Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 29

Sommer 2013

 

Die Neo-Kautskyaner: Neuaufguss der Zweiten Internationale

Karl Kautskys politischer Bankrott trat offen zu Tage, als er zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Abstimmung der SPD für die Kriegskredite unterstützte und in der Folge zum „linken“ Ideologen des Feldzugs der Imperialisten gegen die bolschewistische Revolution von 1917 wurde. Seine antikommunistischen Ansichten und parlamentarisch-reformistische Praxis wurden in Lenins Staat und Revolution (1917) und Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (1918) sowie in Trotzkis Terrorismus und Kommunismus (1920) – um nur die umfassendsten Schriften dazu zu nennen – gründlich aufgedeckt und widerlegt.

Heute ist Kautsky der neue Held einer Vielzahl reformistischer linker Gruppen, insbesondere jener, die mit der britischen Zeitschrift Historical Materialism und deren diversen Konferenzen und Buchprojekten verbunden sind. Ein eklatantes Beispiel dafür sind die überschwänglichen Reaktionen auf den in der Buchreihe „Historical Materialism“ erschienenen Sammelband Witnesses to Permanent Revolution: The Documentary Record [Zeugen der permanenten Revolution: Eine Dokumentation] (Haymarket Books, Chicago 2011), der Dokumente aus der Zeit der Russischen Revolution von 1905 enthält. Das bisher auf Englisch nicht verfügbare Material von Kautsky soll – so hoffen die Herausgeber Richard B. Day und Daniel Gaido – „dazu beitragen, das stereotype und irrige Bild Kautskys als Apostel des Quietismus und Reformist, der sich in einen Mantel revolutionärer Phraseologie hüllt, zu überwinden“. Ihnen zufolge ist das eine langjährige „Überverallgemeinerung“, die „auf Kautskys antibolschewistischen Polemiken nach 1917 fußt“.

Heute hat sich der Großteil der (gerade noch) nominell marxistischen Linken, die jahrelang mit dem „demokratischen“ Imperialismus gemeinsame Sache gegen die Sowjetunion machten, noch tiefer in der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie eingenistet. Diese Gegner der revolutionär-internationalistischen Arbeiterbewegung stehen der bolschewistischen Revolution und ihrer welthistorischen Bedeutung als Vorbild der sozialistischen Revolution feindlich gegenüber – in Taten und verstärkt auch in Worten. Der Bolschewismus festigte sich nicht nur durch die reichhaltige Erfahrung der revolutionären Bewegung in Russland, sondern auch durch die besten Methoden der Arbeiterbewegung in ganz Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Die Neo-Kautskyaner unserer Tage verwerfen dieses Erbe, um stattdessen den opportunistischen Praktiken der deutschen Sozialdemokratie Beifall zu zollen. Aus diesem Grund wollen sie die gähnende Kluft leugnen, die die Dritte Internationale von der Zweiten trennte.

Paul LeBlanc von der amerikanischen International Socialist Organization (ISO) behauptet in einer Rezension, dass es „Karl Kautsky ist, der sich in Sachen Theorie als revolutionärer Held [des Buches] herausstellt“. Er fügt hinzu: „Die Qualität seiner marxistischen Analysen – wie diese Seiten zeigen – ist von hohem Kaliber“ (International Socialist Review, März/April 2012). Ben Lewis von der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) preist das Buch besonders dafür, dass es „die allzu verbreitete Ablehnung“ des „Erbes von Karl Kautsky und des ,Marxismus der Zweiten Internationale‘ schlechthin“ widerlege („Permanent Revolution and the Battle for Democracy“ [Permanente Revolution und die Schlacht für Demokratie], Weekly Worker, 9. August 2012).

Anhänger der ISO, des Vereinigten Sekretariats (VS) und der britischen Socialist Workers Party (SWP) spielen unter den Historical-Materialism-Machern eine prominente Rolle. Die CPGB und andere verfechten die Ansichten des Akademikers Lars T. Lih aus Montreal, der seine ganze Karriere darauf aufgebaut hat, Lenins grundlegenden Bruch mit der von Kautsky und der Zweiten Internationale gehuldigten Konzeption der „Partei der Gesamtklasse“ zu leugnen, also einer einzigen Partei, die die gesamte Arbeiterklasse umfasst.

