vermutlich ersten‘ sowjetischen ‚Schauprozess‘ zu bezichtigen… Bleibt zu hoffen, dass Rabinowitch die Affäre Schtschastny überprüfen … wird.“ Das ist ein simpler geschäftlicher Ratschlag. Denn es würde eher schaden, wenn Rabinowitch statt als „vollkommen anders“ nur noch als Allerwelts-Antibolschewik gesehen würde, und zudem die Bemühungen von North untergraben, sich in akademischen Kreisen als der Verteidiger Leo Trotzkis zu etablieren. Die Rezensenten fragen: „… sollte der Autor da nicht etwas zurückhaltender sein, anstatt vorschnell den Stab über Trotzki zu brechen?“ Etwas zurückhaltender – etwa so wie North es mit Rabinowitch hält. Und verständnisvoller – es sei nicht Trotzkis Schuld, wenn er ein brutaler Schläger war: „Die Strenge, die er [Rabinowitch] in Trotzkis Verhalten (besonders Schtschastny gegenüber) ausmacht, lässt die Brutalisierung außer Acht, die im Ersten Weltkrieg sowohl die russische als auch die westeuropäische Gesellschaft ergriffen hatte.“

North: Verteidigung des sozialdemokratischen Antikommunismus

Solch liberaler Einheitsbrei ist für das Buch Verteidigung Leo Trotzkis von North (Mehring Verlag, Essen 2010) geradezu typisch. Der „Trotzki“, den North gegen antikommunistische Historiker verteidigt, wäre bei jeder liberalen/sozialdemokratischen Soiree gern gesehen: ein großer Schriftsteller, ein brillanter, witziger Geschichtenerzähler und zudem ein liebevoller Ehemann, Vater und Sohn – ganz zu schweigen davon, dass er ein hartnäckiger Gegner und schließlich ein Opfer des stalinistischen Totalitarismus wurde. Hier findet sich keine Spur von dem Trotzki, der eisern die Rote Armee schmiedete, die eine Heerschar imperialistischer und einheimischer konterrevolutionärer Armeen bezwang; der Schwankende, Beschwichtiger und Feinde der Revolution polemisch zerfetzte; der bis zu seinem Tod für die bedingungslose militärische Verteidigung des ersten Arbeiterstaates kämpfte. North lässt uns nicht im Zweifel über seine Adressaten: „Harvard University Press hat sich mit Schande bedeckt“, schreibt er, weil diese das Buch Trotsky: A Biography von Robert Service herausbrachten. Harvard, eine Denkfabrik für den US-Imperialismus samt seinen Verwüstungen, hat sich also erniedrigt, weil sie eine Schmierschrift gegen Trotzki veröffentlichte!

Es ist nicht überraschend, dass die Frage der bedingungslosen militärischen Verteidigung der UdSSR kein einziges Mal in Norths Buch auftaucht. Nachdem er sich jahrelang abgemüht hat, die Sowjetunion zu zerstören, beklagt North nur, dass nach ihrer Zerstörung die Verleumdungen gegen Trotzki nicht aufhörten. Natürlich darf North sich nicht explizit von der Oktoberrevolution lossagen. Stattdessen setzt er Lenin herab, den Gründer und die Verkörperung des Bolschewismus.

Um nur ein Beispiel zu geben: North stellt den Kosmopoliten Trotzki gehässig dem Großrussen Lenin gegenüber: „Lenins gesamtes Wesen ist in der russischen Revolution aufgehoben. Doch für Trotzki war sie eine Episode in seinem Leben – eine sehr große Episode, gewiss, aber eben doch nur eine Episode im größeren Drama der sozialistischen Weltrevolution.“ Wer würde daraus entnehmen, dass Lenin, einzigartig unter den revolutionären Sozialdemokraten, seit Beginn des Ersten Weltkriegs für die Gründung einer neuen, Dritten Internationale kämpfte sowie für den völligen, endgültigen Bruch mit den Sozialchauvinisten der Zweiten Internationale – wohingegen sich Trotzki bis weit in den Krieg hinein gegen diese Schlussfolgerung stemmte. Ohne Lenins Kampf hätte es keine Oktoberrevolution gegeben.

