Spartacist (deutsche Ausgabe) Nummer 29

Sommer 2013

 

Brief von Fjodor Dingelstedt

Der folgende Brief an Trotzki wurde aus dem Russischen übersetzt und mit Genehmigung der Houghton Library, Harvard University (MS Russ 13 [T2755]) in Spartacist, englische Ausgabe Nr. 63, Winter 2012/13, veröffentlicht. Unsere Übersetzung erfolgte aus dem Englischen.

11. Oktober 1928

Lieber Genosse Lew Dawidowitsch,

vor wenigen Tagen erhielten wir Kapitel III und dann (über andere Kanäle) Kapitel I der „Kritik“. Das war ein freudiges Ereignis. Kapitel III ist ein Meisterstück für den Kampf gegen kleinbürgerliche Positionen zu den Erfahrungen der Chinesischen Revolution – das gefiel uns besonders. Wir studieren es in Verbindung mit der Kritik an Radeks Fehlern. Und außerdem gibt dieses Kapitel meiner Meinung nach auch von vornherein die Antwort auf die Frage der konstituierenden Versammlung in China. Tatsächlich lesen wir darin:

1. Die Februar-Revolution in China fand schon im Jahre 1911 statt.

2. Irgendeine andere „demokratische“ Diktatur außer der von 1925, die eine Diktatur der Guomindang war, gibt es nicht und wird es nicht geben.

3. Ein Fortschritt hin zu einer wirklichen Lösung der bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution verlangt, dass die gesamte Macht in den Händen des Proletariats konzentriert wird.

4. Die Formel der demokratischen Diktatur ist für sie (für die Chinesische Revolution) hoffnungslos überholt.

5. Die erste Etappe der bevorstehenden Diktatur des chinesischen Proletariats und der Landarmut muss vom sozialen Inhalt her eine bürgerlich-demokratische Revolution sein.

Diese großartigen, kurz gefassten Thesen müssen dem entsprechenden Abschnitt im Programm der Komintern zugrunde gelegt werden. Ich denke, dass Du all das auch für diesen Zweck geschrieben hast. Derartige Thesen kann man nicht bis zum Eintreten einer revolutionären Situation in Reserve halten, um sie erst dann politisch ins Feld zu führen.

Wenn das also der Fall ist und wir unsere Meinungen über die Perspektiven der Chinesischen Revolution nicht verstecken können und das auch nicht dürfen, wozu dann überhaupt die Losung der konstituierenden Versammlung?

Können wir die Aufmerksamkeit des Proletariats zur gleichen Zeit zwischen dem Kampf für eine demokratische, alle Klassen umfassende konstituierende Versammlung und dem Kampf für die proletarische Diktatur aufsplittern, der sich in China in der nächsten Zukunft anbahnt?

Können wir der Auffassung zustimmen, dass die Losung einer konstituierenden Versammlung auch nur im Geringsten dazu beitragen wird, wenigstens einen Teil der Bourgeoisie zu neutralisieren, wo doch die Bourgeoisie nicht nur ihre Februar-Etappe durchlebt hat, sondern bereits ihren Oktober durchgeführt hat?1

Können wir uns auf die Vorstellung verlassen, dass das Proletariat und die armen Bauern diese Losung unterstützen werden, wo doch die gesamte vorherige Periode des revolutionären Kampfes logisch auf die Losung der Sowjets hinausläuft und dieser Kampf in seiner Ausrichtung dazu geführt hat, dass die konstituierende Versammlung bereits im Voraus aufgelöst wurde?

Heute erhielt ich Deine Postkarte vom 27. September. Darin nimmst Du als gegeben an, dass es in China gegenwertig keine Revolution gibt, dass sie dort inzwischen mehr noch als in Indien2 abgeebbt ist und dass „Verfassungs“-Fragen zwangsläufig in den Vordergrund treten. Ich befürchte, wenn man diese Frage so stellt, kann das einen in den Irrgarten von Illusionen in die Verfassung führen. Es steht außer Frage, dass unsere chinesischen Genossen für eine künftige Übergangsperiode andere Losungen finden müssen als solche, die die Massen für das Endziel mobilisieren. Außerdem müssen sie Losungen finden, die die einfachen Alltagsforderungen der Massen widerspiegeln; sie müssen sogar ins Parlament gehen, wenn sich das als möglich erweist, und keine legalen Strukturen außer Acht lassen.

All das tangiert aber nicht die Losung einer konstituierenden Versammlung. Denn diese ist keine konstitutionelle Losung, sondern eine revolutionäre (allerdings aus der Epoche der bürgerlichen Revolutionen). Es wäre eine Illusion, zu glauben, dass eine Losung zur Zerstörung einer bestehenden parlamentarischen oder sonstigen Ordnung durch eine konstituierende Versammlung auf friedlichem, „konstitutionellem“ Weg durchgeführt werden könnte. Die Errichtung einer neuen Ordnung ist nur nach einer Revolution und als Resultat dieser Revolution möglich. Natürlich kann man darauf hinweisen, wie sehr es uns 1917 genützt hat, die Konstituierende Versammlung rechtzeitig einzuberufen – allerdings fand das jedoch gerade im Zusammenhang einer Revolution statt.

Gerade aus diesem Grund besitzt die Losung für eine konstituierende Versammlung in einer reaktionären Epoche tatsächlich nicht eine größere politische Bedeutung als die Losung für Sowjets, sondern ist gleich Null angesichts der konkreten Bedingungen Chinas – ja sie muss sogar einen negativen Wert haben.

Das sind meine Auffassungen, die ich zusätzlich zu dem, was ich schon zuvor geschrieben hatte, darlegen wollte.

Was das erste Kapitel der „Kritik“ angeht, so kann jetzt gesagt werden, dass Bucharin und Stalin mit all ihren „Schülern“ ein für alle Mal mit dem Rücken zur Wand stehen: Kein noch so findiger Zitatenjongleur kann jetzt noch irgendetwas Intelligentes zur Verteidigung der Theorie vom Sozialismus in einem Land vorbringen. Dieses Kapitel schafft endgültig Klarheit in dieser Frage, zu der Sinowjew seinerzeit mehr Verwirrung als Klarheit beitrug, da er nicht verstehen konnte, was Lenin dazu gesagt hatte.

„Was nun?“ haben wir bis jetzt noch nicht vollständig: Wir erhalten immer nur einen Teil nach dem anderen mit langen Pausen dazwischen. Wir erwarten mit Ungeduld Deine Gesamtauswertung der Arbeit des Kongresses.

Grüße an L. L. [Trotzkis Sohn Leo Sedow],
mit festem Händedruck,
Dein
F. Dingelstedt

1. Die damit verbundene Frage, die ich Dir in einem meiner vorherigen Briefe geschickt habe, werde ich nicht wiederholen: Ist es möglich, durch eine konstituierende Versammlung die Bourgeoisie in die Irre zu führen?

2. Auch damit kann ich in keiner Weise übereinstimmen. Hätte man denn sagen können, dass in Russland nach 1907 die Revolution weiter zurückgeschlagen worden ist als, sagen wir, im damaligen China?