1904–06 verwendete Kautsky manchmal in Bezug auf Russland linkere Formulierungen, aber daheim spielte er seine charakteristische Rolle: linke Kräfte innerhalb der SPD zu beschwichtigen, um es dem rechten Flügel zu erleichtern, den Kurs der SPD zu bestimmen. So bemerkte Paul Frölich 1939 in seiner Biographie von Rosa Luxemburg sarkastisch über diese Periode: „Kautsky zog bereitwillig revolutionäre Folgerungen, wenn es sich um andere Länder, um die Vergangenheit oder die ferne Zukunft handelte“ (Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1967).

Um Kautskys revolutionäre Verdienste in der Periode vor 1914 aufzublasen, greifen Day und Gaido auf Auslassungen, Halbwahrheiten und Entstellungen zurück. So behaupten sie in der Einleitung zu ihrem Buch, Trotzki komme in seinem Nachruf auf Kautsky 1938 zu dem Schluss, dieser sei „letztendlich … nur zur Hälfte ein Renegat“ gewesen. Tatsächlich ging es Trotzki aber darum, die Kontinuität von Kautskys Opportunismus hervorzuheben:

„Was jedoch seine Person betrifft, so war er seiner Vergangenheit gegenüber sozusagen nur zur Hälfte ein Renegat. Als die Probleme des Klassenkampfes sich in ihrer ganzen Schärfe stellten, sah sich Kautsky gezwungen, die letzten Schlussfolgerungen seines organischen Opportunismus zu ziehen.“

– „Karl Kautsky“ (November 1938), unsere Hervorhebung

Ähnlich steht es mit Days und Gaidos Bezugnahme auf den Amsterdamer Kongress der Zweiten Internationale im Jahre 1904, welcher den Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre Millerand in die bürgerliche Regierung von 1899 verurteilte. Was sie nicht sagen: Für den Pariser Kongress 1900, wo die Frage akut gestellt war, verfasste Kautsky eine vom Kongress sodann angenommene Resolution, die Millerand nicht verurteilte, sondern die Möglichkeit einräumte, solcher Klassenverrat könne als „ausnahmsweiser Notbehelf“ angebracht sein (siehe „Marxistische Prinzipien und Wahltaktik“, Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 27, Frühjahr 2009). Day und Gaido behaupten auch, Kautsky habe sich beim „Streit mit theoretischen und gewerkschaftlichen Revisionisten in Deutschland“ auf die Seite Luxemburgs gestellt, der Führerin des linken Flügels der SPD. Aber sie erwähnen nicht, dass Kautsky Rosa Luxemburg in der Massenstreik-Debatte 1906 im Stich ließ und stillschweigend in einen Kuhhandel mit der opportunistischen Gewerkschaftsführung einwilligte, was eine frühere Parteitagsentscheidung für die Massenstreik-Taktik über Bord warf (siehe Carl E. Schorske, Die große Spaltung: Die deutsche Sozialdemokratie von 1905 bis 1917, Olle und Wolter, Berlin 1981).

Vor 1914 sahen die Führer der russischen revolutionären Sozialdemokratie Kautsky als den führenden marxistischen Theoretiker seit Engels an, und Kautskys historische Werke trugen wirklich dazu bei, eine Generation von Marxisten auszubilden. Danach jedoch begannen Lenin, und etwas später Trotzki, die Wurzeln von Kautskys Verrat auf seinen früheren politischen Werdegang zurückzuführen. 1919 schrieb Lenin, dass die proletarische Bewegung unter der Zweiten Internationale in die Breite wuchs, was jedoch „nicht ohne zeitweiliges Sinken des revolutionären Niveaus, nicht ohne zeitweiliges Erstarken des Opportunismus abging, der schließlich zum schmählichen Zusammenbruch dieser Internationale führte“ („Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte“, April 1919). Er fuhr fort: „Die III. Internationale übernahm die Früchte der Arbeit der II. Internationale, beseitigte ihren opportunistischen, sozialchauvinistischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Unrat und begann, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.“