Die Unterstellungen, mit denen North um sich wirft, um den zentralen bolschewistischen Führer als engstirnigen russischen Provinzler darzustellen, sind einfach verleumderisch. In einem Artikel vom Dezember 1914, „Über den Nationalstolz der Großrussen“, stellt Lenin die revolutionären Traditionen der russischen Massen den Gräueltaten und der Infamie der zaristischen Autokratie gegenüber, um gegen die „Verteidigung des Vaterlands“ und für die nationalen Rechte der von Russland unterdrückten Völker zu argumentieren. North zitiert einen aus dem Zusammenhang gerissenen Absatz dieses Artikels und kommentiert: „Lenin war der Autor dieser Zeilen, doch man täte ihm Unrecht, würde man diesen Artikel als politisches Zugeständnis an den großrussischen Chauvinismus werten.“ „Unrecht“, ja wirklich! North schreibt weiter:

„Was Lenin als Tribut an die großen revolutionären Traditionen der großen russischen Arbeiterklasse verstanden wissen wollte [!], wurde von eher rückständigen Teilen der Parteiarbeiter aller Wahrscheinlichkeit nach [!!] als Loblied auf die revolutionären Fähigkeiten der Großrussen interpretiert. Und dies ist ungeachtet seiner linken Form eine Spielart des Chauvinismus mit gefährlichen politischen Implikationen, wie Trotzki 1915 aufzeigte.“

Verteidigung Leo Trotzkis

Praktisch impliziert North hier, Trotzki habe Lenins angebliche Anbiederung an den großrussischen Chauvinismus verurteilt. Hier will North eine stalinistische Lüge verkaufen, die Trotzki schon vor mehr als 80 Jahren widerlegt hat. In Die Dritte Internationale nach Lenin (1928) hatte Trotzki, um „Sozialismus in einem Land“ anzugreifen, eine Stelle aus einem Artikel von 1915 zitiert, wo er gegen die Sozialchauvinisten polemisierte, welche „die Perspektive der sozialen Revolution im nationalen Rahmen betrachten“. North zitiert diese Stelle in verstümmelter Form mit einer Reihe von Auslassungen, um Argumente gegen Lenin zu liefern, verschweigt aber die Tatsache, dass Trotzki unmittelbar nach dem Zitieren dieses Artikels hinzugefügt hatte: „Ausgehend von einer falschen Interpretation der Polemik von 1915 hat Stalin mehrfach versucht, die Sache so darzustellen, als ob ich mit ,nationaler Engstirnigkeit‘ Lenin gemeint hätte. Einen größeren Unsinn kann man sich kaum vorstellen.“ Das ließe sich genauso gut über die „Verteidigung“ Trotzkis durch David North sagen.

David North & Co. verreißen Lenin, erheben Trotzki zur Ikone und beten die Sozialdemokratie an. Der Anspruch von North auf akademische Sorgfalt ist genauso hohl wie der auf Trotzkismus. Alexander Rabinowitch dagegen kann einen gewissen Grad an Beständigkeit beanspruchen. So erklärte Rabinowitch 1978 in einer Rezension der Biografie Leon Trotsky des linken Sozialdemokraten Irving Howe unverhohlen:

„Isoliert und überlastet degenerierte die Diktatur der Partei [unter Lenin] in den stalinistischen Totalitarismus…

Doch trotz seiner nachhaltigen Kritik an Stalin stellte Trotzki bis zu seiner Ermordung 1940 in Mexiko die Gültigkeit seiner vorrevolutionären Annahmen über die Aussichten für den Sozialismus in Russland nicht in Frage.“

Nation (23. September 1978)

Das zumindest ist wahr. Trotzki stellte nie die Gültigkeit seiner Theorie der permanenten Revolution in Frage und auch nicht die welthistorische Bedeutung der Oktoberrevolution. Bis zum bitteren Ende kämpfte er darum, die Errungenschaften dieser Revolution zu verteidigen, sie zum internationalistischen, befreienden Programm des Bolschewismus zurückzuführen gegen die nationalistische und antirevolutionäre stalinistische Bürokratie. Antikommunistische Verleumdungen werden nicht verhindern, dass das Leuchtfeuer des Bolschewismus für die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt erneut erstrahlen wird.