Gerade dieser Unrat ist es, der das Wesen verschiedener postsowjetischer Reformisten ausmacht, die für Einheit auf der Grundlage liberaler Demokratie oder noch Schlimmerem eintreten – Gruppen wie das VS, die SWP und ISO begeistern sich für Syriza in Griechenland, Québec Solidaire in Kanada und anderes (z. B. die Muslimbruderschaft in Ägypten). CPGB-Sprecher Lewis spricht es recht unverhohlen aus: „Die besonders grobschlächtige Interpretation der Dritten Internationale seitens der heutigen Linken und ihre Geringschätzung der revolutionären Traditionen der Zweiten Internationale haben mit dahin geführt, wo wir heute stehen – d. h. organisiert in einem Haufen konkurrierender Sekten-projekte mit praktisch keinerlei unmittelbarer Aussicht auf Einheit in einer revolutionären Partei“ („Debating the Republic and Extreme Democracy“, Weekly Worker, 17. November 2011). Lewis setzt seine Hoffnungen darauf, dem von Rosa Luxemburg so treffend benannten „stinkenden Leichnam“ der Zweiten Internationale neues Leben einzuhauchen.

Trotzki, Kautsky und permanente Revolution

Day und Gaido verwechseln parlamentarischen Kretinismus mit permanenter Revolution, wenn sie behaupten, Kautsky sei „der erste westeuropäische Marxist, der die Theorie der permanenten Revolution auf Ereignisse im Russischen Reich anwandte“. Die acht Artikel von Kautsky, die in diesem Buch abgedruckt sind, lassen aber keinerlei derartigen Schluss zu. Kautsky benutzte zwar hin und wieder die Formulierung „permanente Revolution“, wenn er nämlich aus Marx’ und Engels’ Schriften von 1850 zitierte, doch über das Konzept einer radikalen bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland ging er nie hinaus.

Schon Ende 1905 hielt Trotzki kategorisch fest: „Wie wir bereits sagten, lässt die russische Revolution die Errichtung irgendeiner Art bürgerlich-konstitutioneller Ordnung, die auch nur die grundlegendsten Aufgaben der Demokratie lösen könnte, nicht zu“, und er fügte an: „Der ganzen Logik seiner Position entsprechend“ wird das Proletariat an der Macht „gezwungen sein, direkt kollektivistische Methoden in Angriff zu nehmen“ („Foreword to Karl Marx, Parizhskaya Kommuna“ [Vorwort zu Karl Marx’ Die Pariser Kommune], Dezember 1905). Im Gegensatz dazu beruhte sogar der am radikalsten klingende Artikel Kautskys, „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution“ (November 1906), auf „bewusster Mehrdeutigkeit“, wie Day und Gaido auch zugeben. Kautsky warnte zwar vor Illusionen in die liberale Bourgeoisie, schrieb aber: „So erscheint es undenkbar, dass die jetzige Revolution Russlands bereits zur Einführung einer sozialistischen Produktionsweise führt, auch wenn sie zeitweilig die Sozialdemokratie ans Ruder bringen sollte.“

Lenin, der ja gerade die Partei schmiedete, die die Perspektive der permanenten Revolution in die Praxis umsetzte, wird von Day und Gaido nicht als „Zeuge“ aufgeführt. Vor 1917 verstand Lenin das Verhältnis der Arbeiter zu den Bauern in der russischen Revolution in algebraischer Weise, ausgedrückt in seiner Formel der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Doch die bolschewistische Partei war durchdrungen von kompromissloser Gegnerschaft zur liberalen Bourgeoisie und vom Verständnis, dass die Arbeiter sich für einen revolutionären Aufstand gegen den Klassenfeind bewaffnen müssen. Dementsprechend sah Lenin den Moskauer Aufstand Ende des Jahres als den Höhepunkt der Revolution von 1905.

Davon war Kautsky himmelweit entfernt – schon seit den 1890er-Jahren waren seine Schriften von parlamentarischen Illusionen und der Verherrlichung einer friedfertigen Revolution durchtränkt. In „Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie“ (1893) schrieb Kautsky ausdrücklich: „Jetzt schon beginnt es offenbar zu werden, dass ein wirklich parlamentarisches Regime ebenso gut ein Werkzeug der Diktatur des Proletariats sein kann, als es ein Werkzeug der Diktatur der Bourgeoisie ist.“ In einer in Witnesses to Permanent Revolution abgedruckten Schrift argumentiert Kautsky: „Sie [die Revolution] muss sich vollziehen nicht durch Methoden des Krieges, sondern durch solche des Friedens“ („Wie weit ist das Kommunistische Manifest veraltet?“, 1904).

In dem Artikel „Allerhand Revolutionäres“ vom gleichen Jahr, einer Antwort auf Michal Lus´nias Polemik „Unbewaffnete Revolution?“, verneinte Kautsky jede Aussicht eines bewaffneten Aufstands. Als Kronzeugen zitierte Kautsky unverschämterweise die verfälschte SPD-Version von Engels’ 1895er Einleitung zu Marx’ Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. Engels hatte sich hartnäckig gegen die nicht autorisierten Änderungen an seiner Einleitung gewehrt, so auch in einem Brief an Kautsky vom 1. April 1895, in dem er die Versuche der SPD-Führer verurteilt, ihn „als friedfertige[n] Anbeter der Gesetzlichkeit quand même“ [unter allen Umständen] dastehen zu lassen.

Kautskys Ansichten standen in scharfem Gegensatz zu dem von Marx und Engels nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 entwickelten Verständnis, dass das Proletariat nicht einfach die bestehende Maschinerie des kapitalistischen Staates in Besitz nehmen kann, sondern diese durch sozialistische Revolution zerstören muss. Angefangen mit Marx’ Kritik am Gothaer Programm von 1875 und an der darin enthaltenen Forderung nach einem „freien Staat“ unterdrückte und zensierte die SPD-Führung eine Reihe von Schriften, in denen Marx und Engels die Weichheit der SPD gegenüber dem bürgerlichen Staat kritisierten.

Das ist also eine dieser „Traditionen der Zweiten Internationale“, die von den heutigen Neo-Kautskyanern hochgehalten werden. Lewis von der CPGB beschreibt die Pariser Kommune als „die demokratische Republik von 1871“ und argumentiert weiter: „Die Frage des Republikanismus ist bedeutsam, weil für Kautsky, ,als er noch Marxist war‘ – wie für Lenin, Marx und Engels –, die demokratische Republik (jährliche Wahlen von Regierungsvertretern, Abwählbarkeit, Arbeiterlöhne für Bürokraten, das bewaffnete Volk, etc.) die Krönung der Forderungen des Minimalprogramms bildete: nämlich die Herrschaft der Arbeiterklasse. Eben darum sind die Sowjets lediglich eine Form der demokratischen Republik. Es ist der Inhalt, der bestimmend ist“ („Debating the Republic and Extreme Democracy“).

Dieser Inhalt ist hundertprozentige (bürgerliche) Demokratie – kein Sterbenswörtchen von der politischen und ökonomischen Enteignung der Bourgeoisie! Lewis zitiert in einer Fußnote Engels’ Einleitung vom März 1891 zu Marx’ Der Bürgerkrieg in Frankreich, nur um unter den Teppich zu kehren, was Engels wirklich schrieb. Engels erklärt, dass der bei vielen deutschen Arbeitern immer noch vorhandene „Aberglaube an den Staat“ es nötig machte, die Feststellung von Marx zu betonen, dass die Kommune die frühere Staatsmacht zerschmettern musste:

„Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie.“

Partei und Programm

Day und Gaido stellen Kautsky fälschlich als Inbegriff der permanenten Revolution dar und vertuschen seine Anpassung an den SPD-Opportunismus; gleichzeitig spotten sie über Lenins Kampf für eine disziplinierte marxistische Partei. In ihrer Einleitung greifen sie „Lenins selbstherrliche Ansichten zu zentralisierter Parteikontrolle“ an. Sie zitieren kritiklos die Schimpfreden von David Rjasanow (der 1901 bis 1903 die winzige opportunistische Gruppe Borba [Kampf] anführte und bis 1917 ein Gegner der Bolschewiki war) gegen Lenins „organisatorischen Fetischismus“, „Sektierertum“ und „Personenkult“. In jenen Jahren richtete auch Trotzki ähnliche Angriffe gegen Lenin, wobei aber zwischen Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution und dem opportunistischen Hinterlaufen der Menschewiki hinter der liberalen Bourgeoisie eine abgrundtiefe Kluft bestand.

Lars Lih seinerseits versucht durch eine trockene Textanalyse einer kleinen Auswahl von Lenins Schriften eine fiktive Kontinuität zwischen Kautsky und Lenin in der Parteifrage zusammenzuspinnen. Die Bedeutung der Prager Konferenz von 1912, wo die Bolschewiki zusammen mit einigen wenigen „parteitreuen Menschewiki“ unter Georgi Plechanow einen endgültigen organisatorischen Bruch mit dem menschewistischen Liquidatorentum vollzogen, tut Lih ab. Lihs Argumentation ignoriert die gesamte frühe Geschichte des Bolschewismus seit 1903: „Lenin und die Bolschewiki waren nicht darauf aus, ihre Fraktion als eigenständige Partei zu organisieren; nach der Konferenz bestritten sie vehement, das getan zu haben, und dieses Dementi war berechtigt“ (Lih, „Falling Out Over a Cliff“ [Zerwürfnis über Cliff], Weekly Worker, 16. Februar 2012).

In einem früheren Artikel positioniert sich Lih ähnlich zu Lenins Aufruf zu einer neuen, Dritten Internationale kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Wenn man sich Lenins Schriften nach 1914 vornimmt und diese liest, bekommt man den Eindruck einer rückhaltlosen Zurückweisung der Zweiten Internationale und insbesondere ihres Hauptvertreters auf dem Gebiet der Theorie, Karl Kautsky“ (Lih, „Lenin’s Aggressive Unoriginality, 1914–1916“ [Lenins aggressive Einfallslosigkeit, 1914–1916], Socialist Studies, Herbst 2009). Lih meint nun, das sei ein „irreführender Eindruck“ und behauptet, dass „Lenin wesentliche Aspekte seiner Anschauungen mit Kautsky und anderen teilt“: „Selbst der Plan, die Sozialdemokratie zu spalten, falls der Opportunismus zu mächtig wird, wird durch die Autorität Kautskys untermauert.“

Das ist ein schlechter Scherz. Was Kautsky als Antwort auf die revisionistische Strömung in der SPD, verkörpert durch Eduard Bernstein (von dem Kautsky nie gespalten hat), als entfernte, hypothetische Möglichkeit aufgeworfen hat, stand in völligem Gegensatz zu Kautskys Praxis sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution.

Es ist wie Perlen vor die Säue werfen, wenn man Lihs Herangehen an die Entwicklung des Bolschewismus als undialektisch bezeichnet. Wie wir in Lenin und die Avantgardepartei (Spartacist-Broschüre, 1978; deutsche Ausgabe 1997), einer ausführlichen Darstellung der Entwicklung des Bolschewismus, feststellen, verstand Lenin 1912 noch nicht die welthistorische Bedeutung der Spaltung von den Menschewiki. Er verstand „nur“, dass die russische Partei ohne einen gründlichen und endgültigen Bruch mit dem Opportunismus ihr Ziel, die sozialistische Revolution, nicht erreichen konnte. 1914 verallgemeinerte Lenin dieses Verständnis auf internationaler Ebene. Wir schrieben: „Innerhalb weniger Wochen nach Kriegsausbruch entschloss sich Lenin, mit den Sozialchauvinisten zu brechen und auf eine neue, revolutionäre Internationale hinzuarbeiten. Aber er lieferte noch nicht sofort eine theoretische (d. h. historische und soziologische) Erklärung dafür, aus welchem Grund und auf welche Weise die Massenparteien des westeuropäischen Proletariats vom Opportunismus überwältigt worden waren“ (ebd.).

Völlig unerwähnt bleibt in Lihs hier zitierten Artikeln, dass der „einfallslose“ Lenin ein theoretisches Verständnis davon entwickelte, warum ein Bruch mit opportunistischen Tendenzen für die Schmiedung einer revolutionären Internationale unerlässlich ist. Bereits Anfang 1915 fing Lenin an, die materielle Grundlage für Opportunismus und Sozialchauvinismus in den imperialistischen Ländern zu analysieren: „Bestimmte Schichten der Arbeiterklasse (die Bürokratie in der Arbeiterbewegung und die Arbeiteraristokratie, für die ein kleiner Teil der Profite aus der Ausbeutung der Kolonien und aus der privilegierten Lage ihres ,Vaterlands‘ auf dem Weltmarkt abfiel) sowie die kleinbürgerlichen Mitläufer innerhalb der sozialistischen Parteien waren die soziale Hauptstütze dieser Tendenzen und die Träger des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat“ („Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR“, März 1915).

Lih legt seine Karten schließlich auf den Tisch: In Bezug auf den Außerordentlichen Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) 1920 in Halle, wo die USPD sich überwältigend für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale (KI) entschied, solidarisiert er sich mit dem menschewistischen Führer Julius Martow (und mit Kautsky) gegen die KI und deren Redner Grigori Sinowjew. Lihs Einleitung zu Martows Rede kommt einer Unterstützung von dessen Ansichten gleich, einschließlich der Behauptung, „die russische Revolution ist krank und kann nicht aus eigener Kraft gesunden“ (Martov and Zinoviev: Head to Head in Halle [Kräftemessen in Halle], November Publications, London 2011). Auch zitiert Lih sinngemäß Sinowjew und verwirft dabei stillschweigend dessen Argument, dass „das von den deutschen Unabhängigen repräsentierte ,Zentrum‘ bestenfalls völlig seicht und schlimmstenfalls krypto-opportunistisch war“.

David North stimmt in den Chor mit ein

Das Schlusslicht der umtriebigen Kautsky-Liebhaber und Anti-Leninisten bilden die politischen Banditen von David Norths World Socialist Web Site. North bringt in seiner lobenden Rezension zwar etwas Kritik an Days und Gaidos Ansichten zustande, begrüßt aber ihre Rehabilitierung Kautskys:

„Kautskys wichtiger Beitrag zu Trotzkis Ausarbeitung der Theorie der Permanenten Revolution muss deshalb so stark hervorgehoben werden, weil die kleinbürgerliche antimarxistische Linke viel Tinte vergossen hat, um das theoretische Erbe des Sozialismus, zu dessen Ausarbeitung Kautsky einen großen Beitrag leistete, vollständig zu diskreditieren.“

– „Zeugen der Permanenten Revolution – Dokumente zur Entwicklungsgeschichte“, wsws.org, 26. Juni 2010

Norths Artikel ist voll des Lobes auf Kautskys „lange revolutionäre Laufbahn“ und „revolutionäre Schriften“, die er „bemerkenswert scharfsinnig“, „weitblickend“ und „kompromisslos“ nennt. North versteigt sich zu der haarsträubenden Behauptung, die „Verleumdung der Gesamtheit von Kautskys Werk“, auch seitens „diverser Spielarten des kleinbürgerlichen Radikalismus, diente nicht dazu, den Charakter und die objektiven Quellen der Schwächen der Sozialdemokratie vor 1914 zu erklären, sondern richtete sich gegen deren größte Stärke – dass sie sich auf die Arbeiterklasse stützte und sich um deren politische und kulturelle Bildung bemühte“.

Nur der verdrehten Gedankenwelt eines North und Co. kann die Fiktion entspringen, dass die „Gesamtheit“ von Kautskys Werk unter Beschuss von diversen „kleinbürgerlichen Radikalen“ stünde. In Wirklichkeit kniet North selbst vor dem Altar der Kautskyschen Sozialdemokratie nieder (siehe „Bürgerlicher Demokratismus kontra Oktoberrevolution“, Seite 4).

Aufschlussreich ist auch Norths Bagatellisierung von Lenins kompromisslosem Kampf für den Aufbau der bolschewistischen Partei, den er von 1905 bis 1917 gegen alle Arten von Opportunisten und Versöhnler führte, Trotzki mit eingeschlossen – in einer Periode, in der die Menschewiki unverkennbar als Mitläufer der liberalen Bourgeoisie entlarvt wurden. In seinem Buch Verteidigung Leo Trotzkis (Mehring Verlag, Essen 2012) verteidigt North tatsächlich Trotzki – und zwar gegen Lenin: „Zu dem fraglichen Zeitpunkt in der Geschichte der russischen sozialdemokratischen Bewegung waren die Fraktionszugehörigkeiten weitaus fliessender als schließlich im Jahr 1917. Trotzkis relative Unabhängigkeit von den wichtigsten politischen Fraktionen stärkte in Wirklichkeit seine politische Stellung.“

Diesen Unsinn hat Trotzki bereits selbst widerlegt. In Bezug auf den August-Block von 1912, den Gipfel seiner versöhnlerischen Bemühungen, schrieb er:

„Was die allgemeine Richtung der Politik angeht, stand ich den Bolschewiki weit näher. Aber ich war gegen das leninistische ,Regime‘, weil ich noch nicht verstehen gelernt hatte, dass eine fest zusammengeschweißte, zentralisierte Partei unentbehrlich ist, um das revolutionäre Ziel zu verwirklichen…

Trotz des Konzepts der permanenten Revolution, das zweifellos die richtige Perspektive zu erkennen gab, hatte ich mich zu dieser Zeit, speziell auf organisatorischem Gebiet, von den typischen Eigenschaften eines kleinbürgerlichen Revolutionärs noch nicht gelöst. Ich litt an der Krankheit des Versöhnlertums gegenüber dem Menschewismus und einer misstrauischen Haltung gegenüber dem leninistischen Zentralismus.“

– „Von einem Kratzer – zur Gefahr von Wundbrand“, Verteidigung des Marxismus, 1940

Lenin gelang es 1917, über seinen unzulänglichen theoretischen Rahmen hinauszugehen und den Kurs zur Arbeiterrevolution abzustecken; Trotzki gab sein zentristisches Schwanken in der Parteifrage auf und wurde zu einem zentralen Führer der Bolschewiki. Im Kampf für den authentischen Kommunismus müssen unbedingt die Lehren aus Lenins Kampf für eine Avantgardepartei des Proletariats gezogen werden. Die Wiederbelebung von Kautskys Erbe kann die Arbeiter hingegen nur in eine weitere „demokratische“ Sackgasse führen. Trotzki erkannte an, dass „Kautsky zweifellos der führende Theoretiker der Zweiten Internationale“ war, als er 1919 dessen historische Rolle zusammenfasste:

„Er begriff den Marxismus als fix und fertiges System und popularisierte ihn wie ein Schulmeister des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Blütezeit seiner Tätigkeit lag zeitlich in dem tiefen Tal zwischen der Niederschlagung der Pariser Kommune und der ersten russischen Revolution. Der Kapitalismus breitete sich mit unbezwingbarer Kraft aus. Die Organisationen der Arbeiterklasse wuchsen fast von selbst, doch das Endziel, d. h. die sozial-revolutionäre Aufgabe des Proletariats, wurde zunehmend von der eigentlichen Bewegung losgelöst und fristete ein rein akademisches Dasein…

Gleichzeitig nahm die Anspannung bei den internationalen Beziehungen zwischen den wichtigsten kapitalistischen Ländern immer mehr zu. Das Ausbrechen des Konflikts rückte näher. Und jede sozialistische Partei war gezwungen, ihre Position völlig klarzustellen: Stand sie auf der Seite ihres eigenen Nationalstaats oder gegen ihn? Es galt, entweder die entsprechende Schlussfolgerung aus der revolutionären Theorie zu ziehen, oder aber den praktischen Opportunismus zu seinem logischen Ende zu treiben. Aber Kautskys ganze Autorität beruhte auf der Versöhnung des Opportunismus in der Politik mit dem Marxismus in der Theorie…

Der Krieg spitzte vom ersten Tag an alles zu und legte so die heillose Falschheit und die Fäulnis des Kautskyanertums bloß.“

– Trotsky, „Karl Kautsky“, Portraits, Political and Personal, Pathfinder Press, New York 1977